Weigoni: Einst war das Theater der Motor der gesellschaftlichen Debatte. Ein Forum der Ideen. Nun scheinen ihm die Impulse auszugehen. Du kommst als Regisseurin vom Theater, wie lautet deine Einschätzung?
IOONA RAUSCHAN: Ich würde nicht behaupten wollen, dass dem Theater als Forum der Ideen die Impulse ausgegangen sind. Es wäre, als würden wir klagen und glauben, die Apokalypse müsste jedesmal kommen, wenn Werte und Massstäbe ihre Gültigkeitsbereiche oder Richtungsfunktionen umstellen müssen. Veränderungen sind positiv, weil dynamisch, d.h. Teil einer Entwicklung. Ob die Entwicklung selbst immer gleich auch als Fortschritt zu bewerten sei, das ist eventuell die Frage, die wir uns stellen sollten. Nun, innerhalb des Veränderungsprozesses können wir selbst sehr viel bestimmen und gestalten, denn wir agieren letztendlich nicht nur als Verbraucher seiner Teilergebnisse, sondern auch als ihre Macher. Ich bin keine Kulturpessimistin, mag aber fatalistische Einschätzungen nicht. Deshalb würde ich viel eher behaupten wollen, dass das Theater als Motor gesellschaftlicher Debatte seine Impulse teilweise delegiert hat, sie anderen Medien bis zu einem gewissen Punkt überlassen hat. Was ihm in sehr vielen Hinsichten durchaus gut tut.
Weigoni: Lass uns die Forumsfunktion thematisieren.
RAUSCHAN: Es gibt heute andere Medien, die sie übernehmen können, wenn auch mit anderen rhetorischen Mitteln und Strategien. Schliesslich gehen wir auch nicht mehr in die Arena oder auf die Agora der Stadt, um den Puls des öffentlichen Geschehens zu fühlen. Wir haben den Platz in unsere winzige Wohnung verlegt: durch Radio, Fernsehen und Internet. In wieweit wir diese Medien als Arena oder Agora benutzen oder wahrnehmen, hängt von uns ab, von unserer Bereitschaft oder Fähigkeit, uns an dem öffentlichen Geschehen zu beteiligen. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob wir tatsächlich weiter gekommen sind und heute mehr oder anders als früher uns dessen bewusst sind, dass wir selbst agieren können, und nicht nur bloss als Publikum des Geschehens uns von diesem bestimmen lassen. Es ist die alte Geschichte, nur findet sie jetzt in einem viel grösseren, öfters unüberschaubar gewordenen Rahmen statt mit sehr vielen Verzierungen / Verzehrungen und Aus- / Abschweifungen. Aber das ist normal, denn wir sind mittendrin in diesem Veränderungsprozess, sind auf der Suche, und es gibt viel mehr Wegkreuzungen. Je mehr wir produzieren, desto zahlreicher die Möglichkeiten, unsere Produkte zu konsumieren, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, uns von ihnen ersticken, total irre führen oder verunsichern zu lassen. Ich finde es sehr spannend. Es ist der gleiche Kampf um das Gleichgewicht zwischen Individuum / subjektivem Vereinnahmen des öffentlichen Geschehens und der Gesellschaft / objektivem Vereinnahmen der Individuen. Ich weiss nicht genau, wo wir uns jetzt befinden, in welcher Phase dieses Kampfes / dieser Suche, ich weiss nur, dass die Vielfalt der Strategien, Wegkreuzungen und Diskurse, das Theater neben den anderen Medien legitimiert, es als Forum der Ideen seine Forumsfunktion ausübt. Das Schlimme ist, dass dem Theater das Forum selbst, nämlich die Räumlichkeit innerhalb der Gesellschaft, weggenommen wird, und daran hat das Theater für sich keine Schuld, sondern viel mehr die Entwicklung, von der ich gesprochen habe, einerseits eben genau diese Vielfalt der medialen Angebote, andererseits der finanzielle Druck, der aus ihrer wirtschaftlichen Konkurrenz entsteht.
