Das lyrische Gesamtwerk

Der vordere Buchdeckel ist mit einem original Holzschnitt bedruckt. Vielleicht liegt ja in solcher Art Gestaltung eine Zukunft des Buches angesichts der digitalen Möglichkeiten. Das Buch als Objekt.

Jan Kuhlbrodt

Unbehaust, Holzschnitt von Haimo Hieronymus

Arthur Rimbaud konnte – in einem emphatischen Sinn – noch proklamieren: “Ich ist ein anderer”. A.J. Weigonis Figuren in den Hörspiel-Produktion Señora Nada und Unbehaust hingegen verschaffen sich die Einsicht, daß ihr „Ich“ im 21. Jahrhundert lediglich eine pragmatische Verhaltensstrategie darstellt. Der “hypermoderne Mensch” weiß, daß er eine multiple Persönlichkeit ist. Um sich in einer komplexen Welt zurechtfinden, muß er die Fähigkeit besitzen in mehreren Rollen  glaubwürdig ´rüberzukommen`, wobei die dazu benötigten Masken nicht „Instrumentarium zur inneren Selbstdefinition“ sind, sie sind vielmals lediglich ein Ausdrucksmittel.

Seit nunmehr vier Jahrzehnten verfolgt Weigoni seine literarischen Investigationen. Über verschiedene Formate – Hörspiel, Roman, Gedicht – tanzt seine Poesie und seine Beobachtungen weben ein Netz zwischen diversen Genres.

Sabine Hoffman

Dieses Ich ist kein anderer, es ist von Buch zu Buch und zu Hörbuch: A.J. Weigoni, ein Einzelgänger, der in seiner Verantwortung vor der Sprache lebt. Falls der Komponist Robert Schumann recht haben sollte und Musik die höhere Potenz der Poesie ist, dann setzt dieser VerDichter der Vergänglichkeit des Gesangs die Sprache entgegen. Das Frühwerk Wiederbeatmung, die Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren – eine Todeslitanei, ergänzt durch die Langgedichte & Zyklen mit dem Titel Parlandos, sind erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Auf jedem Cover findet sich ein Original-Holzschnitt von Haimo Hieronymus, den der Künstler direkt auf die Cover gestanzt hat.

um herkömmliche kunst lesen zu können, genügt es, das alphabet zu kennen. um neue kunst lesen zu können, muß man das buch als struktur begreifen, seine elemente erkennen und deren funktion verstehen.

Ulises Carrión

Jedes Buch ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk!

Der Schuber – 5 Buecher mit rund 500 Seiten und einem Hœrbuch mit his master’s voice in einer DVD-Huelle, auf der Weigoni Duerers beruehmtes Selbstbildnis aktualisiert… Weigoni schlægt immer deutlicher den Weg zu einem Gesamtkunstwerk unserer Zeit ein. Er gibt den Glauben an ein Ganzes, an Sinnmœglichkeit und Seinsgestaltung nicht auf. Er bietet dem Unfug der Macht und der Verführung durch die Luege, die sich mit immer schœneren Namen kleidet, die Stirn des differenzierenden Worts.

Ulrich Bergmann

Haimo Hieronymus

Wer bei der Technik Holzschnitt an Flachware in schwarz/weiß denkt, der liegt gänzlich falsch. Es sind überwiegend farbige Drucke, aber flach sind die Arbeiten meist nur beim allerersten Blick darauf. Sieht man genauer hin, stößt man auf Graphiken, die mehrmals bedruckt wurden. Man kann unter der obersten Schicht die früheren sehen, man soll es sogar. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo eine handwerkliche Drucktechnik, er hat sie auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von Weigoni gestanzt. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind “Gebrauchsspuren” geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover direkt nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken. Hieronymus macht den Arbeitsvorgang sichtbar und multipliziert den Augenblick. Er strebt mit bedingungsloser Vorstellungskraft nach Kunst. Alles, was vorher war, unter einer einzigen glatten Oberfläche verschwinden zu lassen, würde ihm wahrscheinlich vorgekommen wie Verrat am schöpferischen Prozeß.

Es ist einfach Der Schuber*. Vom Ding zum Symbol. Vom Symbol zum Begriff. Vom Begriff zum Kult. Der Schuber, das wird eines Tages unter Lyrikkennern der initial code zur Weigoni-Zone sein, sobald es um das Sujet und um den Stoff selbst geht.

Denis Ullrich

Während der Betrachter zeitnah im Individuellen gefangen ist, läßt er sich den Bewußtseinsstrom der Welt durch die Hände fließen. Aber so wie Hieronymus sich seine Holzschnitte als Meister der Anverwandlung offenhält für den Prozess der Entstehung, so interessiert er sich auch für den ihres Vergehens. Es geht ihm um Geschichte, selbstverständlich nicht im Sinne einer Historienmalerei, sondern um die Demonstration der Geschichtlichkeit, der Vergänglichkeit des Materials selbst. Er nutzt diese Technik um aus den Konventionen der Malerei auszubrechen. Die Holzschnitte geben nicht nur handwerklich einen Einblick in Hieronymus’ Schaffensprozess. Was sich in seinen Bildern ausdrückt ist mehr als Augenblick, es ist eine eingefrorene Wirklichkeit. Wir erkennen: Alles Schreiben geht aus Ritzungen und Einkerbungen hervor. Genauere Exerzitien des Auges gibt es in der deutschen Poesie zur Zeit nicht.

