Im Schutz des Schweigens

 

In einem fast übermäßigen Gefühl von lebendigem Übermut hatte er einen Fehler begangen. Er hatte seine Freunde (Hat sich überhaupt schon einmal jemand ernsthaft darüber Gedanken gemacht, wen man so alles Freund nennt?) zu sich nach Hause eingeladen. Hatte ihnen dort allerdings nicht das erwartete Essen serviert, sondern einige kleine kalte Delikatessen auf dem Tisch arrangiert, Wildschweinleberpastete, verschiedene Käsesorten aus der Toskana, sehr trockene Salami aus Spanien, Oliven aus den Hainen Griechenlands und anderes, dazu einen eigentlich viel zu guten Wein kredenzt. Südtiroler Lagrein dunkel, von seinem Lieblingswinzer Herrn Zisser aus St. Magdalena. Ein Wein, wenn er lange genug geatmet hatte, der einem alle Sinne öffnen konnte. Das Dunkelrot verband sich mit dem ersten Geruch, dem unglaublichen Duft, dem unverwechselbar tiefen Geschmack. Nein, die Beschreibung wäre an dieser Stelle zu schmerzhaft, da man keine der seltenen Flaschen hier liegen hat. Schon der Gedanke hieran lässt den Schreiber fast gequält verträumt die Augen rollen. (Das wirklich Gemeine an Erzählungen ist ja gerade, dass man einerseits sehr genau weiß, worüber man schreibt, mit Sicherheit viele der Dinge schon selbst ausprobiert hat und andererseits so tut, als sei alles gleichgültige Fiktion, Erfindung.)

Der Beginn dieses gemütlichen Treffens verlief auch durchaus nach seinen Wünschen, nebst den üblichen Floskeln von Wetter, allgemeiner Politikverdrossenheit, ob der sicherlich manchmal zweifelhaften Entscheidungen der Regierung bezüglich der Schuldenlast und resultierend hieraus deren -umverteilung, der Frage, ob denn nun doch die Maut für alle dreisterweise umsonst, nein kostenfrei hier in Deutschland fahrenden Ausländer eingeführt werden solle. Wie immer zu solchen Anlässen wurden die gewöhnlichen Themen kurz vertiefend durchgekaut. Irgendwann waren sie gegessen und verdaut oder einfach in die Ecke gespuckt worden, je nachdem, ob sie gut mundeten oder als ungenießbar eingestuft worden waren. Schon nach anderthalb Stunden aber war dies nun geschehen.

Was tun? Da man nicht wie sonst in der Lage war über Kunst oder Kultur referierend neue Theorien zu entwickeln, setzte ein lähmendes Schweigen ein. Das Gegenteil der Absicht. Niemand lädt zum Schweigen ein, es sei denn, man ist Zen-Buddhist oder asketischer Ein- bis Zweisiedlermönch. Aber diese Form des kontemplativen Partyvergnügens ist wohl nur wenigen zugänglich. Sie lehnten sich also zunächst einmal in die doch weicher als gedachten Sesselkissen zurück und schauten sich wohlwollend an. Ja, sie waren von all den schmackhaften Schweinereien gut gesättigt, hatten bereits einige Flaschen geköpft und in den Kopf geschüttet, genießerisch, ja, aber schnell. Jetzt wartete jeder auf das Wort des anderen. Die erste Stille erschien zunächst etwas peinlich, dann stellte man amüsiert fest, dass wirklich niemand Lust hatte zu reden. Nach schließlich weiteren anderthalb Stunden schliefen die ersten von ihnen ein. Die restlichen vernichteten daraufhin sämtliche irgendwo auffindbaren Getränke. Effektiv und schnell. Man kannte die Verstecke, wusste um das kleine Weinregal im Schlafzimmerschrank.  Die Bewegungen wurden etwas fahrig. Einer stürzte sicher ohne Absicht in den runden Glastisch aus den sechziger Jahren, ohne sich allerdings an den Scherben auch nur eine Schramme zu holen. (Es wäre eigentlich zu einfach gewesen sich dies auszudenken, wäre es nicht wirklich geschehen, kannte man diese Situation doch aus jedem billigen Actionfilm.) Das linke Bücherregal wurde ebenfalls ganz nebenbei umgestürzt, als ein anderer sich im Fallen, er hatte einen weiteren übersehen, der schon vor geraumer Zeit zu Boden gegangen war, daran festzuhalten versucht hatte. Dabei fiel es in das älteste originale Bild, welches hier hing, frühes siebzehntes Jahrhundert und schlug eine offensichtlich offen sichtbare Klinke hinein. Und dass in dem Badezimmer ein Überschwemmung entstand, weil irgendwer auf die Idee gekommen war, baden zu gehen und dann vergessen hatte das Wasser abzudrehen, erschien Herrn Nipp neben die anderen Unbilden fast schon wieder egal zu sein. Die obenauf schwimmenden Bücher des einzigen Badezimmerbücherregals auf dieser Straße waren sicherlich noch zu retten, der dazwischen treibende Gast eher nicht. Höchstens ärgerlich, dass die meist mit Tinte geschriebenen Autorensignaturen und -widmungen leicht verschwommen aussahen.  Immerhin würde dieses schweigsame Treffen von denen, die es überlebt hatten, wohl niemals vergessen werden.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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