Alles liegt viel zu tief. Wenigstens das hellfarbene, in Plastikfolie gewickelte Etwas herausziehen. Mein früherer Klavierlehrer, ein Lisztanbeter, der hatte Riesenhände, für ihn wäre es jetzt ein leichtes Spiel, an meiner Stelle da drin herumzuwühlen.
Bevor ich anfing zu üben, aß er meist ein Omelett aus den frisch gesammelten Eiern unserer Hühner und Fladenbrot, als steckte in jenem warmen Gericht das
Geheimnis seines didaktischen Krafteinsatzes. Damit waren die Kosten jeder Klavierstunde schon zur Hälfte beglichen.
Bis auf eine Matratze, den Ohrensessel seines Großvaters, ein paar breitkrempige Hüte und wenige Partituren hatte die neue Staatsführung allen Besitz des Adligen beschlagnahmt. Verziehen habe ich ihm trotzdem bis heute nicht: Bei jeder falsch angeschlagenen Obertaste schlug er mir auf die Finger. Vielleicht tue ich es aber noch, falls er gleich aus dem Nichts kommt, seine Riesenhand ausstreckt und damit durch die ganze Tonne fährt, mir das hellfarbene Etwas aufgabelt. Und neben mir
wartet noch der Hund, ein Niemandshund, der öfters hinterherhinkt. Er aber kommt nicht, das heißt, gleich werden meine Krummfinger wieder eintauchen in den dampfenden Abfall, blind schwimmen und herausfischen, was sich noch trocken und fest anfühlt. Noch ätzender wäre, die gleiche Geschichte an fremden Türen zu erzählen …
Ich fasse nun etwas mit der Hand und ziehe es hoch, es wiegt fast nichts, aber vielleicht schmeckt es: ein Kohlblatt, dreiviertel welk. Mit einer Weinbergschnecke drauf. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich den Weichhäutigen so lange vorsang, bis ihre Fühler aus dem Gehäuse heraustraten. Nun schnell auf die Wiese mit ihr oder zum nächsten Baum! Auch wenn ich zwei Mal vor Hunger sterbe. Aber woher kommen plötzlich diese jungen Leute auf mich zu? Doch nicht wegen der Schnecke … Sie haben ihre Essensreste in die Tonne geworfen und jetzt werde ich von ihnen flankiert, sie wollen, dass ich mitkomme, aber wohin, wieso ich? Bin ich die einzige Mülltonnerin in dieser Stadt? (Früher hieß ich Leona Martin.) Vergebens öffne ich meine Hand mit dem Schneckengehäuse und zeige zum Baum und dann auf die Risse an meinen Fußsohlen. Nichts hilft. Niemand hört, was ich sage, auch nicht meinen lauten Ausruf. War es laut? Und obwohl ich mein Blumenkleid trage, scheint es ihnen nicht zu gefallen, denn einer flüstert heimlich dem anderen zu. Ob es an den bleichen Farben liegt? Warum diese Schürze, die sie mir umhängen wollen? Sie ist aschfahl und ihr Saum ist zerrissen. Ächz, ich lasse es geschehen, lasse mich mitschleifen, nach vorne geduckt. Ich fürchte mich vor keinem Gericht, sollten sie mich dahin bringen. Außerdem bekäme ich hinter Gittern wenigstens eine lauwarme Brühe. Vielleicht wollen sie mich loswerden, verbannen, dem Wolfsrudel im Wald überlassen. Was für Geschichten blitzen mir im Kopf, immer seltsamer, unbegreiflich.
Wir sind gleich da!, höre ich hinter mir jemanden sprechen. Mit halbgeschlossenen Augen beginne ich die Gegend zu erkunden. Sieh an, sie sind immer noch da, die Pflastersteine vom Theaterplatz. Es ist schon so lange her, dass ich auf ihnen ging. Zu Brechts „Dreigroschenoper“.
Schnell auf die Bühne mit ihr!, ruft dieselbe Stimme wie vorher.