Die genussvoll-spitzen Sinngegendenstrichbürstungen eines A.J. Weigoni zu buntem Leben tanzen vor den Augen und führen uns auf imaginative Abwege.

J.C. Albers

Ihr gemeinsames Thema ist das Papier; das schön oder gar nicht beschriebene, das gefaltete, das nicht abwaschbare, das inkriminierte, verwertete oder fortgeworfene Papier. Es besteht ein Verhältnis des geheimen Einverständnisses, wenn nicht gar der Konspiration zwischen dem bildenden Künstler Haimo Hieronymus und dem Komponisten Tom Täger. Alle Exemplare des lyrischen Gesamtwerks sind zusammen mit dem Hörbuch Gedichte nach einer Phase der Überformung von fünf Jahren in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich. Diese Werkausgabe bietet einen konzisen Überblick über Weigonis dichterisches Schaffen, in den fünf Bänden wird man überall mit Echos, Wiederaufnahmen, Verwandlungen, Spiegelungen und Fortschreibungen konfrontiert.

die neu kunst richtet sich an die fähigkeit, die jeder zum verstehen und erfinden von zeichen und zeichensystemen besitzt.

Ulises Carrión

Fünf Lyrikbände in 40 Jahren, das spricht dafür, daß sich der Schriftsteller für seine Gedichte Zeit läßt, was in einem derart konzentrierten Genre als vorteilhaft gilt. Der Schuber ist die Rückkehrin eine Zeit der uneingeschränkten Werkimmanenz. Diese Lyrik erweitert die Vorstellung des Lesers, sie weist über das Denkbare, das Vorhandene, Erwartbare und Bekannte hinaus. Diese Gesamtausgabe bildet die Vielfalt semantischer Möglichkeiten am Rande der Sprache ab. Weigoni hat Zeit seines Ver-Dichter-Lebens mit Formen experimentiert, es gibt lyrische Gedichte, analytische Prosagedichte, Epische Monodramen und auch Laut-Poesie. Als Lyriker, VerDichtungs-Theoretiker und Sprachphilosoph legt Weigoni in der Edition Das Labor sein lyrisches Gesamtwerk vor. Und dieses Werk ist weitläufig und labyrinthisch, ein verzweigtes Netz an Verbindungen durchzieht sein Oeuvre.

Weigoni erfaßt in seinen Gedichten den Welt-Verlust im Kunst-Gewinn.

Peter Meilchen

Wie man einem Kollegengespräch entnehmen kann, hat eine frühe Erfahrung den Lyriker Weigoni – im wahrsten Sinne des Wortes – geprägt, sein erstes taugliches Gedicht hat er mit beweglichen Lettern selbst gesetzt und gedruckt. Die Auseinandersetzung mit dem Erfinder des modernen Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern und der Druckerpresse, Johannes Gutenberg, hat sich im ´digitalen Setzkasten` fortgesetzt. Die typografische Kalkulation zeigt in der Werkausgabe eine Entschleunigung an, die Buchstaben ä ö ü sucht man vergeblich. Da man das Schriftbild schnell erfassen kann, sollte man die Lesegeschwindigkeit von Gedichten verlangsamen. Als miteinbezogene Schreibweisen sind das œ ist dem französischen entliehen, das æ dem skandinavischen migriert. Der Computerkünstler Georg von der Gathen hat mit einer einer modifizierten Garamond eine neue Ligatur gestaltet, die das ue zu einem Buchstaben zusammenzieht. Diese Lyrik wird vom syngraphematischen Instrumentarium, dem verfügbaren Arsenal an nichtalphabetischen Zeichen, affiziert und erweitert um autochthone Denk-, Ausdrucks-, Artikulations- und Gestaltungsmöglichkeiten. Weigonis‘ lyrisches Schreiben bildet das Sprechen nicht ab, es konstituiert eine eigene Ordnung, Logik und Möglichkeitspalette – mit weitgehenden, aber weithin übersehenen Rückwirkungen auf die Spreche, auf Begriff und Gebrauch der Sprache. Auch die flatterhafte Präsentation eines Gedichts sucht man vergeblich, jedes Gedicht beginnt rechts oben und endet am unteren Rand des Satzspiegels. Was die Fläche einer Seite bedeckt und Raum einnimmt, kann tonlos, lautlos, stimmlos sein, aber nicht gänzlich körperlos. Man mag dies als Exzentrik verspotten, doch diese Form des Manierismus zeichnet sich durch Ausschöpfung aller technischen Möglichkeiten zur Gestaltung aus, die ausschließlich dazu dient, den eigenen Stil hervorzuheben.

Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni, Ausstellungseröffnung von „Unbehaust“ in der Werkstattgalerie Der Bogen, Arnsberg

Der Vorlass ermöglicht Autoren einen Dialog mit dem eigenen Leben, wie es im Falle des Nachlasses nur der Nachwelt möglich ist. Der Tanz zwischen Fremdheit und Selbstheit, der jeder Autobiografie eigen ist, ist beim Wiederlesen alter Papiere mit Blick auf einen Vorlass potenziert, denn jetzt ist der dringlichste Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen, bevor die anderen am Zuge sind, in den Literaturarchiven der Welt.

Jan Wilm

Wenn man den vorausschauenden Wilmschen Überlegungen folgt, ergibt sich als eine Möglichkeit ein chronologischer Lesevorschlag für den Schuber:

Reframing: Lyrik als Mittel der Selbstermächtigung

Coverphoto des ersten Gedichtbandes, 1985, Heinz Günter Mebusch

Der Gedichtband Wiederbeatmung ist ein sorgfältig kompilierter Band, in dem Gedichte aus dem Frühwerk von Weigoni nachzulesen sind. Während andere Künstler ihre Jugendsünden schamvoll verschweigen, stellt sie dieser VerDichter in schlüßiger Weise neu zusammen. Während sich der Poet bei der Erstausgabe auf die Collage als lyrischen Prinzip konzentrierte, ist die Überformung in der Selbstrevision eindeutig “textlastig”. Der Poeta ludens hat diese frühen Gedichte nicht einfach hervorgeholt und reproduziert, sondern sie in einer Rekonstruktion neu erarbeitet. Der Zeitpunkt der Entstehung kann nicht einfach nachgemacht werden, es müssen „Beweggründe des Schreibens“ analysiert werden; sie gehen einmal durch die Sprache hindurch, werden reflektiert, der Zustand, die Stimmung ihrer Entstehung wieder aufgerufen. Sampling ist, qua Definition, eine Art der Neuverarbeitung. Bei Weigoni kann man das ganz wörtlich verstehen als Neuverarbeitung von Geschichte. Es ist eine Arbeit mit der Erinnerung und der veränderten Gegenwart.

Auch auf wenigen Zeilen wagt A. J. Weigoni in seinen frühen Gedichten auszusprechen, was ihm in seiner Umwelt auffällt, was ihn bedrückt. Er macht seiner Beobachtung, seinem Unmut in klaren Worten Platz. Weigoni bedient sich bloss kurz aufflackernder Bilder, schmückt wenig aus; auf die kritische Anmerkung, eine entlarvende Feststellung oder einen persönlichen Gedankengang verzichtet er dabei nicht. Manchmal stösst man auf kleine Verstörungen, mitunter geschieht dies dann, wenn der Lyriker zu unkonventionellen Wörtern oder Zeichen greift, die man mehrfach lesen muss. Sie scheinen auf den ersten Blick simpel, sogar verständlich wirken diese Gedichte, wenn man sie überfliegt. Beim kurzen Innehalten jedoch sieht man sich als Leser ertappt, selbst einer eigenen Reflexion nachzugehen, in einen Dialog mit der Lyrik einzutreten.

Joanna Lisiak

In den frühen Gedichten kann man Weigonis Verfahren zur poetischen Konzentration und rhythmischen Dynamisierung seiner Texte studieren. Gedankensplitter und Erinnerungsfetzen werden kurz angerissen und ausgeleuchtet. Poetische Erinnerungsfragmente, marginale Eindrücke und belanglose Momentaufnahmen werden bei ihm zu Poesie. Was dem lyrischen Ich fehlt, ist das im entscheidenden Moment nicht Benannte. Weigoni begreift die Dichtung als ein Medium, ihm ist aus idealistisch-humanistischen wie aufklärerischen Gründen an der Kommunikationsfähigkeit besonders gelegen ist. Der Ansatz, semantisch neuartiges Material auf eine verständliche, emotional erschütternde und zugleich auf eine diesem gerecht werdende Art einem breiten Kreis von Nichteingeweihten zu vermitteln, ist mit der Suche nach neuen Formen und Verfahren verbunden. Anschauung, Evokation und sprachliche Selbstreflexion durchdringen einander. Weigonis frühe Gedichte waren immer Ausdruck seines Zeiterlebens. Die Begabung dieses VerDichters besteht darin, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu sehen, nicht das Gewöhnliche nur ungewöhnlich auszudrücken. Die Lyrik war für Weigoni von Anfang an die wichtigste Gattung, der innere Motor jedes sprachlichen Kunstwerks. Dabei hat er einen ungemein schnellen Blick und eine rasante Auffassung, deshalb wirken seine Gedichte so unmittelbar. Dieser editorische Kniff ist eine große Bereicherung für das eigene Lesen, da man vielen dieser Gedichte bereits begegnet ist – und nun entsteht ein ganz neuer Lektüreeindruck. Diese Werkausgabe folgt der 1985 erschienenen Erstausgabe, hier wurde nicht verwendetes Material berücksichtigt, Texte aus entlegenen Publikationen sinnfällig integriert und Überformungen vorgenommen.

