Die Entstehung dieses Buches verdanke ich eigentlich dem Ernst Jandl. Wir sind nach einer Preisverleihung an die Kollegin Elisabeth Reichart, die ich auch schon seit mehr als dreißig Jahren, seit unserer Teilnahme an einer der Rauriser Literaturtage kenne, bei der Feier nachher in einem Gasthaus beim Akademietheater aufeinander getroffen; nicht geplant, sondern absolut zufällig. Denn eigentlich gehörte ich ja gar nicht zu dieser „Partie“, wie man in Wien sagt, denn die bei der Preisverteilung und bei der nachherigen Feier Anwesenden waren fast durchwegs alle Mitglieder der GAV, also der „Grazer Autorenversammlung“. Ich hingegen – und das wußten alle – war Mitglied des Österreichischen P.E.N.-Clubs, also sozusagen von der „Konkurrenz“. Die „Grazer Autorenversammlung war ja 1973 als Gegenvereinigung von SchriftstellerInnen zum Österreichischen PEN gegründet worden; zurecht, wie ich heute meine. Ich war damals sogar noch im Vorstand des Österreichischen P.E.N.-Clubs, dem ich fast zwanzig Jahre angehörte. Der GAV und ihren Leuten aber stand ich gesinnungsmäßig, ich will nicht sagen: ideologisch, aber doch weltanschaulich, vor allem in ihrer gesellschafts- und kulturpolitischen Gundhaltung näher als dem PEN. Die GAV, so konnte man wohl sagen, und das gilt auch heute noch immer, war eher „links“ (was immer das heißen mag) als der doch sehr konservative PEN mit seinen Freimaurern (absolutes Tabu in Österreich!). Viele von der GAV hielten mich also ebenso für einen konservativen PEN-treuen Autor, vielleicht auch einen von „denen“, der noch dazu keine sprachexperimentelle Dichtung schrieb und eine solche auch nicht mochte und bis zum heutigen Tag auch nicht mag. Trotzdem kam ich mit den KollegInnen der GAV sehr gut aus. Es kann auch sein, daß manche/r schon mein Buch „Farbenlehre“, ein Fotogedichtband zum ehemaligen KZ-Mauthausen sowie überhaupt zum Holocaust, der „Nazizeit“, wie man das nannte, und zur österreichischen Vergangenheits- und Beteiligungsverdrängung, zu dem Erich Fried ein Vorwort geschrieben hatte, in der Hand gehalten und durchgeblättert oder sogar durchgelesen und mich so literarisch überhaupt erst wahrgenommen und kennengelernt hatte. Jedenfalls fiel mir auf, daß mit der Zeit viele der GAV-Kollegen mir gegenüber offener wurden und waren, mehr sogar als viele meiner PEN-KollegInnen; denn beim PEN sah man in mir sowieso nur den „Unruhestifter“.
Jedenfalls kam ich aus irgend einem Grunde am Tisch des Ernst Jandl zu sitzen. Nach einiger Zeit überwanden wir die unsichtbaren Schranken und Barrieren und das Schweigen zwischen uns und kamen miteinander ins Gespräch, das bald lebhaft wurde. Wir tranken unseren Wein ziemlich zügig und davon reichlich. Also, das hatten wir beide schon einmal gemeinsam, wie wir humorvoll feststellten. Das Gespräch war sehr offen, wir sprachen über alles Mögliche. Plötzlich stand der Ernst Jandl, schon ein wenig betrunken, auf und rief laut in den Saal über die Köpfe der Anwesenden hinweg hinein: „Was habt’s denn gegen den Wiplinger; der ist ja gar nicht so, wie Ihr alle glaubt’s!“ Diesen Satz natürlich in der Jandl’schen Dialektdiktion. Die Botschaft wurde gehört. Manche/r schaute verwundert auf. Aber damit war vom Meister Jandl ein Urteil über mich gesprochen, das fürderhin galt und manches veränderte, vor allem weiterhin das Verhältnis zwischen mir und den KollegInnen aus der GAV. Im Literaturkreis „Podium“ und in der IG Autorinnen Autoren, waren wir sowieso alle gemischt und da hat es nie eine Rolle gespielt, ob der/die eine KollegIn vom PEN oder von der GAV war. Ich war von den GAV-KollegInnen in den Vorstand hineingewählt worden, zuerst als PEN-Vertreter, dann, nachdem ich mein Mandat aus Protest gegen den Österreichischen PEN zurückgelegt hatte, als autonomes, keinem Verein zugehöriges Vorstandsmitglied, was mir etwas bedeutete.