WEIGONI: Somit kommen wir zurück zum Thema:
RAUSCHAN: Delegieren der Impulse. Ich bin der Meinung, dass das dem Theater in vielen Hinsichten auch durchaus gut tut. Denn die Impulse, die es nach und nach delegieren konnte, waren diejenigen, die nach und nach zu verschiedenen Epochen aufgehört haben, seiner Forumsfunktion eigen zu sein. D.h. sie wurden erst dann delegiert, wenn sie nach Vollendung einer Epoche ihr Einflussvermögen innerhalb des Mediums Theater verbraucht hatten. Der theatralische Diskurs konnte sie entbehren ohne darunter zu leiden. Es scheint fast ein Säuberungsritual zu sein, das zu der Sublimierung eigener Inhalte und Mittel führt. Denk’ nur wie viel entdeckt, verworfen und wieder entdeckt und verworfen wurde auf dem langen Weg von den Dionysos-Kultspielen bis zu den heutigen multimedialen Performances.
WEIGONI: Was für Impulse würden heute die Mysterien- und Passionsspiele des Mittelalters auslösen, die lateinische Jesuitenfama, das Barockdrama, die furchtbaren bürgerlichen Trauerspiele? In wieweit würden wir heute die Impulse des romantischen oder naturalistischen Theaters des XIX. Jahrhunderts als Herausforderung romantisch zu handeln oder naturalistisch zu denken, ernst nehmen?
RAUSCHAN: Wir würden ganz andere Impulse wahrnehmen als diejenigen, die damals intendiert worden sind. Das ist gerade das Schöne! Die Impulse sind vergänglich, weil sie an den Entstehungsaugenblick gebunden sind und delegierbar, wenn sie ihre Pflicht innerhalb der Möglichkeiten des Mediums erfüllt haben. Deshalb können sie immer wieder mit neuen ersetzt werden oder sich selbst erneuern lassen. Sie sind die Hüllen, die nach und nach von einem Text herunter fallen, um anderen Hüllen die Schutzpflicht zu überlassen. Der Kern aber bleibt – als Träger des Gedankenguts, und das ist, was dem Theater auch jetzt bleibt und immer bleiben wird – dieser Raum der Entstehung eines neuen Gedankenguts. Zugegeben: diese nach jeder Epoche neu erschaffenen Räume sind unterschiedlich gross und das Neue, das entsteht, qualitativ unterschiedlich. Aber sie ermöglichen auch eine Rückbesinnung auf das Eigene, auf das Wesentliche. Und manchmal scheinen das Eigene und das Wesentliche ihren Ausdruck viel mehr in der Form zu finden als im Inhalt. Und in dem Fall ist die Form der Träger eines Gedankenguts, es muss nicht unbedingt immer der Text sein. So scheint es mir, dass das Theater der letzten Jahre viel theatralischer geworden ist, als es noch vor wenigen Jahrzehnten war. Und ich meine damit das Alternative Theater, das unkonventionelle, das beunruhigende, das alle Mittel des spektakulären Diskurses auf die Bühne bringt: Schauspiel, Tanz, Musik, Elektronik. Man spricht viel mehr die Sinne an als den kühlen, intellektuellen Verstand. Man will mit Sinnlichkeit und Emotion die Katharsis erreichen, die Sinnesorgane erkämpfen den Weg zum Geist und nicht nur allein das Wort. Und der Vorteil, den das Theater anderen Medien gegenüber schon immer hatte – nämlich die Unmittelbarkeit, die Nähe, die Exponiertheit – bleibt ihm erhalten. Das ist sehr mutig und es spielt dem Publikum eine Art des mutigen Einsatzes vor, die es bitter nötig hat. Man reagiert ganz einfach anders, wenn auf der Bühne eine Explosion statt findet, als wenn man im Kino sitzt oder vor dem Fernseher. Vielleicht gibt es deshalb jetzt ganz andere Impulse, die das Theater auslösen könnte – zum Beispiel die Herausforderung des homo ludens, der in jedem von uns schlummert und in den letzten hektischen Jahren fast erstickt wurde. Und wenn das stimmt, dann könnte ich behaupten, dass das Theater weiterhin seine dieser Epoche geeignete angemessene Forumsfunktion durchaus erfüllt. Also ich bin eher optimistisch.