Wer A. J. Weigoni durch seine bisherigen Bücher begleitet hat wird – obzwar der vorliegende Band Gedichte eines Jahrzehnts versammelt – stocken. Er sieht sich einer Sprachkraft gegenüber, die neu ist, knapp und akzentuiert.

Helmut Lotz

Original-Holzschnitt direkt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Schriftsteller versuchen oft, aus den ersten Lebensjahren eine Hölle zu machen und eine Jugend zu konstruieren, die zu ihrem Selbstbild paßt. Auch Rilkes Kindheit war längst nicht so schlimm, wie der Mythos behauptet, den er später von sich selbst in die Welt setzte. Und doch ist es die Kindheit, die Weigonis lebenslanges Aufbegehren gegen die Autoritäten eingepflanzt hat, die Zeit, aus der sich sein Schreiben speist, wie aus einer lebenslangen Trotzphase. Die randständige Existenz, die er lebt, hat seinen analytischen Blick geschärft. Jedoch ist die Zeit zu kurz, um viel an Biographischem aufzuarbeiten. Außerdem besteht das Leben eines Schriftstellers aus dem, was er schreibt. Wir lesen reimlose Verse, sehr kurze und weit ausgreifende Zeilen, gelehrte Anspielungen und schnoddriges Alltagsparlando, Gedichte in eigener Person und Rollengedichte, monologische und dialogische Gedichte, muntere Sprachspiele und stille Reflexionen – für Abwechslung ist beim frühen Weigoni gesorgt. Er geht bei diesen Ausgrabungen um nichts Geringeres als um die Empfindung der Sprachlosigkeit, Heimatlosigkeit, Gestaltlosigkeit, um die Aporie der Moderne: das Schreckliche wird schön, und das Schöne wird schrecklich durch Kunst. Als er sich dem Schreiben widmete, ahnte Weigoni nicht, welche Zähigkeit er würde aufbringen müssen, um den Glauben an sich nicht zu verlieren. Jahrelang kamen seine Manuskripte regelmäßig zurück, er aber schrieb unverdrossen weiter, schrieb Gedichte, Hörspiele und Prosatexte. Seine Arbeiten gelten als ‚schwierig’, als anspielungsreich und subtil, nicht eben Eigenschaften, die im verflachenden Literaturbetrieb angesagt sind. Er ist immer die langen Wege gegangen, seine kritische Stoßrichtung braucht einen etwas entfernteren Standpunkt, um ihre Wirkung voll zu entfalten, daher ist der selbstironische Titel des ersten Gedichtbandes Der lange Atem ähnlich zu sehen, wie Schneiders Seine größten Erfolge.

Weigonis Poesie bedeutet immer auch Befragung, Diskussion, Widerspruch und Aufruhr und nicht zuletzt das dissidenzgetriebene Aufmischen der Herrschaftssprache.

Constanze Schmidt

Ein Markenzeichen der Lyrik Weigonis ist ihre zuweilen direkte, mal hintergründige, stets aber nachvollziehbare Gesellschafts- und Kulturkritik. Diese findet ihre fulminante Essenz in seinem Redux des Gedichtbandes Wiederbeatmung. In dieser Werkausgabe gelingt es dem VerDichter die Lebensnotwendigkeit des eigenen Tuns dem Leser nahe bringen. Und dieses Tun ist bei Weigoni ein tiefgründiger Umgang mit der Sprache, dazu gehört zwingend die Reflexion über ihren Stellenwert in der Kultur. Das Thema Sprache zieht sich wie ein Leitfaden durch die verschiedensten unter die Lupe genommenen modernen Lebensbereiche. Diese Lyrik ist hier das Gedicht dessen, der weiß, daß er unter dem Neigungswinkel seiner Existenz spricht, daß die Sprache seines Gedichtes weder Entsprechung noch Sprache schlechthin ist, sondern aktualisierte Sprache, stimmhaft und stimmlos zugleich, freigesetzt im Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gesetzten Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. Das Hauptstilmittel der Texte selbst ist phonetischer Art, allenthalben fallen alliterierende Rhythmen auf mit einem gekonnten Wechsel zwischen langen und kurzen Vokalen. Relativsätze läßt dieser VerDichter gänzlich ohne Satzzeichen in den Zeilen schweben, mit dem Zeichenarsenal bemühen er sich um eine Strukturierung des scheinbar Unstrukturierbaren, er schafft damit eine Sprachmelodie, die dem an gesprochene Rede und springende Gedanken erinnernden Fluß angemessen ist. Dabei vereint dieser Poet in den aufwühlenden Gedankenströmen die klangliche Zusammengehörigkeit mit der Semantik. Für ihn ist das Gedicht jedoch kein Werkzeug weltanschaulicher Bekenntnisse, es schafft die Voraussetzungen, die Dinge jenseits ihrer unmittelbaren Verwertbarkeit zu betrachten. Weigoni stillt eine Sehnsucht nach dem Unkonsumierbaren.