Meinen sie mich? Von welcher Bühne sprechen sie denn und was soll ich da, mit der Schnecke in der Hand und so einer Schürze, doch nicht springen und singen, auf rissigen Zehenspitzen tanzen? Von den beiden Männern, die mich zum Theaterplatz gebracht haben, kommt kein Wort mehr, nicht mal eine Geste. Was bleibt mir übrig als mich in das Unvermeidliche zu fügen? Ich recke mich und greife nach Zweigen, will nicht mehr wissen wohin und wofür, sondern nur: Wie weit noch? Da stehen wir drei schon vor dem ungeschliffenen, im Freien aufgerichteten Bretterbau. Plötzlich packt mich ein Riesenarm und zieht mich über eine wacklige Treppe nach oben. Wer war das? Als der Vorhang aufgeht, begreife ich, wo ich stehe: mitten auf der Bühne. Die Scheinwerfer blenden mich, sie nehmen mir jede Chance zu fliehen oder mich zu verstecken, andererseits schützen sie mich vor der Menge. So nehme ich auch nicht wahr, ob Blicke meinen Körper streifen und sich wieder abwenden. Vielleicht warten die Leute auf eine wie mich. Dass sie ihre Misere abfeiert. Warum stehe ich immer noch hier links in der Ecke, ich stehe und stehe, wie eine Müllcollage, und sage keinen Ton. Wenn wenigstens diese Planken singen könnten oder wenn der Wind, der jetzt wirbelt, mein flatterndes Blumenkleid wäre.
Komm näher, Bella, ja, du, von allen Schönen du!, ruft eine Stimme belustigt aus den vorderen Reihen, aber sie gewinnt keinen Lacher. Ich glaube, es macht keinen Sinn, so starr auf der Bühne zu stehen. So stumm und beschämt. Den Strahlern ausgeliefert. Als erstes werde ich die Schnecke absetzen. Das einzige Gewächs hier ist diese ärmliche Segge, passt eher zu mir als zu der Schnecke.
Wie wär’s, wenn ich selber bestimme, wie früher als Kind, wo und was ich sein will? Ich nehme zum Beispiel das Seegras in die Hand und wiege mich hin und her, als tauchte ich im Meer. Oder ich folge dem Strahl und steige in einen Fernzug nach Immerwo … Ich weiß nicht mehr, wie es ist, wenn man aus sich herausgeht. Was geschieht, wenn der Körper durch irgendeine Magie stark wird und anmutig wie früher. Hier ist kein verwunschener Ort für solche Verwandlungen. Wenn ich es dennoch einfach versuche? Eine Drehung nach links, dann nach rechts, zum Beispiel, mit schnellen Schritten nach vorne, wieder eine Drehung um mich herum, und nun Anlauf nehmen, abspringen und mit beiden Füßen aufsetzen. Ich staune, werfe das Haar in die Luft, bin stolz wie ein Wallach beim Wassereinsprung, aber mir schwinden die Kräfte, ich knicke ein, falle und bleibe auf den Holzbrettern liegen. Für jemand, der Will hieß, und seine Nachfolger bedeuteten solche Bretter die Welt. Auch in dieser Welt geht anscheinend keiner ohne Schmerzen. Doch ich lächle.
Vom starken Beifall wackelt die Bühne, ich verliere fast das Gleichgewicht. Ein junger Mann rennt aus den Kulissen zu mir: Und jetzt, verbeugen!
Wieso? Das ist doch Hohn, Beifall für Abfall … Was sollen die Fragen, die bis zu mir durchdringen: Die Szene der Armut, ergreifend! Wo haben Sie diese Darstellerin entdeckt? Würde sie nicht auch in Hamsuns „Hunger“ die Herzen erobern? Sie glauben doch wohl nicht, dass ich auf der Bühne in die Rolle einer Hungernden geschlüpft bin, dass alles nur Theater war?
Frag sie! In der Antwort erkenne ich die Stimme, die eine Stunde vorher „Wir sind gleich da“ und „Schnell auf die Bühne mit ihr“ sagte. Mein Regisseur! Es ist seine Hand, die mich vom Boden hochzieht. Mit der anderen schenkt er mir ein paar dunkle Triumph-Tulpen. Woher weiß er von meinen Blumen?
Wir gehen essen, ruft er mir eindringlich zu, und ich flüstere: Heute wird der hinkende Hund umsonst auf mich warten.
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