Enfant terrible

Ich

Habe eine

Ich habe eine Puppe

Gestohlen.

Die ich mir wünschte

Bekam ich nie.

Drei Geburtstage lang

Und dann die mit Tintenaugen

Und Haaren aus Zelluloid.

Beinah ist oft schlimmer als Nein.

Nun habe ich eine.

(Gestohlen.)

 

Dieses Gedicht habe ich schon früh entdeckt. Vielleicht noch bevor ich selbst Gedichte schrieb. Ich mochte es auf Anhieb. Es ist ein direktes Gedicht, das mich sofort ansprang. Die ersten Zeilen „Ich / habe eine / Ich habe eine Puppe /“ sind eine Ankündigung, die neugierig machen. Das abgebrochene und neu angesetzte „Ich / Habe eine“ und „Ich habe eine Puppe“ deuten darauf hin, dass die Verfasserin emotional gebunden ist an das, was sie gleich sagen möchte. Besonders schön ist es hier Kaléko gelungen, das Rotzige ihres Enfant Terrible direkt in die Sprache selbst zu übertragen. Wann immer dies gelingt, wenn also der Inhalt und die Aussage bereits in die Sprache selbst einfließen, ist dies besonders vollendet. Die Übersetzung der mit Hoffnung angefüllten Zeitdauer von drei Jahren, und somit einer enorm langen Zeit für ein sich sehnendes Kind, hat die Lyrikerin lakonisch an drei Wörtern festgemacht: „Drei Geburtstage lang“. Nach zwei Dritteln des Textes, in der neunten Zeile, taucht das Wort „Zelluloid“ auf. Ein Fremdwort, das Kinder eher nicht gebrauchen. Außer, sie haben es von Erwachsenen gehört, und das ist dann besonders charmant aus eines Kindes Mund anzuhören. In diesem Fall könnte man zur folgenden Interpretieren geneigt sein: Wurde das Kind mit dem Zelluloid als etwas Positivem, im Sinne einer Rechtfertigung, konfrontiert, nach dem das kleine Mädchen die Haare der Puppe beanstandete? Oder hat sich das (alt)kluge Kind während der drei Jahre mit seiner Wunschpuppe bis in alle Details auseinandergesetzt und erkennt Zelluloid-Haare auf Anhieb? Oder hat sich die erwachsene Lyrikerin Kaléko ihr eigenes Kind bewahrt und vermag im Gedicht beides: die Sprache eines Kindes mit der Reflexion einer Erwachsenen zu verbinden? Mir gefällt die Idee, dass es die Autorin selbst ist, die hier einerseits einen (selbstironischen) Blick in ihre Kindheit zurück wirft, jedoch ihr eigenes rotziges Kind beim Schreiben sofort wieder gefunden hat. In der zehnten Zeile folgt nun ein Satz, der aus dem Rahmen fällt: Die Zeile „Beinah ist oft schlimmer als Nein.“ ist keine Wendung im Text, jedoch eine betrachtende Zusammenfassung der bisherigen Geschichte, ein leichter Perspektivenwechsel. Es ist zudem eine Anspielung darauf, dass die Lyrikerin hier eine oder mehrere Erfahrungen anspricht, die über die gewünschte Puppe hinausgehen und dass das vordergründige Enfant Terrible im Kern seines Wesens ein nachdenkliches, empfindsames Wesen ist. Die naive Kindersprache wird trotz dieses weisen Inhalts beibehalten. Doch bevor der Leser zu sehr in diese Richtung abschweifen könnte, macht Kaléko mit allem Schluss, indem sie sagt, dass sie nun aber eine Puppe hat. Kleinlaut und der Richtigkeit halber gibt sie, in Klammern ausgedrückt, zu, dass sie ihre Wunschpuppe gestohlen hat, womit das Gedicht wieder zurück an den Anfang geht und somit rund ist.

 

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Weiterführend →

Lesen Sie auch das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. Gleichfalls empfehlenswert ist der Essay von Joanna Lisiak über die menschliche Stimme.