WEIGONI: Wie viel Zeit braucht man für ein ausgereiftes Stück?
RAUSCHAN: Das ist relativ. Ich denke einerseits an Shakespeare oder Molière, die unter Zeitdruck und auf Befehl ihre Meisterwerke schrieben, andererseits an Goethes Faust, der nur über viele Jahre hinweg entstanden ist. Sicher möchte man immer genug Zeit haben, um mit dem Text, den man schreibt, und mit sich selbst zufrieden zu sein. Aber das trifft bei einem wahren Künstler sowieso nicht ein, sei es denn für einen vergänglichen Augenblick. In dem Sinne ist man nie mit der Zeit, die einem gegeben wird, zufrieden. Man will immer mehr. Und ich glaube, auch diejenigen, die 20 Jahre für ein Stück gebraucht haben, hätten sich noch einen Monat mehr, ein Jahr mehr gewünscht.
Weigoni: Für arte hast du einen Film über Harry Heine gemacht. Wie unterscheidet sich das Drehbuch-Schreiben vom Theater-Inszenieren?
RAUSCHAN: Bei einer Theaterinszenierung ist man nicht zwangsweise auch der Autor des Stückes. Man agiert dann ausschliesslich als Regisseur. Wenn man beides tut, dann ist die Hölle los, weil man als Autor eigentlich keine Veränderung im Text dulden möchte und als Regisseur erst recht alles kürzen, umformulieren, verändern möchte. Im Theater musste ich das nicht so krass erleben, ich konnte rücksichtsvoller mit mir und mit dem Stoff umgehen, denn ich habe selbst kein Theaterstück geschrieben, sondern nur Texte anderer Autoren für die Bühne umgeschrieben, und in dieser Bearbeitung schon habe ich die für die Inszenierung notwendigen Änderungen gemacht, d.h. ich habe die Regeln der Dramaturgie berücksichtigen können. Es fiel mir schwer, als Regisseurin noch weitere Veränderungen machen zu müssen, als wir die Proben hatten und ich spürte, der Text kann so nicht bleiben. Aber es war erträglich. Dramatischer ist es für mich, ein Drehbuch zu schreiben für einen Film, bei dem ich selbst die Regie führe. Gott sei dank mache ich nur kurze Dokumentar- und keine langen Spielfilme. Die Autorin und die Regisseurin in mir haben eine sehr heftige Beziehung – sie lieben sich und hassen sich zugleich, mal unterstützen sie sich gegenseitig, mal kämpfen sie gegeneinander, und nach einer Weile fürchtet man, dass man paranoid wird. Denn der Druck von aussen ist, wenn nicht grösser, dann zumindest spürbarer, konkreter.
WEIGONI: Wie äussert sich das?
RAUSCHAN: Bei einer Theaterinszenierung geht man davon aus, dass das Publikum im Saal freiwillig gekommen ist, weil es sich das Stück aus Interesse oder Neugierde ansehen möchte, weil es Vorerfahrungen und Vorkenntnisse hat, zumindest was das Medium Theater angeht. Es geht also fast immer und überwiegend um ein Theaterpublikum, das man anspricht. Wenn man aber einen Dokumentarfilm machen möchte, muss man sich viel früher und präziser die Frage des Zielpublikums stellen und erst danach entscheiden, in welche Richtung sich sowohl Drehbuch als auch Regie bewegen sollten, welche Form der Dramaturgie man einsetzen sollte, um die Aussage so klar wie möglich ankommen zu lassen. Auch die Aussage selbst, für die man sich entscheidet, wird vom Publikum mehr abhängen als im Theater. Denn ein Dokumentarfilm, oder ein Filmessay kann viele Menschen ansprechen. Das Schwierigste ist, wenn sie gleichzeitig mehrere Arten von Publikum ansprechen müssen. Man wird als Sender (im Sinne von: Macher) – je nach Empfänger (im Sinne von: Verbraucher) – spezialisierter vorgehen.
WEIGONI: Wie bist du an den Filmessay über Harry Heine herangegangen?