Jandl und ich sprachen weiter miteinander, redeten uns – wie man in Wien sagt – fast „in einen „Wirbel hinein“. Ich erzählte von der Literatur- und Alternativszene der Sechzigerjahre aus dem „Café Sport“, einer für andere dubiose „Spelunke“, in die ein vornehmes PEN-Mitglied nie hineingegangen wäre. Im „Sport“ „herrschten“ der Hermann Schürrer, der Joe Berger und andere „Anarchisten“. In irgend einer Ecke saßen manchmal der junge Reinhard Priessnitz, der Walter Buchebner, der Otto Laaber, der kaum mit jemandem redete. Ich gehörte bald zu dieser Szene, denn ich war fast an jedem Abend bis zur Sperrstunde dort. Der Jean Gábor Kluco grölte dann, wenn die Frau Reichmann „Ais“ Sperrstzund is!“ und die Frau Lauli abkassierte, meist stockbesoffen aber lustig: „Hinter unserm Haus steht das Winzerhaus“, eine Kaschemme in der Rotenturmstraße, die bis 4 Uhr Früh geöffnet hatte. Dort haben wir oft weiter gesoffen und in einer lauten „Unterhaltung“ uns gegenseitig besoffen angeschrien. Wir sprache über uns und die Welt und „die ganze Scheiße“. Ich lernte jedenfalls eine andere Welt kennen als die, aus der ich großbürgerlich familiär herkam. Mir gefiel nicht nur diese Auflehnung gegen alles, diese Radikalität, mit der man alles in Frage stellte oder überhaupt verwarf. Den Begriff und das Wort „Establishment“ gab es damals noch gar nicht im Sprachgebrauch. „Diese Scheißer“, nannten Schürrer und – nein eben nicht „Genossen“ – die anderen Individualisten und Existentialisten diese „Hosenscheißer“, diese „Angepaßten“, diese „Arschlöcher“, eben die Mitläufer aus der verlogenen spießbürgerlichen Welt. Man verachtete sie. Wir bekannten uns zum Extrem-Individualitäts-Existentialismus, in seiner jeder nur erdenklichen Ausprägung. Hauptsächlich „anders sein!“, das war die Devise. Ein „richtiger Spinner“ galt mehr, als irgend so ein „Arschloch“ von denen! Das war also mit die Keimzelle zu den späteren 68-er-Ereignissen, die in Wien sowieso keine solche Ausprägung fanden wie in der BRD. Ich mochte die Ideologen sowieso nicht und nie. Nur den Fritz Teufel (oder war es der Langhans?) versteckte ich einmal zum Übernachten in meiner Wohnung. Und merkte in meiner Naivität noch als Bedingung an: „Aber gekifft wird hier nicht!“
Wir waren auch keine solchen (Pseudo-) Intellektuellen wie z.B. die Gruppe um Ossi Wiener und die anderen „feinen Pinkeln“. Nein, wir waren der Bodensatz, der „gesellschaftliche Abschaum“, wie das manchmal da und dort verächtlich ausgedrückt wurde. Manche waren sogar ganz unten,nicht so sehr die Dichter, mehr die anderen Gestrandeten und Gescheiterten. Stigmatisierte waren wir alle auf jedem Fall. Aber wir brannten, ob in unserer revolutionären Ich-Gesinnung, in unserer Wut, die sich gegen alles und jedes richtete, in unserer verachtenden Ablehnung der „Gesellschaft“ überhaupt, in unserer Leidenschaft. Wir hatten keine fixen Positionen, aber eine Grundhaltung, wir hatten keine Ziele, sondern waren irgendwohin, manchmal orientierungslos, unterwegs. Wir wußten oft selbst selbst nicht, was mit uns los war und wo wir ankommenwürden, aber das war uns auch völlig wurscht. Wir lebten! Die Hauptsache für uns war: Alles so intensiv wie nur möglich, das Leben(sgefühl) überhaupt; das Scheitern inbegriffen. Buchebner, Laaber und andere haben sich umgebracht.
Von all dem erzählte ich dem Ernst Jandl, der das faszinierend fand. Er hatte sich (als Mittelschullehrer) nie in einer solchen Welt bewegt. Er fragte mich, wie und warum ich gerade dorthin gekommen war und ich antwortete ihm: „aus Protest gegen meine eigene (großbürgerliche) Familie und ihre streng katholisch geprägte „Lebenskultur“; in Ablehnung alles Bisherigen, mir Aufgezwungenen, aus einer Radikalität heraus, wie sie mir entsprach und noch heute meine Grundhaltung ist. Der Ernst Jandl schwieg nachdenlkich. Dann sagte er plötzlich zu mir: „Wiplinger, das alles ist ja phantastisch, davon hat niemand eine Ahnung, schreib das alles auf!“
Ja, und das habe ich nun, Jahrzehnte später gemacht, eben in diesem Buch; und ich habe noch viel anderes hinzugefügt, sodaß ein kaleidoskopartiges Gebilde herauskam, ein Bericht von meinen Begegnungen mit SchriftstellerInnen und Schriftstellern, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin und die auf mich einen Eindruck gemacht haben oder wo wir sogar in eine persönliche Beziehung zueinander gekommen sind.
Das alles verdanke ich dem Ernst Jandl, unserem damaligen Zusammentreffen und Gespräch. Also: „Danke, lieber Jandl!“ Denn ohne Dich und Deine Anregung damals hätte ich dieses Buch sicher nicht geschrieben.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010, von Peter Paul Wiplinger. Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010