Beobachtet hatte ich ihn schon oft und eindringlich. Wenn er in Wien war, saß er im Café Hawelka, meist an dem runden Säulentisch gleich beim Eingang, wo auf einem Nebentisch die Zeitungen lagen, in denen er eifrig las. Und immer aß er ein Paar Frankfurter, diese aber mit Messer und Gabel, so auf die feine englische Art. War er fertig, zündete er sich eine Zigarette an, die er vorher in seinen Zigarettenspitz gesteckt hatte; er rauchte immer „mit Spitz“; und, soweit ich das beobachten konnte, stets die gleiche Marke: Muratti. Er zog in langen Zügen genußvoll an seiner Zigarette, blätterte in den Zeitungen, sah manchmal von seiner Lektüre auf und sich um. Aber nichts schien ihn im Lokal zu interessieren, es war als ob er sich selber vergewissern würde, ob er noch am selben Ort und an derselben Stelle war. Wenn ich im Hawelka war, beobachtete ich ihn immer wieder. Das merkte er, ließ sich das aber nicht anmerken. Mich interessierte dieser Canetti, obwohl ich damals kaum etwas von ihm wußte, und er auch noch keine Weltberühmtheit, weil noch kein Nobelpreisträger war. Dieses Beobachtungsspiel ging einige Jahre so dahin. Von Zeit zu Zeit, aber eher selten, war Canetti in Wien und dann auch im Hawelka. Es muß so um 1965 gewesen sein, als er in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur aus seinen Schriften las, u.a. die Erzählung „Die Stimmen von Marrakesch“. Ich saß im Publikum. Kurze Zeit darauf las Canetti in einem Saal des Wiener Musikvereins aus seinem Drama „Die Hochzeit“. Ich glaube, er selbst genoß am meisten seine Lesung. Er war sich seiner Bedeutung bewußt und das kam auch in seinem Habitus und in seinem Verhalten zum Ausdruck. Canetti las fürchterlich, outriert und manieriert; nach der Manier von seinem Vorbild Karl Kraus, dessen Lesungen er, wie ich später erfuhr, oft und begeistert besucht hatte. Canetti hätte dem Stil des Alten Burgtheaters (Kainz/Moissi) durchaus alle Ehre gemacht. Bei seiner Lesung damals empfand ich die Art und Weise wie er seinen Text rezitierte als affektiert und unangenehm. Die Lesung dauerte ziemlich lange. Der Saal war ganz voll. Canetti bekam Applaus und er genoß ihn; verbeugte sich mehrmals, nicht wie ein Autor, sondern wie ein großer Schauspieler, der eben mit Bravour seine Rolle gespielt und das Publikum ganz in seinen Bann gezogen und begeistert hatte. Natürlich ging ich nach der Lesung ins Hawelka. Als dieses Sperrstunde hatte, schaute ich noch ins „Chattanooga“ am Wiener Graben vis-à-vis von der Dorotheergasse hinein. Und da saß zu meinem Erstaunen der Elias Canetti und aß ein Paar Würstel. Ich blickte ihn kurz an, wir nickten einander zu, als Hawelka-Stammgäste, die sich von daher kannten, und wie das damals noch der Brauch war. Ich überlegte, ob ich ihn vielleicht kurz ansprechen sollte und könnte, empfand dies aber als möglicherweise unpassend, weil zu aufdringlich. Also der Canetti sitzt nach seiner großen Lesung allein im „Chattanooga“ und ißt dort um zwei Uhr nachts seine Würstel! Das ging mir als eine mich verwundernde Seltsamkeit durch den Kopf. Ich ging vor dem Lokal draußen auf und ab. Der Canetti saß direkt am ersten Fenstertisch, konnte mich also sehen, wenn ich am Eingang vorbeiging. Ich überlegte. Dann betrat ich wieder das Lokal, unschlüssig, ob ich an einem etwas von Canetti entfernteren Tisch etwas trinken sollte; vielleicht daß sich beim Weggehen eine Gelegenheit ergäbe, Canetti anzusprechen, dachte ich beim Eintritt ins Lokal. Wieder ein Blickwechsel zwischen uns. Und dann sagte der Canetti sehr höflich, ja fast freundlich und jovial: „Sie möchten mich sprechen! Wollen Sie Platz nehmen?“ Ich war überrascht und verwirrt, stammelte etwas von „ ich warte lieber draußen, wenn ich darf“ und verließ gleich wieder das Lokal. Draußen ging ich auf und ab. Dann kam der Canetti, sagte: „Wollen Sie mich vielleicht zum Taxi auf den Stephansplatz begleiten?“ Ich nickte, brachte fast kein Wort heraus. Ich stellte mich ihm vor. Sagte ihm, daß ich auch nicht gewußt hätte, warum ich ihn immer wieder beobachtet hätte und entschuldigte mich dafür, wenn es ihn gestört haben sollte. „Vielleicht“, sagte ich, „habe ich Sie auch beobachtet, weil Sie meinem Vater so ähnlich sehen und mir manchmal war, als säße mein Vater neben mir im Hawelka und würde auch mich beobachten.“ Das schien Canetti zu interessieren. Er fragte nach meinem Vater. Ich sagte: „Gleiche Statur, Schnauzbart; und er raucht, wenn er raucht, genauso wie Sie.“ Das war die Brücke zu einem Gespräch, das nun folgte. Wir waren am Stock-im-Eisen-Platz angelangt. Canetti fragte mich, in welchem Bezirk ich wohnte. Ich erklärte ihm, daß ich zum sogenannten Jonas-Reindl zur Straßenbahn müßte; obwohl längst keine mehr fuhr. „Gehen wir noch ein wenig spazieren“, schlug Canetti vor, „ein paarmal auf und ab; das tut gut.“ Und so gingen wir am Graben ein wenig auf und ab. Ich begleitete ihn sozusagen in Richtung Taxi zum Stephansdom, er begleitete mich in Richtung Graben-Ende/Naglergasse. Wir sprachen über „Die Blendung“, die ich gerade gelesen hatte. „Ich mag diesen Peter Kien nicht“, platzte ich heraus, „das ist so ein negativer Mensch, ein passiver Held; und wie er am Schluß seine Bibliothek anzündet, einfach absurd; und unsympathisch!“ An den genauen Wortlaut von Canettis Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich glaube, er sagte so etwas wie: „Aber dieser Peter Kien bin doch ich!“ Oder lege ich ihm das jetzt im nachhinein in den Mund? Ist die Wirklichkeit etwas Tatsächliches oder existiert sie – natürlich oft verfälscht und in falscher Erinnerung – in unserem Gedächtnis? Das frage ich mich oft und auch jetzt. Wir gingen also mehrere Male vor dem Mosesbrunnen am Graben auf und ab, jeweils eine Wegstrecke von etwas hundert Metern. Es hatte zu schneien begonnen. Es war ein sehr schönes Erlebnis und ist in meiner Erinnerung ein ebenso schönes Erlebnisbild. Dann begleitete ich Canetti wirklich und endgültig zum Taxistandplatz am Stephansplatz. Er stieg in eine schwarze Mercedes-Limousine und gab mir als er einstieg zum Abschied die Hand. Als der Wagen anfuhr, winkte mir Elias Canetti durch das Seitenfenster des Wagens noch einmal freundlich zu.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010, von Peter Paul Wiplinger. Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010