Die alte BRD, ein diabolisches Idyll

Tieren ist der Sinn gegeben, Menschen müssen ihn schaffen: durchs Erzählen.

Was wir in diesem Roman lesen sind lauter Lebenszeichen. Was sich hier darstellt sind unendliche Gespräche, eine Abfolge von Krisen, Abhängigkeiten und eine „gar nicht billige Menschlichkeit“. Wie sich eine Großstadt in Worte fassen läßt, wie man deren Wesen dadurch begreift, daß man nichts verklärt und gleichzeitig jedem faden Elendsrealismus die kalte Schulter zeigt, das ist in Lokalhelden exemplarisch nachzulesen. In einem formal sorgfältig komponierten Erzählmosaik beschrieb A.J. Weigoni, wie eine Identität auf einen Schlag zusammenfällt, wie Menschen an ihrer auferlegten Rolle scheitern. Frei nach Godard gibt es womöglich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber mit Sicherheit nicht in dieser Reihenfolge. Lokalhelden ist ein Puzzle, das es darauf anlegt, nicht im ersten Versuch lösbar zu sein. Manche Teile passen nicht zusammen, und andere fehlen völlig, aber viel mehr als um ein kohärentes, fertiges Bild geht es hier um den Versuch des Zusammensetzens, der an sich schon zur Erkenntnis führen soll. Die Szenen wechseln zwischen scharfkantiger Satire, skurriler Geschwätzigkeit und vorsätzlicher Unbedarftheit. Auf 320 Seiten läßt er dabei viele Geschichten parallel laufen und zaubert aus dem Rollenspiel des Rheinländers nach und nach einem ganzen Kabinett menschlicher Stereotypen, die menschlich, allesamt allzumenschlich grundiert sind.

Groß ist die Freiheit in der Bundesrepublik, aber noch grösser die Feigheit.
Marcel Reich-Ranicki

Lokalhelden definiert den geschmähten Begriff ´Heimatroman` neu. Das Rheinland erscheint hier als eine in die Jahre gekommene BRD (Westdeutschland), eine angeschmutzte Provinz. Unter praktischen Gesichtspunkten qualifizieren sich die Bewohner dieses ´Retrotopia` (Zygmunt Bauman) als Lebensverpasser, sie schämen sich kaum, rutschen aus einer Problemlage in die nächste und erweisen sich auf diskrete Weise als schamlos. Wer wissen will, wie man Atmosphäre durch Sprache erzeugt und durch welche Stilmittel Wirkung entsteht, sollte dieses Buch lesen. Die Romane von A.J. Weigoni halten keine Zauberformel parat, aber sie zeigen, wo Stil individuell und unverwechselbar ist. A. J. Weigoni war ein Meister der der unsentimentalen Empathie, als passionierter Menschenforscher lieferte er in seinem zweiten Gesellschaftsroman ein eierkohlenglühendes Stimmungsbild der deutschen Zustände der Achsenzeit mit ihren veränderten Verhältnissen, Ansprüchen und Wesensverzerrungen. Das Rheinland las mit geschärftem Sinn für die Vielschichtigkeit ihrer trivialen, zeitlichen Erscheinungen und ergründet die universelle Dimension dieser Region. Der Sprechzwang dieses sprachmächtigen Erzählers war die Lebenskraft von A.J. Weigoni.

Es geht bei den Lokalhelden um die Liebe zum Rheinland, es geht darum, die Seele der Region sichtbar zu machen, und letztlich um eine gelingende Aufklärung im Gedächtnis der Literatur.

Für all diese Typen auch in ihrer unverhohlenen Tragik oft sehr komischen Episoden findet Weigoni eine beachtliche Breite nuancierter Töne. Seine Sätze sind stark, geschliffen, scharf und voller Wucht. Oft erscheinen sie in langen Perioden, hochkomplex und in der Wortwahl ohne Scheu vor überbordender Pracht; in den Dialogen verdichten sie sich zu knappen Wortwechseln mit der Lebendigkeit des Mündlichen und voll treffender Pointen; in lyrischen Passagen steigert seine Sprache sich zu rhythmisierten Klangfiguren, mit vielen gänzlich unbekannten Resonanzen – vielstimmig orchestrierte Wortkonstellationen, wie wir sie im Deutschen sonst kaum je finden. Er gleicht sein Erzählen, in Syntax und Metaphorik, seinen Figuren gekonnt an – ein Verfahren, das er auch dort anwendet, wo er den Mythenschatz des Rheinlands ausschlachtet und einen barocken Sprachduktus imitiert und dabei, so darf man vermuten, mit dem historisch Verbürgten sehr frei umgeht. So erhält die auf den ersten Blick realistisch anmutende Dorfatmosphäre unmerklich eine magische Note. Der Pulsschlag des Rheinlands wird in jedem Kapitel sichtbar.

A.J. Weigoni war ein verschmitzter Mentalitätsforscher des Rheinlands.

Literatur als Projekt der Fortschreibung. Die Anläße, die Weigoni zum Schreiben gebracht haben, mögen vergangen sein; seine Themen sind es nicht. Er achtete auf die Worte, in denen eine Sache vorgetragen wurde, und spürte den Überzeugungen und den Erfahrungen nach, die in ihnen aufgehoben waren. In das Rheinland ist das Gedächtnis der Geschichte eingeschrieben, und es mischt sich mit großer Deutlichkeit in diesem synästhetischen Roman. Die Utopie, daß Literatur in der Lage ist, das Doppelgesicht der Welt, ihre Schönheit und ihren Schrecken in ein gemeinsames Bild zu bringen. Daran arbeitet Weigoni seit den Vignetten mit atemberaubender Dringlichkeit und Hartnäckigkeit. Kreativ schreibt er sich durch sperrige Themen hindurch: Existenzialismus, Tod und Psychokrise. Er verwirrt ab der ersten Seite mit Zeit- und Perspektivensprüngen, läßt kaum einer Szene mehr Raum als vier Seiten, und beweist immer wieder Mut zum Absurden. Ein Credo bleibt: Jede Identität ist austauschbar. Außer, wir halten uns an den anderen fest. Es gibt Bücher, die kein geistiges Verfallsdatum kennen, dieses hat eine Anwartschaft darauf. Augen auf und durch, bis zum Schluß.

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend → Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay

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