A.J. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern.

Peter Maiwald

Porträt Weigoni von Dirk Peuser, 1995

Dieser Nonkonformist ist darauf erpicht, Klischees zu vermeiden und seine ganz eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Er besteht auf dem Widerständigen der Kunst. Unter den grossen Dichtern ist Weigoni einer der Verborgensten geblieben, er hat seinen Beruf als „Sprachinstallateur“ in jahrzehntelanger Anstrengung erlernt, was ihm gelungen ist und was mißglückt, das weiß er besser als beamtete Besserwisser. Dieses System kann ohne seine Reservate ästhetischer Zähigkeit, Widerständigkeit und Wachheit nicht überleben. Wenn einer, dann verkörpert Weigoni das Paradox, daß seine Lyrik nicht als „Kommunikation“ angelegt, sondern überwiegend eine Selbstvergewisserung der sprachlichen Möglichkeiten ist, obwohl sie solche Kommunikation selbst in ihrer nachlassenden Intensität noch in ganz eminentem Maß leistet. Seine geistige Heimat ist dort, wo das denkerische Wort poetisch durchtränkt ist und das poetische Wort durchdacht ist. Wenn den Figuren-Texten der Antike noch mystische Motive unterstellt werden können, ist für die meisten Texte des Barock wahrscheinlich der menschliche Spieltrieb verantwortlich, selbst die so genannten ‚konkreten’ und ‚visuellen’ Poesien erschließen sich so am ehesten. Seitdem ist eine Generation vergangen, doch wer könnte behaupten, die Mehrzahl der Vertreter deutscher Hochsprache seien weniger ehrenwert, bürgerlich-bieder, angepaßt und grundsolide?

A.J. Weigoni ist en voc schlechthin, er versagt sich die Koketterie durchgehender Authentizität in einer Zeit der Explosion des Bedeutungslosen ebenso wie die Einkehr in die plane Verständlichkeit der Selbstvergewisserung. Er zeichnet den Diskurs der schweifenden ortlos gewordenen Raubritter der Wahrnehmung in einer verbleiten Szenerie.

Dieter Wieczorek

Nach den abseitigen Ausnahmegestalten muß man lange suchen, sie werden entweder vom Markt aufgesogen oder verschwinden lautlos in den Ritzen der Ewigkeit, die das Vergessen meint. Diese Gedichte erinnern und an eine Zeit als Kreativität den Verstoß gegen Normen und Konventionen verlangte, sie atmen eine Aura von Subversivität und existenzieller Dringlichkeit aus. Weigoni gehört zu „den meistunterschätzten Lyrikern“, sein Schaffen erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des- oder derjenigen, der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat, sich auf Dauer verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht, das Zulassen von Gefühlen. Weigoni sieht sein Schaffen immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen, denkt nach über die kulturellen Aufladungen beziehungsweise Vorwegbestimmungen des lyrischen Materials – Tonalität, Körperlichkeit, Struktur und Aura. Seine Lyrik dient sich nicht als bildungsbürgerlicher Konsumartikel an, er stürzt sich ebensowenig in den Mainstream, weil dort die Nuance, um die es ihm geht, systembedingt sofort weggeschliffen wird.

Auftakt der Trilogie – Dieses Buch ist Musik für die Augen

Einmal mehr Weigonis Sabotage des Signifikanten? – Nun, es ist mehr, zweierlei: die Preisgabe der kontextuellen Funktion und die des Wesen des Wortes.

Dr. phil Thomas Laux

Original-Holzschnitt direkt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Der Gedichtband Letternmusik ist gleichfalls ein sorgfältig komponierter Band, in dem die Gedichte auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen. Weigoni hat auch diese Gedichte nicht einfach hervorgeholt und reproduziert, sondern sie in einer Rekonstruktion für seiner Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh  – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren  – eine Todeslitanei, neu erarbeitet. Der Zeitpunkt der Entstehung kann nicht einfach nachgemacht werden, es müssen Beweggründe des Schreibens analysiert werden; sie gehen einmal durch die Sprache hindurch, werden reflektiert, der Zustand, die Stimmung ihrer Entstehung wieder aufgerufen. Es ist eine Arbeit mit der Erinnerung und der veränderten Gegenwart. Diese Werkausgabe folgt der 1995 erschienenen Erstausgabe, bei diesem Overdub bestimmten der Poet und die Lektorin, wie der Loop überschrieben wird. Der VerDichter wurde zum Sound- und Sprachtüftler, das Ausgangsmaterial dieser phonetische Texturen stammte aus analogen Quellen, teilweise wurden Textvariationen von einer 5 ¼ Zoll Diskette neu ausgewertet. Sinnfällig wurden die LiteraturClips auf dem Zyklus the vera strange tapes integriert, und es wurden Partikel aus dem verworfenen Projekt vorläufiges zum ästheTrick des widerspruchs montiert, dazu nicht verwendetes Material berücksichtigt, zudem Texte aus entlegenen Publikationen sinnfällig integriert und Überformungen des Sprachmaterials vorgenommen. Dieser ´Remix` ist up to date, aber nicht angestrengt modern.

