Als sei alles ein Spiel

Vitam continet una dies

Samuel Johnson 

In dieser Stunde, in der du dich krümmst und windest im Bett, antwortet dir ein Stern vom anderen Ende der Nacht. Allerdings leiser als bei deiner Geburt; er scheint in den Sog eines riesigen Schlundes zu geraten.

Auch sonst kannst du nur erahnen oder vermuten, was jenseits von Türen und selbst in den Wänden geschieht, ob alter Mörtel die Steine noch zusammenhält und warum manche Ritzen im Holz sich nicht mehr kitten lassen.

Und doch siehst du vieles, noch so viel. Noch gibt es Bilder, an denen du dich festhalten kannst.

In Windeseile flattern sie an deinem inneren Auge vorbei: Da schüttelst du im Garten die Quitten vom untersten Ast, als das Flugzeug ein rundes, grelles Etwas abwirft, und du läufst, willst es mit den Händen auffangen, da du glaubst, es fiele von einem Obstbaum, der im überweiten Himmel wächst. Kurz vorm Ziel aber stolperst du und fällst auf ein bauchiges Beet, dein Retter heißt Kürbis …

Wo du nun hingeschaut hast, ist schon Winter, und das heftige Schneetreiben behin­dert die Sicht, aber du bindest dir die Schuhe mit dicker Packschnur an den Skiern fest und bringst, nach mehreren Stürzen, deinem Vater im Tal den noch warmen tägli­chen Maisbrei.

Und sieh da, du wirbelst dein Kastanienrothaar ein paar Mal in die Luft, bevor du beginnst, an der Tafel zu schreiben, während die lausigen Mädchen in den hinteren Bänken sich an Kopfhaut und Ohren unentwegt kratzen.

Irgendwann lässt sich der Schafhirt kurz blicken. Er ruft dich herbei und hängt sein feuchtes, ewig nach Molke riechendes Hemd an zwei Pfählen seiner Sennhütte auf. Du bist fast so alt wie der Hund seiner Herde: Er jault und du schreist wie am Spieß, die unwissenden Schafe tanzen um euch herum.

Endlose Reihen drängen sich, nach der gewaltsamen Szene, zwischen dir und der einzigartigen Wirklichkeit dieser Stunde, Schatten in allen Größen und Haltun­gen drohen, dich nicht mehr zu verlassen. „Vincerò“, donnert die Stimme deines be­leibten Sängers. Wir werden ja siegen!, grölen die anderen.

Bis auf den Zeugungsakt im Meer – wie trügerisch ist das alles – höre ich dich endlich darüber murren. Nur soviel. Eingestülpt, ineinander gedrängt wie in einer Kiste, die niemand mehr will, eure Jahre, die Rankenstunden. Eingefroren in einem einzigen Satz.

Auf der Holztreppe, die jede Mitternacht knarrt, hämmert und taumelt dein anderer Mann, er nuschelt eine Vokabel zehnmal hintereinander und wieder zehnmal, bis zum Erbrechen.

Bald deckt er dich ab, und eine Wolke aus Bier-, Tabak- und Blut­speichelgeruch wird sich über dich ausschütten. Wo haben sich bloß die Tage des Anfangs versteckt?

Zurück!, willst du die herumtrödelnden Schattenbuhler und andere ungebetene Gäste brüsk ermahnen, bevor du dich nach links zum blinden Fenster drehst, ich habe genug von eurer skurrilen Parade.

Gregor auch? Da ist er, dreh bitte den Kopf noch nicht um! Er schaut in die Weite und notiert etwas auf einem Zettel. Dann sieht er, wie ein von der untergehenden Sonne melancholischer, fast irrealer Farbstrahl auf das Deck des Fischkutters fällt.

Da liegst du, rotgrün schimmernde Nixe, in dich versunken, und kritzelst mit der Nagelspitze auf einem Holzbrett. Was schreibst du da? Ein Gedicht, antwortest du ihm. Und du? Auch ein Gedicht, noch ohne Titel, lacht er und legt seinen Arm um dich. Aus zwei Gedichten wurde ein drittes, sagtest du in deiner gewöhnlichen Wortkargheit, als du ihn schon lange zurückließest. Warum schickt er dir andauernd dieselben Verse zu?

Dein Mund bleibt verschlossen, du streckst nur die Hand mit einem arg zerknitterten Blatt vor: Im dünnen Tuch und zerrissenen Rock irrt ihr gebückter Leib

Auch Gregor muss also weg, alle sind weg! Außer dem Priester. Erkennst du ihn wie­der? Geschlüpft aus seinem Gewand, fasst er deine Hand und kühlt damit die pochenden Schläfen. Welche Namen hatte er dir zu vergeben? Brunnenfrau vielleicht? Du nickst. Und Psalmistin? Du nickst wieder und wirfst die Holzlöffel, mit denen deine unruhigen Hände bislang gespielt haben, zur Decke, als wolltest du je­manden dort wachrütteln. Jetzt endlich, denkst du.

Ja, jetzt. Umfallen, als sei alles bloß ein Spiel, ahnungslos zum Fenster blicken, als würde sich statt deines Sterns ein Schwarm von Pusteblumen nähern. Oder I did it my way weiter summen, auch wenn leiser als sonst, ein paar Takte. Und anschließend dein Weg hinter dem Vorhang, den wirst du schwerelos schaffen. Wie wär’s mit: And now, as tears subside, I find it all so amusing.

 

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