Ein Textsorten-Patchwork

Ich sammle die Texte in einem Konvolut, das ich Splitter nenne. Vieles fließt in Prosaminiaturen, Erzählungen und Romane.

Den Bonner Schriftsteller und Dichter Ulrich Bergmann kenne ich seit geraumer Zeit immer besser. Er ist ein jovialer und schalkhafter Grandseigneur. Ein geistreicher und augenzwinkernder Zeitkritiker. Ein souveräner und amüsanter Causeur. Ein skeptischer Bürger mit Grandezza und Temperament. Ein nüchterner und trotzdem urgemütlicher Bonner. Ein weiser Patrizier, etwas burschikos und sehr tolerant. Ich denke, er sieht sich als einen im Gewand der Arrièregarde kostümierten Avantgardisten – vielleicht nach der Devise des dialektischen Materialismus. Ein Schritt zurück und zwei nach vorn. War’s nicht auch bei dem von ihm geschätzten Thomas Mann so – im Kleid des vollendeten Realismus gebar er eine deutsche Variante des magischen Erzählens lange vor Marquez und Co. Ich mag sowas, und Bergmann liebt ganz gewiss Leser wie mich, die ihn und seine Schreibweise durchschauen, wenn auch vielleicht nicht so liebevoll (selbst-)kritisch wie Benkel in Bad Schönebeck. Die miniatürlichen Sportmärchen Bergmanns sind da nur ein Beispiel für sein machtvoll-hintergründiges Erzählen. Hinter seinen Kolumnen verbirgt sich ein opulenter Roman und seine Prosaminiaturen sind sein eigentliches Hauptwerk, er knüpft an die angelsächsische Tradition der short story an und muss dem Vergleich mit Alice Munro nicht scheuen. Ich muss Ulrich Bergmann bei Gelegenheit mal fragen, warum er das Märchen der Sumo-Ringer Gingko nannte, der Titel ist das einzige, was ich an dem Text nicht verstehe. Ob da eine charmant-absichtsvolle Verwechslung vorliegt? Ich traue Bergmann alles zu.

KUNO schätzt Ulrich Bergmanns Dialektik sehr, er ist so stimmig, und auch so humorvoll unter der Tarnkappe einer sublimen Ironie!

Ulrich Bergmann hat seine Splitter für KUNO als Kurator seiner selbst sinnfällig angeordnet. Wenn wir dieser Anordnung folgen, lesen wir einiges von dem, was die Redaktion bereits auf KUNO seit dem Originaljahr des Entstehens in die Timeline hat einfließen lassen um sichtbare und unsichtbare Korrespondenzen etwa mit Hel oder Holger Benkel aufzuzeigen. Bergmann kommt in seinen Splittern als überraschend gelassener Komödiant und subtiler Arrangeur kleiner zwischenmenschlicher Unfälle daher. Im Lauf der Zeit hat er einen eigenen Ton gefunden, er kommt daher wie ein tänzelnder Harlekin mit einer federleichten, spöttelnd-hintersinnigen Prosa. Die poetische Lesart begreift sich gleichsam als Summe aller übrigen und ist exemplarisch für die von ihnen fokussierte dialogische und intertextuelle Verfasstheit dieser Texte. Die Vielzahl der von Bergmann herausgearbeiteten Bezüge ist faszinierend und helfen die hochgradig intertextuelle Vernetzung zu begreifen. Er hat eine Vorliebe für die kleine Form, sodaß man bei ihm oftmals eine konzentrierte Detailbeobachtung findet. Sie finden auf KUNO ein Aneinanderreihung von Prosafragmenten, Kurzgeschichten, Mini-Reflexionen und Notizen, dank Hyperlink läuft die Lektüre auf eine Art Lese-Zapping hinaus.

Es handelt sich um gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs.

Seit über 30 Jahren verfügt Ulrich Bergmann als intensiver Beobachter über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Er bevorzugt eine Poetik der polyphonen Ich-Erzählung. Bergmann besitzt das Geschick, aus einfachen Fäden, dem Alltäglichen und Unprätentiösen, einen filigranen und faszinierenden Erzählteppich zu weben, ein klares und doch letztlich geheimnisvolles, melancholisches und doch schwebend leichtes Bildnis eines Lebens zu wirken. Daß diese Welt brüchig ist, zeigt sich im Detail. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich ein Liebesakt (wie wir in seinen Schlangegeschichten nachlesen können), der Geburt und Erleuchtung vereint. In Bergmanns Splitter-Prosa herrscht die Ästhetik der Fernbedienung, der Autor zappt von einer Szene zur nächsten und die Episoden sind ebenso phantasievoll wie nachdenkenswert. Mit all ihren Stärken und Schwächen ist diese Prosa so ambivalent wie das Leben, das dieser Autor einzufangen versucht.

Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile.

Diese neu geordneten Splitter reichen von intensiven Alltagsbeobachtungen über Briefwechsel mit den von der Redaktion gleichfalls sehr geschätzten Autoren HEL oder Holger Benkel, die Wiederbelebung historischer Figuren bis zur reinen Fiktion. KUNOs Interesse an dieser Prosa ist zunächst ein stoffliches, gleichzeitig ist unser Interesse ein literarisches. Kaum je wird in der  Literatur der Versuch unternommen, nicht allein subjektives Erleben als das vorgeblich die Historie erst Konstituierendes zu gestalten, zuletzt vielleicht bei Thomas Mann. Mit sprachlicher Souveränität und lyrischem Gespür vermag Bergmann prägnant und bildreich die ihn umgebenden Gegenstände, Landschaften und Menschen zu beschreiben. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Darüber hinaus schätzen wir auch seine Kurzprosa sehr, begleiteten uns im Jahr 2016 seine Schlangegeschichten, so setzen wir dies in 2017 mit den Arthurgeschichten fort. Mit der feinen Ironie des Kenners beschreibt Bergmann eine Gesellschaft, die mit den Konsequenzen ihrer Gewißheitsoption nicht mehr angemessen umgehen kann. Diese Splitter sind eine zeitlose Verteidigung der Meinungs-, Kunst- und ganz besonders der Literaturvielfalt, Bergmann schafft einen pragmatischen Raum für realistische Unendlichkeiten, in einem Essay über „Der Mann ohne Eigenschaften“ denkt er über die der Utopie nach.

Wo hört die Wirklichkeit auf, wo beginnt die Kunst? Oder ist das die falsche Frage?

Da wir auf KUNO nicht spoilern, empfiehlt die Redaktion die Splitter in der Timeline nachzulesen. In dieser Sammlung bringt Bergmann die Poesie der Egozentrik zur Perfektion, hier verbirgt sich eine Art von Lebensbilanz, es ist auch ein Journal, ein Notizbuch, und nicht zuletzt so etwas wie eine Gedankenmitschrift. In der kurzen Prosa resümiert Ulrich Bergmann das Leben und die Wirklichkeit. Er denkt über die Zeit nach, über die Tage, über das Verrinnen der Zeit und über die Vergänglichkeit. Er deutet kleine Geschichten an und schafft eine Vielzahl von bemerkenswerten Prosaminiaturen. Fast jede dieser Miniaturen hat es in sich. Man ist immer wieder versucht, zurückzugehen im chronologischen Lauf der Lektüre und vorhergehende Sentenzen mit anderen Textteilen in Verbindung zu bringen. Blatt für Blatt gilt es dieses Textsorten-Patchwork nachzuvollziehen, seine lässigen Pointen wirken nach.

 

 

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Splitter, Kurzprosa von Ulrich Bergmann, KUNO 1989 – 2014

Weiterführend →

Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.