Weigoni zieht die Sprache aus, reißt ihr die Verkleidungen herunter, schält sie aus ihren Klischees heraus, führt sie zum Ursprung ihrer Bedeutung zurück… die nackte Schönheit der Worte, zärtlich und zornig, stark und klar, betörend und begehrenswert. Sich darin zu verlieren. Zu verlieben. Und vielleicht wiederzufinden, wer weiß… in einer Wirklichkeit – mehrdimensional und auf verschiedenen Ebenen erfühlbar… bei erhöhter Temperatur!

Patricia Brooks

Für diesen VerDichter ist das Medium Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Die Dreipoligkeit des klassischen Zeichenbegriffs, die Aufspaltung in Bedeutung (Signifikat), Zeichen (Signifikant) und Referent ist das Kompositionsprinzip. Mit hoher Konzentration komponiert der Poeta ludens eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und seine Letternmusik ist voller Weisheit und Humanität. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist – merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind.

A.J. Weigoni während der Proben zum Tanz-Theater-Stück „the vera strange tapes“. Photo: Thomas Suder

Wir sollten uns ganz einfach dieser Poesie Weigonis ausliefern und nicht fragen, wo wir ihn und sein Werk, das gleichermaßen Wortkunst, wie auch Musik ist, einreihen sollen.

Paulus Peternell

Das grassierende Etikett „Spoken Word“ ist unpräzise, weil auf den Auftritt schielender Begriff. Das An- und Ineinanderfügen sich ablösender Sinneseindrücke und Denkfragmente zu einem poetischen Komplex, zu einem Kompositorium, das ist eine anspruchsvolle Kunst. Weigoni beherrscht sie. Dies zunehmend im Tonstudio an der Ruhr, ähnlich wie Glenn Gould hat er sich an einem bestimmten Punkt seiner Arbeit von der Bühne zurückgezogen, da allein die Studioarbeit dem nahekam, was Weigoni als ästhetische Arbeit gelten läßt. Weigoni betreibt das Spiel mit der Sprache, mit den verschiedenen Ebenen, mit dem Leser und den Deutungsmöglichkeiten. Das Spielen mit Wörtern und das Verschieben der Semantik mit anderen Worten generiert eine Worterotomanie, Linguistik als tanzbares Mantra. Sein Sprachwitz täuscht nicht darüber hinweg, daß seine Wortkunst auf tiefer Skepsis gegenüber dem Literaturbetrieb und seinen gefälligen Produkten fußt. Weigoni ringt in seinem Schreiben um sich durch besondere Radikalität gegenüber bestehenden politischen Verhältnissen und vorherrschenden ästhetischen Normen auszeichnen; seine Gedichte widersetzen sich spielerisch allen ökonomischen und ideologischen Diktaten und sind geprägt von größter Behutsamkeit im Umgang mit dem Wort. Eine Musik aus Buchstaben komprimiert: Polyphonie aus Silben und Wörtern, absolute Musik wie beim späten Monteverdi als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich-Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil auch noch so gering ist.

A.J. Weigoni, in puncto moderner Sprachtheorie und Ästhetik ganz auf der Höhe, setzt die verdinglichten Wendungen und Sprechhaltungen kritisch gegeneinander. Er verfremdet mit seiner Letternmusik das Gewohnte satirisch und polemisch. Seinem zornigen Elan fehlt es bei alledem nicht an Pathos und Sehnsuchtsausdruck. Unversehens entsteht bei dieser linguistischen Abräumarbeit ein faszinierender Phantasieraum eigener Art.

Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier

Unbehaust, Holzschnitt von Haimo Hieronymus

Für einen Moment nur, über die Konventionen unserer Vorstellungen von Lebenszeit hinaus gedacht, sich an einem bestimmten Punkt in die große Gleichzeitigkeit der Künste eintragen zu können, ist das unbescheidene Sehnsuchtsziel für Weigoni. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich macht er Sprache als Material sichtbar. Ihm gilt seine unablässige Aufmerksamkeit: die Sprache, die vor ihm denkt und aus ihrem magischen Ursprung ihre Kraftlinien und Rhythmen mitbringt, ohne die kein dichterischer Text möglich wird. In der Bereitschaft des Lyrikers, sein Schreiben ihrer Eigenbewegung, ihrem Atem zu überantworten, ist Sprache nicht mehr nur Mitteilung oder Aussage; sie wird Evokation, wird eine Dimension von allem Geschehenden selbst, eine Dimension der Bilder, die aus der Erinnerung aufleuchten. Seine Gedichte sind präzis gearbeitete Vexierbilder, die ihre unterschiedlichen Seiten schon beim ersten Anblick erspüren lassen, um dann, bei genauerer Betrachtung, eine Tiefenschärfe bis in ihre filigrane Technik hinein zu entfalten. Der “lector in fabula”, der interpretierende, also das Werk miterschaffende Leser, wie ihn Umberto Eco einst beschrieben hat, bekommt bei Weigoni viel Platz für aktives Fabulieren. Die verschiedenen Textschnipsel werden dem Leser vorgelegt und wollen entschlüsselt werden, denn wenn man sich diesem Dechiffrierungsangebot verweigert, läuft man womöglich Gefahr, sich unterschiedliche Bedeutungsdimensionen entgehen zu lassen. Diese Gedichte sind ein Sprach-Spiel mit der Aufforderung zum Mitspielen.

A.J. Weigoni weiß, wie man Dichtung zu Klang macht. Er bringt Ausdruck und Struktur in Einklang, instituiert damit eine auratische Zeichenhaftigkeit dodekaphoner Expressivität und verändert die Sprache mit jedem Sprechen. Die Zeichen geraten in Schwingungen, feste Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden lösen sich auf.

Dr. Tamara Kudryavtseva, Gorki-Institut, Moskau

Letternmusik ist ein Platz für den artistischen Bau autarke Sprachkonstrukte außerhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Weigonis Leidenschaft ist das kunstvolle und traditionsbewußte Zerlegen und Neukomponieren von Sprache. Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und Phoneme hineingehen der Zerlegungs– wie auch der Gestaltungswille in diesen Gedichten. Nie geht es in seinen Gedichten darum, Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle Permutationen vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobiert, geschieht dies, um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seine Sprache ist eine Sprache, die sich immer wieder selbst überprüft. Das vielfach verschlungene Sprechen stellt hohe Anforderungen an die Zuhörenden, manche verschachtelte Sentenz, mancher der unzähligen Literaturverweise bleibt unerschlossen. Überheblichkeit aber kommt schon deshalb nicht auf, weil über allem ein feiner Schleier der Selbstironie liegt.

Die Jaynes’sche These aus den 1970er-Jahren von der “Sprache als Wahrnehmungsorgan” findet in Weigonis Essay eine neue Entsprechung.

Dr. Joachim Paul

Die Letternmusik ist erotische Literatur in einem sehr spezifischen Sinn, nämlich einem über die Sprache alle anderen Sinne kumulativ ansprechenden. Das Wort selbst verwandelt sich in einen lebendigen Gegenstand – ebenso die Zeit. Diese Gedichte dienen als Bühne für die Darstellung von Wut, Trauer, Begierde und Leidenschaft, Hass, Freude, Glück, Hoffnung und Höllenqual, obwohl vom Ich selten die Rede ist. Alles Empfinden steckt in den Dingen und ihren Bewegungen. Melodiöse Rhythmen unterwandert dieser VerDichter mit Rissen und Peitschenhieben. Weigoni bleibt einer Genauigkeit verpflichtet, in deren Namen er den Worten ihre Tiefenschichten abhorcht und den Zuständen der Welt ihre dialektische Wahrheit. Dieses Freigelassene, Strömende entsteht durch Präzision, Klarheit und Konzentration. Die Gedichte dieses Bandes oszillieren zwischen dem lyrischen Protestgedicht und dem politischen Liebesgedicht. Das Gefühl, in einer Epoche der Zerstörung der Welt zu leben, ist in vielen Gedichten Weigonis zu spüren. Was zuweilen erschrickt ist die Kühle, mit der seine Lyrik den Untergang als eine Selbstverständlichkeit zitieren. Sprache wird Trägerin vielschichtiger Bedeutungen, Sprache als Klang, die Stimme als Mittlerin und körperliches Instrument. Diese Gedichte sollen daran erinnern, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmaß, Litanei und Mythos. Sich darauf einzulassen, bedeutet, für vielerlei Überraschungen offen zu sein.

Der Mittelteil der Trilogie – Die Dezentrierung des Ichs

Als Worte wie aus Seidenkokons entbunden, sind die rigorosen Gedanken, Sentenzen und Illuminationen dieses Poesie-Schamanen das Zündholz für sein dichterlohes Hörspiel.

Francisca Ricinski

Der Modebegriff Identität ist nirgends so gründlich hinterfragt worden wie in diesen Gedichten. Seit Arno Schmidt hat niemand das Konstrukt des Ichs derart mitleidslos beobachtet. Weigoni hinterfragt sowohl den Status des Ichs als auch den seiner Erkenntnis:

Kann das lyrische Ich als eine konsistente Instanz vorgestellt werden, und wie konsistent ist die Erkenntnis, die es liefert?

