Sie kam nach Wien, nahm ein Zimmer in Simmering, suchte eine Arbeit bei Billa und fand einen Postpunk

 

Sie kam in die Stadt, diese Stadt, irgendeine Stadt und keine andere, zufällig und mit Absicht. Hauptsache Hightech, Science Fiction und sonstiger Wahnsinn, innen ein goldlackierter Kern, Zuckergebäckstotem mit unverständlicher mythologischer Botschaft aus der Zeit des domestizierten Imperiums, der heiligen Kaiser, uringelb und fotogen aufbereitet, daher so gut verkäuflich, darum herum die verschiedenen, sich zum Rand hin ausdünnenden Schichten von Illusionen, verbunden durch ein Netz von ausgezirkelten Straßen, großteils angelegt im 45 Grad-System.

Sie nahm ein Zimmer, dieses Zimmer, irgendein Zimmer und kein anderes, billig und zu teuer, eine Höhle, ein Vogelnest am Rand der Stadt, 15 Quadratmeter, 5 zu 5 angeordnet, die Krätze unter der aufgequollenen Haut der Tapeten, nur notdürftig die boshaft aus dem rissigen Gemäuer starrenden Neugieraugen verbergend, auf dem Teppich schimmelige Flecken enttäuschter Hoffnung aus der Matratze, dem Bettzeug die ranzigen Ausdünstungen von Einsamkeit, ein vergessenes, weißes in Cellophan gehülltes Tamponröllchen in einer Kastenritze, also auch eine Frau, davor, sonst keine Spuren, oder doch? Schnell beiseite gewischt, eigene Markierungen auf das Terrain gesetzt, Zahnbürste, Make-up und Deoroller auf das Waschbecken gestellt, Kleider in den Kasten gestopft, Walkman auf das Bett geschmissen, Fenster auf, den kleinen zerküssten Stoffhasen an die Brust gedrückt.

Sie suchte eine Arbeit, diese Arbeit, irgendeine Arbeit und keine andere, wohl oder übel, aus Notwendigkeit, hektische Zeitzerhackung zur Gedankenablenkung, körperlich ermüdend, klimatisierte Halle, Regale, Truhen, geeiste Vitrinen, Warenüberfluss zum Erbrechen, Metallgitterschlangen, gierig raffende Hände, Nachschub, Sonderangebotinfo aus dem Lautsprecher, non-stop, Strichcode, Wechselgeld, Hunderte Kilos pro Tag über ihr Pult geschoben, gezerrt, Mittagspause, Wurstsemmel und Tetrapackkakao, zusammengepfercht in einem fensterlosen Raum mit den anderen rot-gelben Frauen, Erschöpfung aus dem Gesicht geschminkt und wieder hinaus, Kartoffelrundungen, Flaschenschlankhälse, Waschpulverpaketkanten, Handgriff über Handgriff, endlose Wiederholung bis Abend, bis endlich Kassasturz, zweitausend Schilling minus, Tränen, Telefonzelle und die Mama nicht zu Hause.

Sie fand einen Geliebten, diesen Geliebten, irgendeinen Geliebten und keinen anderen, außergewöhnlich und nichts Besonderes, aus der Randzone, mit Schäferhund und ohne Arbeit, zu viel Bier, zu schwere Stiefel, zu grelle Haare, aber weichhäutig und zungenwarm, Stadteisschmelze, geübtfingrige Verlorenheit, keine Versprechungen, erzwungene Teilsamkeit, das Geld reicht auch für zwei, aus dem Vogelnest ein Liebesnest, dreckige Hosen und stinkende Socken, aber schöne verwirrte Augen, nicht unschuldig, nur vertrieben, beide gierig den Geborgenheitsschweiß aus der Matratze schlürfend, Auffangarme, gegenseitig, eine Zeitlang zumindest, wie im Kino, nicht ganz so, aber immerhin, bis der Körper abgegriffen, die Liebeswünsche aus dem Kopf geschlagen, in der dürren Wortlosigkeit, nur mehr Bier, nur mehr TV, andere Frauenschenkellockungen, Kampfgebell, eine gebrochene Rippe und kein Geld.

Und dann eines Tages, an diesem Tag, irgendeinem Tag und keinem anderen, denkwürdig und so wie alle anderen, riss der Film: Sie, die in die Stadt gekommen war, ein Zimmer genommen, eine Arbeit gesucht und einen Geliebten gefunden hatte, erschoss das Miststück, raubte den Billa aus, zündete das Zimmer in Simmering an und verließ Wien für immer.

Man sagt, ihre Gang kontrolliere jetzt New York, aber das ist wahrscheinlich auch nur ein bösartiges Gerücht.

 

 

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Ein Auszug aus  Aquadrom. Kurzgeschichten von Patricia Brooks. Edition Selene, Klagenfurt 1993

Weiterführend

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin. Ein Kollegengespräch mit Patricia Brooks finden Sie hier.