Mancher meiner in die Jahre gekommenen Altersgenossen glaubt nur deswegen in unerträglichen Zeiten zu leben, weil er sich und seine Hilf- und Tatenlosigkeit kaum ertragen kann.
Bekanntlich ist es einfacher, eigenes Missbefinden – wie etwa Einsamkeit –. von sich weg auf die Verhältnisse zu schieben. Zum Beispiel auf Computer- und Internetauswüchse, die fühlbare persönliche Kontakte und echte zwischenmenschliche Kommunikation verhindern.
Und diese E-Books – natürlich wieder mal Denglisch – die sich nicht einmal mehr wie Papier anfühlen. Doch die Papierbuch-Bestseller richten sich ausnahmlos nach Verkaufszahlen und kaum noch nach dem schriftstellerischen Können der Autoren.
Kein Wunder, dass es keine tiefgründige Literatur mehr gibt und der Nachwuchs allmählich verblödet. Niveauverlust allüberall.
Seichte Comedians verbreiten im Fernsehen geistlose Albernheiten. Für geistvolle Kabarettisten, die es zu Hüschs Zeiten noch allenthalben gab, interessieren sich allenfalls noch ergraute Theater-Besucher.
Die allgemeine Moral auf peinlich tiefem Niveau
Mit Begeisterung könnte ich mich all diesen Klagen anschließen.
Und diese allgemeine Morallosigkeit.
Da ist es höchst erfreulich, dass ein Mitsenior zum deutschen Bundespräsidenten gewählt wurde. Der weiß noch, was Moral überhaupt bedeutet und wie er Bürgerinnen und Bürgern und korruptionsanfälligen Politikern ins Gewissen reden kann.
Immerhin sind wir Alte die stärkste Wählergruppe und allereifrigste Wahlgänger.
Wir wissen noch, was (Wahl-)Pflicht bedeutet. Wenn es uns nicht gäbe, wäre die wahre Demokratie längst untergegangen.
Kein Grund also, alles nur hilflos zu erleiden.
Unsere Bevölkerungsgruppe ist dank Kindermangel und fortschrittlicher Medizin auf Wachstumskurs. Wir schaffen Arbeitsplätze in Krankenhäusern, Pflegeheimen, bei Pflegediensten sowie den Herstellern von Medikamenten und Prothesen jeglicher Art.
Der Tourismus wäre außerhalb der üblichen Saison ohne uns bei weitem kein so blühendes Geschäft.
Auch wenn uns die mediterrane Hitze zu schaffen macht, unterstützen wir nach besten (von Jahr zu Jahr altersschwächeren) Kräften die Wirtschaft verschuldeter Staaten rund um das Mittelmeer.
Und das, obwohl die kühleren Urlaubsregionen in Deutschland auch gern von unseren Renten, Pensionen und Ersparnissen Gebrauch machen würden.
Alte mögen Türken
In Thailand lassen sich männliche Altersgenossen beweisen, dass auch jüngere Frauen ihrem männlichen Reiz unterliegen. Auch wir Gockel im Rentenalter haben noch unseren eitlen Stolz.
Da soll noch einmal jemand behaupten, unter älteren Menschen wäre Ausländerfeindlichkeit besonders verbreitet.
Im Gegenteil wir mögen Türken.
Nicht zuletzt auch, weil besonders junge Muselmanen noch das Alter zu ehren wissen.
Neulich stand in der Straßenbahn sogar einer für mich auf.
War mir zwar eher unangenehm, denn obwohl ich es im Rücken habe, kann ich noch ganz gut stehen.
Das sind halt die kulturellen Unterschiede zwischen türkischer Altenverehrung und deutscher Jungseniorenmentalität. Doch wir sind tolerant. Immerhin meinte der junge Mann es gut mit mir.
Auch wenn Alte im Arzt-Wartezimmer sich gern gegenseitig ihr körperliches Leid klagen, geht es uns Senioren gut.
Zwar lässt die geistige und körperliche Beweglichkeit nach und der Tod rückt unweigerlich näher, aber sonst… .
Am liebsten noch jung und trotzig
Gut, wir haben ein paar Ängste, die wir in jungen Jahren kaum kannten. Vor Stürzen, vor Demenz, vor Diebstahl und Gewalt und vor allem davor, nicht mehr mit den allgemeinen Entwicklungen und deren Geschwindigkeit mithalten zu können.
Leider wollen jüngere Zeitgenossen mit unseren Erfahrungen nicht mehr viel anfangen. Erfahrungen sind eben lästig und behindern Innovationen.
Jeder will eigene Fehler machen und nicht von Fehlern alternder Fremder und Bekannter lernen.
Den durch allgemeinen Stress geplagten und von burn-out bedrohten Jungen und Mittelalten täte Entschleunigung zwar gut, aber Unternehmen und Banken, vom Wachstums- und Geschwindigkeitswahn gesteuert, stehen der zunehmenden Langsamkeit im Alter entgegen.
Am liebsten wäre ich auch noch jung und trotzig.
Allerdings gelten heutige karriereorientierte Schüler und Studenten weitgehend als brav und angepasst, wir Alte hingegen als stur und wenig belehrbar.
Wäre nicht gerade Sturheit gegenüber der Übermacht von Bankern, Unternehmern und Wachstumsideologen besonders angesagt?
Also: Alte an die Macht…! Oder?
Karl Feldkamp (68)