Eine Erinnerung an Ibrahim Rugova

 

Wir waren Freunde, haben uns jedenfalls als solche empfunden, einer den anderen, obwohl wir kaum jemals mehr als nur ein paar Worte miteinander gesprochen haben. Denn ein wirkliches Gespräch zwischen uns war unmöglich. Ibrahim Rugova sprach französisch, das ich nicht konnte; ich hingegen sprach – wenn auch nur schlecht – Englisch, das wiederum er nicht beherrschte. Trotzdem waren wir Freunde. Es waren nicht die Worte, die uns verbanden, sondern eine gemeinsame Gesinnung, und das empfanden und wußten wir auch. Aber auch dies brauchte, bis es zwischen und klar und wirksam wurde, eine längere Zeit, brauchte die wiederholten Treffen in Struga/Makedonien, in Sarajevo, aber vor allem in Bled, wo wir bei den alljährlich stattfindenden Europäischen PEN-Regionalkonferenzen des Slovenski PEN Centers regelmäßig im Kreis unserer gemeinsamen Freunde uns trafen und beisammen waren. Und über diese Freunde liefen auch die Kontakte. Man war dann z.B. in einer Gruppe, die in einem Boot fuhr, das uns hinüberbrachte auf die Insel mitten im See, oder wir waren die letzten, die von einem Ausflug mit Picknick noch übrig geblieben waren und lange gemeinsam auf den Bus warteten, der uns noch abholen sollte. Während dieser Wartezeit sangen wir alle uns bekannte Lieder. Ibrahim Rugova aber sang nie. Er lächelte nur wie ein Weiser – der er ja auch war – in sich hinein. Man kannte sich also, vor allem nach einigen Jahren. Ich war insgesamt zwölfmal bei solchen Schriftstellerbegegnungen in Bled im Slowenischen nahe den Karawanken. Vorher war das noch in der Föderativen Republik Jugoslawien, nachher in der demokratischen Republik Slowenien. Wichtig waren die Treffen vor allem zu der Zeit, als es Jugoslawien noch gab.

Innerhalb der gesamtjugoslawischen Schriftstellervertretungen und in den einzelnen nationalen Schriftstellerverbänden und der PEN-Zentren gab es damals schon lose Gruppen, die zwar noch alle unter dem gemeinsamen Dach Jugoslawiens zusammengefaßt waren, aber schon national grenzübergreifend kleine Gruppen bildeten, die, wie mir schien, nicht nur rein zufällig sich gefunden und gebildet hatten, sondern die wiederum etwa Gemeinsames verband, jedenfalls zu verbinden schien. Da gab es noch, wie ich sie nannte, die braven, solidarischen Parteigänger, die nichts in Frage stellten, was Partei und Staat betraf; da gab es aber auch schon eine Gruppe anderer, die aufgrund einer gewissen Einvernehmlichkeit zusammen waren. Die saßen dann beim Picknick miteinander an einem Tisch. Und dann gab es auch noch  jene, die nirgendwohin dazu zu gehören schienen, die Abstand hielten und zu allen eine gewisse Distanz hatten. Zu diesen zählten Ibrahim Rugova, Igor Torkar, Boris Pahor, Branko Hofmann und einige andere. Damals wußte ich noch nicht so viel und kannte noch nicht die Hintergründe, die mir erst später, durchaus auch schmerzlich, klar geworden sind, weil ich mich dann genauer informiert habe, ausgelöst durch so manche Vorfälle, vor allem in der Zeit des Zerfalls von Jugoslawien. Vorher hielten sich diese Kolleginnen und Kollegen noch etwas bedeckt, wenngleich auch schon manchmal Kritik an diesem und jenem, an den „Verhältnissen“, wie man das nannte, geübt wurde, was von anderen oft gleich mit einer Handbewegung und mit irgendwelchen Floskeln abgetan wurde. Da gab es z.B. bei den Slowenen „die alte Garnitur“, wie ich sie nannte, rund um Mira Mihelić und Kumbatović sowie Ivan Minatti und andere. Mit ihnen durfte man, so auch ich, nach einiger Zeit, auf Zimmer 212 bis spät in die Nacht hinein diskutieren; auch Stefan Hermlin, der Parade-DDR-Kommunist, war da mit dabei. Und dann gab es eben jene Gruppe, bei der ich wie zufällig, aber doch nicht nur zufällig dabei war: Das waren die schon genannten Kolleginnen, zu denen dann noch Drago Jančar aus Ljubljana, Mirko Mirković aus Zagreb und andere gehörten. Nur Igor Torkar blieb stets allein, wie ein Geächteter. Erst viel später erfuhr ich wie zufällig von seinem „Schicksal“, wurden mir der „Dachauer Prozeß“ und die Säuberungen durch die Volksgerichte und die Ermordungen von mehr als zweihunderttausend Menschen durch Tito-Partisanen ein Begriff. In der „guten alten Zeit“, hatte keiner meiner Freunde je ein Wort darüber verloren, all die vielen Jahre nicht. Das wurde verschwiegen, geheim gehalten, vor allem vor mir.