RAUSCHAN: Ursprünglich wurde der Film für ein kleines aber feines, kulturinteressiertes Publikum produziert, er sollte als emotionale, impressionistische, essayistische Ergänzung zu einer sehr sachlichen, nüchternen Tafel-Präsentation innerhalb einer Ausstellung zu Heinrich Heines Leben und Werk laufen. Als die ARTE-Redaktion uns wissen liess, dass sie den Film an dem Heine-Abend ausstrahlen möchte, mussten wir einige Veränderungen machen, um das viel grössere TV-Publikum erreichen zu können. Darunter gab es auch Veränderungen im Kommentartext, denn er sollte zugänglicher, verständlicher, einfacher werden. Ich muss gestehen, ich war nicht immer glücklich mit den neuen Formulierungen, aber ich habe es getan, weil ich dieses Publikum erreichen wollte, ich wollte, dass zumindest ein Teil meiner Aussage / Botschaft ankommt, sonst macht es überhaupt keinen Sinn, sich die Mühe zu geben, diese zu senden.
WEIGONI: Bei den Arbeiten für die Glotze ist man vom Publikum wahrscheinlich noch viel abhängiger als anderswo?
RAUSCHAN: Es ist ein Teufelskreis. Sogar die öffentlich-rechtlichen lechzen nach Einschaltquoten. Ich finde es schizophren, weil es nicht die richtige Art von Abhängigkeit ist. Wenn man darunter das Sich-gegenseitig-Abstimmen verstehen würde, wäre das noch im Rahmen des Akzeptablen, denn man ist in einem Dialog schliesslich abhängig vom Partner und bereit, Kompromisse zu machen. Das ist keine Abhängigkeit mehr, schon fast Untertänigkeit, Anbiederung, denn es ist kein richtiger Dialog mehr. Und in diesem Prozess sind beide Verlierer, sowohl Sender als auch Empfänger. Die Kommunikation zwischen ihnen wird nur nach einem Massstab gemessen, nämlich nach wirtschaftlichem Profit. Das ist keine Kommunikation mehr, das ist Marktschreierei.
WEIGONI: Nichts gegen die Unterhaltung, aber wo bleibt die Bildung?
RAUSCHAN: Unterhaltung kann bilden, wenn ihre Qualität gesichert bleibt. Gerade die Qualität der Sendung leidet unter der falschen Annahme, dass der Empfänger nur eine geringere Fähigkeit hat, sie zu empfangen. Da gestresst, müde und mit dem einzigen Wunsch, sich vor der Glotze zu entspannen, dem Alltag zu entfliehen, in die Traumwelt oder die Realität anderer zu flüchten, weil mit einem geheimen, unbefriedigten Drang zum Voyeurismus, weil vereinsamt usw., es gibt ´zig soziologische und psychologische Erklärungen, die als Vorwand dienen können. Man geht grundsätzlich davon aus, dass das TV-Publikum ein Verbraucher mit durchschnittlicher Aufnahmefähigkeit ist. Das bedeutet aber nicht, dass man ihm hilft, indem man ihm nur durchschnittliche Angebote macht. Man lässt es dort, wo es ist, man nimmt ihm das Geld aus der Tasche, und man schert sich einen Dreck, ob seine Aufnahmefähigkeit sich verbessert oder nicht, ob es dadurch selbst tatsächlich besser, innerlich reicher oder glücklicher wird oder nicht.
Weigoni: In seinen Fiktionen beschreibt Jorge Luis Borges die Idee zu einem Kriminalroman, der wie alle Kriminalromane am Ende die Auflösung bietet. Doch im Schlusssatz, so Borges, erkenne man, dass die Lösung falsch sei. Wäre das eine Herausforderung für dich?
RAUSCHAN: Es wäre als Filmemacherin und als Schriftstellerin eine Herausforderung so ein Drehbuch zu verfilmen oder so ein Prosastück zu schreiben. Aber ich denke, alle gute Drehbücher und alle gute Prosastücke haben ein offenes Ende. D.h. ein Ende, das entweder distoniert und überrascht oder nachhallt und nachdenklich macht, das der bisherigen Konstruktion entweder widerspricht oder sie vollendet und als Baustein eine weitere, neue Konstruktion anbietet
Weigoni: Mit der Ergänzungsleistung spielen?
