Eisig

 

Die erste richtige Wanderung, ein Fiasko möchte man meinen. Wenn drei lustlose Menschen durch die Landschaft schlingern, in ungewohnt dünner Luft wahrscheinlich, kann man eigentlich schon gar nicht mehr von einer Wanderung reden. Eigentlich hatten sie sich vorgenommen, die Hütte am Ende des relativ flachen Tals zu erreichen. Normalerweise für den ersten Tag ein machbares Ziel. Dort dann einen Becher Buttermilch oder ein alkoholfreies Weizen zu trinken, alles ist gut, solange es flüssig ist und möglichst rauschfrei daher kommt. In Ruhe einen Eisbecher essen, vielleicht auch den ersten Kaiserschmarren. Schon auf der Hälfte des Spazierweges hatte man, aus reinen Vernunftsgründen natürlich, beschlossen, das Eis schon früher zu verkosten, irgendwo würde sich schon eine Diele finden lassen. Spätestens beim Anblick des Eissalons mit dem wunderbar sprechenden Namen Happacher, der Assoziationen an Happen, an heftiges Schlingen mit sich brachte, gab es kein Halten mehr. Keine exklusiven Eisrezepte dort, wie man sie heutzutage auch in kleinsten deutschen Städtchen mit so einladenden Namen wie Venezia oder ähnlichem findet. Dort werden extreme Geschmäcker geboten, Gourmetkreationen mit Ferrero Rocher, Apfel – Zimt oder mit seltenen Acerolakirschen, was immer das auch sei. Amarena, Karamelleis, Malaga mit extra großen in Premiumrum eingelegten Rosinen und natürlich sämtliche Variationen mit gerösteten Nusssplittern und manchmal auch ganzen Haseln. Den Variationsmöglichkeiten der modernen Eiskreativen scheinen heute keine Grenzen mehr gesetzt. Jeder Geschmack ist möglich und wird dementsprechend auch ausprobiert. Der Name ist dabei immer ganz wichtig, er muss einen fast lyrischen Klang haben und auf mindestens drei Schildern müssen Rechtschreibfehler zu finden sein. Im Eissalon Happacher fanden die drei Wanderer allerdings gerade mal an die zehn grundlegende Sorten, die niemals fehlen dürfen. Schoko, Vanille, Zitrone, Erdbeer, Nuss, Pistazie, Waldmeister, Schokosplit und zwei weitere, die allerdings wohl aus Selbstschutz nicht weiter hinterfragt wurden. Diese zehn Geschmacksrichtungen werden zu zirka zwölf verschiedenen Eisbechern gemischt. Wenn man es mal ganz ehrlich zugibt: Das reicht auch, wer kann sich im Urlaub schon durch eine Eiskarte essen, die 57 Cups aufweist? Der Luxus besteht eben nicht immer im Verschwenderischen, sondern in der Freude auf guten Genuss. Und in manchen Fällen, vor allem zu Hause, reicht auch mal eine Sorte aus dem eigenen Gefrierfach, vielleicht veredelt mit einem Sirup oder Likör und ein paar Streuseln Schokolade. Jedenfalls wählte man einen Früchtebecher, einen Karamellbecher und einen Kirschbecher. Man merkt schon, hier kommt man noch ohne Fantasienamen aus, einfache Wörter, die beschrieben, worum es geht. Eis mit Kirschen, mit Karamell, mit Früchten. Fertig. Eine stumpfe Ehrlichkeit, die absolut sympathisch wirkt.

Herr Nipp konnte sich, als das Ersehnte vor ihm stand, plötzlich daran erinnern, genau dort vor über dreißig Jahren einmal zum Eiswettessen eingeladen worden zu sein. Er hatte allerdings abgelehnt, auch wohlgesonnene Erwachsene können in manchen Situationen plötzlich Schlingmonster werden. Allerdings erstens darum, weil er wusste, dass Schnelleisessen immer zu heftigen Kopfschmerzen führt, zweitens hatte er den netten Herrn schon einmal Eis essen sehen, und der war verdammt schnell. Der konnte enorme Mengen in Überschallgeschwindigkeit in sich hineinschaufeln. Dabei war er ein dürres Männlein mit Spitzbart. Wenn dessen Frau noch bei den ersten Ballen war, hatte er schon ein zweites Eis auf dem Tisch stehen. Drittens, und das war wohl der schwerwiegendste Grund, auch als Kind hatte Herr Nipp eine grundlegende Abneigung gegen das Verlieren von Wetten.

Nach dem genossenen Eis wurden die Schritte noch langsamer. Einer der drei begann sogar fast zu quengeln, weil er der Meinung war, dass sein Kniegelenk jedes Mal schmerzte, wenn es bewegt wurde. Also immer. Ja, das Alter. Sie machten noch einige hundert Meter den Bach aufwärts und gaben irgendwann einvernehmlich auf. Der Rückweg führte sie nochmal an der Eisdiele vorbei, die allerdings jetzt keine Beachtung mehr finden sollte. Noch einige nötige Einkäufe beim Bäcker, leckere Hörnchen und Vinschgauer. Noch etwas Sextener Bergkäse gegenüber im Golmarkt und einige Kaminwurzen beim Metzger. Der Rückweg mit gefüllten Rucksäcken geriet ihnen wider Erwarten recht einfach. Der Bus hält direkt vor dem Campingplatz.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → 

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Zudem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus ab 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.