Seelenwanderung

Ich denke manchmal, sage ich, mit Schrecken, ich wache auf in einem anderen. – Vielleicht wachen wir täglich, sagt Schlange, immer woanders auf, wer weiß. – Komisch, sage ich, aber jedesmal, wenn ich so aufwache, liebe ich dich. Du kannst nicht jeden Tag einen anderen Geliebten haben. – Ich habe folgende Theorie, sagt Schlange. Der andere, in dem du immer wieder aufwachst, bist du selbst. – Das ist mir zu konstruiert, sage ich. Ich bin doch immer ich und morgen kein anderer. – Doch, sagt Schlange, ich zum Beispiel bin immer eine andere von Tag zu Tag und dadurch bin ich ich. – Das gefällt mir, sage ich, da wachst du morgen in dir auf als eine andere, und du bist du? – Ja, sagt Schlange. – Aber du wirst anders anders als ich, sage ich, du wirst anders ein anderer, als ich ein anderer werde. Mit der Zeit werden wir uns fremd. – Das muss sein, sagt Schlange, damit wir uns immer wieder lieben. – Trotzdem habe ich noch eine andere Theorie für unsere Liebe, sage ich. Ich wache immer wieder auf in dir, wenn du in mir aufwachst. Deswegen müssen wir uns immer lieben. – So ein Zufall, sagt Schlange, wäre ein Wunder! Im übrigen ist deine Theorie nicht anders als meine, nur anders formuliert. – Das ist mir gleich. Siehst du, sage ich, unsere Liebe ist in jedem Fall ein Wunder!

 

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Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann, Kulturnotizen 2016

In den Schlangegeschichten wird die Dialektik der Liebenden dekliniert. Ulrich Bergmann schrieb mit dieser Prosafolge eine Kritik der taktischen Vernunft, sie steht in der Tradition der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels und zeigt die Sinnlichkeit der Unvernunft, belehrt jedoch nicht. Das Absurde und Paradoxe unseres Lebens wird in Bildern reflektiert, die uns mit ihren Schlußpointen zum Lachen bringen, das oft im Halse stecken bleibt.

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Eine Einführung in die Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.