RAUSCHAN: Diese Freiheit, die man dem Betrachter (Zuschauer, Leser) zutraut, indem man ihm die Interpretation der Dissonanz oder des Nachhalls überlässt und ihn herausfordert, die Konstruktion neu zu erdenken, ist, meiner Meinung nach, die Basis des Dialogs zwischen Sender und Empfänger, eines, ja, demokratischen Dialogs, wo beide Partner ihr Selbstbestimmungsrecht bewahren können, d.h. auch ihr Recht auf Kreativität. Sicher setzt man sich dem Risiko aus, dass der Empfänger sich dieser Freiheit überhaupt nicht bewusst werden will und bloss frustriert auf eine Botschaft reagiert, die er nicht gleich entziffern kann. Es besteht die Gefahr, dass die beiden Arten von Kreativität, die der Sender und die der Empfänger, aneinander vorbei rasen, dass sie sich nie begegnen, und somit entsteht bloss ein chaotisches, anarchisches Labyrinth von missratenen, misslungenen Kommunikationswegen. Aber man muss trotzdem weiter machen und versuchen, den richtigen Dialogpartner zu finden, ihn zur eigenen Kreativität anzustacheln. Ich tue es auf jeden Fall.
WEIGONI: Butter bei dä Fisch. Lass uns ein wenig den Vorhang lüften und in deine Werkstatt sehen: Wie machst du das?
RAUSCHAN: In meiner Prosa versuche ich den Leser anzustacheln, mir seine eigene Kreativität entgegen zu setzen. Ich möchte, dass er aktiv wird, die passive Haltung eines Textverbrauchers aufgibt und entscheidet, selbst den Stoff für Texte zu bestimmen, zu liefern, indem er was bewegt, was tut, was verändert, indem er aus dem lauwarmen Bett seines Sicherheitsdenkens herausschlüpft und selbstbewusst existentielle Risiken eingeht. Sonst kommt man nicht weiter. Ich habe keinen missionarischen Ehrgeiz, will niemanden bekehren oder überzeugen, möchte den gewissen Ton finden, der den Leser, dieses andere Wesen, vibrieren lässt, in ihm nachhallt. Das Ende ist bei mir eher ein Nachhall als eine Dissonanz. Eigentlich will ich mehr als einen Nachhall, ich will ein Erdbeben, also vielleicht doch die Dissonanz. Sie ist rebellischer und steckt viel eher mit Rebellion an, als ein Nachhall. Und ich will Rebellion. D.h. ich will wachrütteln, will die anderen dazu bringen, über ihre eigenen Fesseln, welche auch immer, zu reflektieren, und sich dann von ihnen befreien zu wollen. Es ist sehr schwierig, denn man rüttelt letztendlich an alteingesessenen, moralischen Werten, man greift Sitten und Lebensgewohnheiten an, man stellt die Weltordnung auf den Kopf, nicht wahr?
WEIGONI: Schon!
RAUSCHAN: Man ist nicht nur unbequem, sondern auch gefährlich. Aber ich glaube, dass ist gerade der Sinn und die Aufgabe des künstlerischen Aktes, das Jetzige in Frage zu stellen und somit das Zukünftige heraufzubeschwören. Wenn man diese Aufgabe des Herausforderns zu erfüllen strebt, ist das eine Geste der Liebe, des Vertrauens. Ich glaube, für einen Künstler, auch für einen, der isoliert als misanthropischer Einsiedler in dieser Welt lebt und angeblich nur für sich selbst schöpft, ist sein Produkt, also die Kunst, Ausdruck seines Wunsches sich mitzuteilen, zu schenken, seine Art Zuneigung, Verständnis und Güte zu zeigen, also: ein wirklich zweckfreier schöpferischer Akt. Es ist sehr abstrakt, was ich zu meiner Prosa gesagt habe, ich habe viel eher etwas zu meinen Absichten gesagt, als zu der Prosa, weil ich über das, was ich schreibe, nicht sprechen kann. Deshalb schreibe ich es, und rede nicht darüber.
***
Weiterführend →
Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.
Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.
Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.