Unter dem Dach

 

Gemurmel hatte ihn schon früh geweckt, unerwartetes Gemurmel. Aber niemand war zu sehen, keiner in irgendeiner Weise auszumachen. Von irgendwoher dieses Murmeln und manchmal schien es ihm, als höre er Gelächter oder zumindest gurgelndes Gekicher. Herr Nipp hatte auf die Uhr geschaut, festgestellt, dass es auf jeden Fall zu früh sei. Sich auf die andere Seite legend, war er wieder eingeschlafen, eine Stunde. Zur gewohnten Zeit, gegen halb sieben dann konnte ihn nichts mehr im Bett halten. Das Gemurmel war inzwischen nicht mehr zu hören. Regelmäßiges Straßengeraune ließ im weißen Rauschen alle Geräusche untergehen. Genau deshalb gewöhnen sich wahrscheinlich so viele Menschen daran, an viel befahrenen Straßen zu leben. Alle herausstechenden Klänge gehen unter, ertrinken im Weiß. Nach Morgendusche und Frühstück hatte er auch gar keinen Gedanken an das frühe Erwachen mehr verschwendet. Bis zum Abend hin gar vergessen.

Ein zweiter Tag verging mit ähnlichem Erleben. Früh aufwachen, wieder einschlafen, vergessen.

Der dritte Tag brach wiederum mit diesem unliebsamen Frühweckdienst an. Erneut diese Töne. Er fiel aus dem Bett, nein, rollte sich zumindest zur Seite und fand den Bettrand, ertastete sich noch schlafblind die Hauspantoffeln, streifte sie über. Aus alter Gewohnheit mochte er es immer noch nicht, ohne diesen Fußschutz durch die Wohnung zu streifen. Woher aber kam dieses Gemurmel?

Durch die Fenster war nichts zu sehen, nur die Sonne kroch gerade über den Häuserdächerhorizont der Kleinstadt. Der Garten lag noch verschattet im Frühdunst. Auch das Horchen ins Treppenhaus erbrachte keine weiteren Erkenntnisse. Dort konnte man nur den eklig kalten Rauch aus der unteren Etage riechen. Also doch angezogen und heraus in die Morgenkühle. Ein Horchen, Blick nach oben. Herr Nipp hatte schon immer gewusst, dass Städte Biotope sind, aber dass gerade unter seinem Dach sich eine ganze Kolonie an Vögeln breit gemacht hatte, davon war ihm bis zu diesem Zeitpunkt nichts bekannt. Mauersegler und Dohlen. Er ging herein, die Treppe herauf, kochte sich einen Kaffee, aß sein Frühstück und seit zwei Tagen zum ersten Mal musste er ganz plötzlich ganz zufrieden wieder grinsen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421