Ibrahim Rugova wußte natürlich von all dem, nehme ich an. Er selber war ja bald im Mittelpunkt neuer politischer Strömungen und kristallisierte sich immer mehr als – zunächst geistiger – Führer heraus: Es ging um die Albaner auf jugoslawischem Gebiet, um die im Kosovo, in Makedonien und anderswo, und um deren Verhältnis zur Republik Albanien und um das Verhältnis des jugoslawischen Gesamtstaates zu dieser Problematik. Der Name Milošević war plötzlich präsent. Und da war dann auch eine sich in einer langen Vorgeschichte sich entwickelte Gegnerschaft zwischen den Freiheitsbestrebungen der Kosovo-Albaner und der Unterdrückungsmaschinerie des Staatsapparates unter Milošević. Man hörte von Repressalien gegen die Albaner im Kosovo. Keine Unterrichtssprache Albanisch mehr in den Schulen, Probleme an der Universität in Pristhina. Man hörte und las auch in unseren kritischen Medien (Profil) etwas von Verhaftungen, Gefängnis, Folter, Todesfällen. Ich bekam das so am Rande mit. Aber dann sprachen mich Ibrahim Rugova und Ali Podrimja sowie ein Kollege, der als Dolmetscher fungierte, an und fragten mich, ob Sie mir eine Mappe mit nach Wien geben könnten, und ob ich diese an offizielle Stellen weiterreichen könnte, ob ich dazu bereit sei. Ich erkundigte mich näher, worum es in dieser Mappe ging. Man zeigte sie mir, öffnete sie und erklärte mir den Inhalt. Es war eine Mappe mit mehr als achtzig Dossiers über im Gefängnis von Pristhina oder anderswo, auch in Makedonien (Tetovo) Inhaftierte und manche davon bei Verhören auch Gefolterte, vielleicht auch in der Haft Verstorbene. Alle Personenangaben mit Geburtstag und Geburts- und Lebensort, dazu bei manchen Personen auch ein Foto. Wichtig aber waren vor allem die Angaben, in welchen Gefängnissen die einzelnen Häftlinge gefangen und wem sie dort ausgeliefert waren. Ich nahm diese Mappe an mich, versteckte sie gut in meinem Auto und kam unbehelligt über die Grenze am Loiblpaß. In Wien gab ich dann diese Mappe mit den Dossiers im Büro des Außenministers Dr. Alois Mock ab, persönlich zu seinen Händen. Kurz zuvor war der letzte jugoslawische (serbische) Außenminister, Zlatobor Lončar, noch in Wien auf Staatsbesuch bei unserem Außenminister Dr. Alois Mock gewesen und hatte alle seine Fragen bezüglich Menschenrechtsverletzung an Albanern im Kosovo und anderswo als „nationalistische Propaganda“ (Göbbels nannte Gleiches in der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus „Feindliche Greuelpropaganda)“ abgetan. Wie alles dann weiterging, wissen wir. Die aggressiven Hegemoniebestrebungen der serbischen politischen Führung unter Slobodan Milošević, die beiden Jugoslawienkriege, der heutige status quo in den ehemaligen Teilrepubliken des ehemaligen Tito-Staates. Rugova war dann Staatspräsident im Kosovo.

Immer wenn ich an Ibrahim Rugova denke, sehe ich ihn in den Anfangsjahren, als er noch an der Universität Pristhina lehrte und sozusagen der geheime Präsident, jedenfalls die Zentralfigur, der geistige Führer war, vor mir, wie er immer mit einem fast verlegen wirkenden Lächeln bedächtig seinen Kopf neigte und ebenso leise aber bestimmt von der Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit sprach. Das war seine geistige Grundhaltung, die später anderem geopfert wurde. Ibrahim Rugova nannte ich einmal fast scherzhaft im Freundeskreis den albanisch-kosovarischen Mahatma Gandhi. Das erntete Kopfschütteln und Zustimmung zu etwa gleichen Teilen. Immer wieder kam meine Fragestellung auf, auch zwischen Rugova und mir, die da lautete: Kann man sich gewaltlos gegen Gewalt verteidigen? Ich hatte da eine andere, eine radikalere, vielleicht eine einfachere, ja vielleicht sogar eine falsche Antwort parat; nämlich ein entschiedenes „Nein!“. Gegen Unterdrückung und für seine Rechte muß man kämpfen; das war und ist für mich heute noch klar. Aber die Frage ist: mit welchen Mitteln? Und wie weit darf man gehen? Heiligt der Zweck die Mittel? Gerne hätte ich, nach all dem, was dann im und mit dem ehemaligen Jugoslawien und was heute in den diversen Weltkonflikten passiert, von Ibrahim Rugova eine – seine – Antwort auf diese ungelösten Fragen und Probleme. Aber vielleicht würde er auch heute seine Antwort, die er in seinem Innersten als Überzeugung hatte, nicht so plakativ aussprechen, und die Frage nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Vielleicht würde er zuerst einmal wiederum so wie damals ganz still sitzen, nichts sagen, seinen Kopf etwas gebeugt halten, sich das unvermeidliche Schaltuch etwa enger um den Hals schlingen und zunächst nichts sagen, sondern nur nachdenken und lächeln. Mir scheint aber eines gewiß zu sein: Wir würden heute dringend Menschen wie Rugova in der Politik, ja in der Weltpolitik brauchen; nämlich Menschen, die nicht reflexartig und vorschnell handeln, sondern alles zuerst überlegen und abwägen und dann Wege suchen, die zur Lösung eines Konflikts führen können. Ich kannte Radovan Karadčić, ich kannte Vuk Drašković, beide Dichter und Politiker, der eine ein Kriegs- und Menschheitsverbrecher, der andere ein utopistischer Pragmatiker (Außenminister). Und ich kannte Ibrahim Rugova; der ein Intellektueller von hohem Rang sowie ein weiser, sensibler und doch ein entschlossener Mensch war. Und für mich auch ein guter Freund.

 

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010, von Peter Paul Wiplinger. Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Phoro: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.