Wenn Theo Breuer sich lange nicht meldet, ist stark davon auszugehen, daß er über einem neuen Lyrikprojekt brütet. Unlängst meldete er sich nach langer Zeit und wies unverzüglich auf einen Textanhang, der den Anlaß seines Schreibens erklären würde. Die angehängte Datei enthielt ein knapp 1000 Seiten zählendes Manuskript, benannt nach August Mackes Gemälde Rotes Haus im Park.
Breuers anthologische Sammlung Rotes Haus im Park orientiert sich am “Gemäldegedicht” – der dichterischen Auseinandersetzung mit Künstlern, Kunsttechniken, Kunstwerken – und soll entlang dieses Leitfadens, wie er auf Nachfrage schreibt, “ein großes deutschsprachiges Gedichtbuch der Gegenwart” vorstellen, sein “lebensbegleitendes work in progress”, das er “zwischendurch zum Druck freigeben” werde, falls ein Verlag bereit sei, das Buch zu machen. Ob es zum (wünschenswerten) Printprodukt, dessen Grundlagen nun stünden, kommt oder nicht: Breuers Dateiungeheuer wird in der Szene kursieren und weiter wachsen, wie es innert Kurzem während unseres heutigen Austauschs geschah, als Theo mir gleich zwei Updates seines Konglomerats zukommen ließ.
Darin finden sich mein altes foto von lew jaschin in Schwarz-Weiß, meine brinkmanninduzierte genealogie in fleischfarbenem Licht und ein yveskleinblauer blick in den himmel in schönster Petersburger Hängung neben Werken von bisher rund 400 Dichtern über noch einmal knapp 400 Künstler, die Breuer im Prolog – ein selbständiger und demnächst in Konzepte erscheinender Essay namens “Der Augenblick kunstvoller Lyrik” – in seinem assoziativen, gern von Hölzchen auf Stöckchen geratenden, selbstbeobachtend-subjektiven, zitatdurchflochtenen Stil ins Licht setzt. Immerhin, die vollgehängten Gedichtwände des Hauses im Park sind auf mehrere Räume verteilt, die Kapitelüberschriften lauten “Jetzt müssen Worte rollen”, “Ins Nirgends führt der verwaschene Weg” oder “Sehr hoch oben”; die Raumordnung setzt die Dichter in alfabetische Reihenfolge von A bis Z wie in den Regalen öffentlicher Bibliotheken.
Daß ich hier ein Buch erwähne, das es nicht gibt, vielleicht nie geben wird, aber dennoch ohne allzu große Schwierigkeiten verfügbar ist, hat auch mit einem Aspekt zu tun, den ich bei erstem Überfliegen in der Anthologie allenfalls am Rande wiedergegeben finde: die Auseinandersetzung mit den elektronischen Möglichkeiten. Die gestaltende Kunst hat sich ihrer längst extensiv angenommen, die Dichtung wirkt in ihrer Adaptionsbereitschaft vergleichsweise altbacken. Das ist freilich nicht Breuer anzulasten. Seine weitschweifigen Erkundungen halten zahlreiche Schätze parat.
Rotes Haus im Park ist beim Autor selbst (in der jeweils frischesten Version) per Mailanfrage als doc-Anhang erhältlich.
***
Mit Aus dem Hinterland hatte Theo Breuer bereits 2005 einen massiven Schmöker zur deutschsprachigen Gedichtproduktion um die Jahrtausendwende vorgelegt. In Kiesel & Kastanie (2008) bespricht er Lyrik- und Erzählbände, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind.
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.