Die Debatte um Determinismus und Willensfreiheit stellt einen zentralen Themenstrang der Dichtung dar und die Frage danach, was das menschliche Handeln bestimmt. Der Traum von der Unmittelbarkeit der Lyrik ist seit langem ausgeträumt. Das lyrische Ich kann sich am besten dadurch qualifizieren, daß es seine Beziehung zu einem Ich aus Fleisch und Blut abbricht. Dies ist eine radikale Absage an den Glauben des 18. Jahrhunderts, Gedichte seien Ausdruck des Gefühls, sie enthielten Nachrichten des Verfassers in Versform. Die Gedichte Weigonis widerlegen diese Anforderung, sie sind nicht dem Ich, sondern der Welt zugewandt. Dieser VerDichter präferiert die Idee des Zeitenspringers, die Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen. Die Sprache ist nicht nur ein Privileg, sie ist auch eine Grenze des Menschen. Die prinzipielle Offenheit des sprachlich artikulierbaren Sinns hat erfahrbar nicht nur den Charakter der Überfülle, der Weite und Transzendenz, sie macht sich auch als Mangel bemerkbar, als Entgleiten des Sinns oder als Ausbleiben eines sinnvollen Abschlusses. So entstehen Gedichte als transistorische Momente, blitzartige images und Augenblicksbilder der Erfahrung.

Keine einzige Silbe möchte man den Versen hinzufügen oder wegnehmen; so wie es ist, passt es. Das findet man in dieser Vollkommenheit nicht häufig.

Maximilian Zander

Wer sich in die Gänge von Weigonis poetischem Labyrinth wagt, den erwartet ein unvergleichliches intellektuelles Vergnügen. Die unbändige Freiheit aufmüpfiger Fantasie, das prinzipiell Respektlose seiner Haltung, daß virtuos Verspielte dieser Artistenprosa – all das bedeutet einen Protest gegen die herrschenden Verhältnisse: Sprachkritik offenbart sich als Machtkritik. Wie ein Arzt einen Brustkorb, so klopft Weigoni die Worte auf ihren Ideologiecharakter ab, lenkt den Blick in die existenziellen Tiefen der condition humaine. Er arbeitet, wie es John Cage nannte, an der Entmilitarisierung der Sprache, ist dabei ein Chronist der Zerstörung und in diesem Prozess gleichzeitig ein Bewahrer des Zerstörten in der Schrift. Die Sprache muss dann die Wahrheit ausspucken, ob sie will oder nicht.

Weigonis Verse kann man beim Lesen gegen das Licht halten, damit das Wasserzeichen der Poesie zum Vorschein kommt.

jetzt.sueddeutsche.de

Weigoni versucht in seinem Schreiben, die Fülle der Möglichkeiten im Hier und Jetzt zu erschließen. Er bricht den vertrauten Gebrauch der Worte auf und richtet die Hierarchien neu aus. In diesen Gedichten läßt Weigoni das klassische Reimschema um Lichtjahre hinter sich und öffnet die Kategorien des Erkennens für den Mythos und die Eigentümlichkeiten der Sprache, die für ihn niemals ein bloßes Vehikel des Gedanken ist. Er zeigt, daß die Erkenntnis ausdrucksgebunden ist, und begründet, wie der Sinn immer an das sinnliche Zeichen geknüpft sein muss – und umgekehrt, wie das Zeichen eine sinnhafte Prägung ist. So entwickelt er eine Zeichentheorie, in der das Erkennen nicht mehr rein abstrakten Mustern folgt, sondern von kulturellen Formen abhängig ist. Syntax und Interpunktion zerlegen die schwindenden Zeilen in Sinn- und Atemeinheiten ohne Haltepunkte. Dadurch entsteht eine Vertikalspannung der Verse. Das Sprachmaterial, mit dem er Umgang pflegt, dringt selbstverständlich durch die Membran, wobei die Transformationsprozesse, denen er es gleichzeitig unterzieht, besonders intensiv sind. Das feine Ohr des Dichters entdeckt in der Lautgestalt der Wörter weiterreichende Beziehungen, die in raffinierten Zeilenumbrüchen offengelegt werden. Seine Lyrik lebt vom Paradox der raumschaffenden Verdichtung, nicht als Formspiel, sondern als formsprengende Lust an der Sprache. Es geht ihm in der Poesie primär um eine Haltung, die Haltung des Dichters und die der Wörter.

Hier ist ein Laut– und Klangmaler am Werk, oft auch ein Sprachakrobat… ein so musikalisch wie konkreter Poet zwischen Ernst Jandl und Mauricio Kagel.

Wend Kässens, NDR

Die so genannten Neuen Medien sind ein genuiner Resonanzboden. Auch Weigoni weiß um die negative Qualifikation, die eintritt, wenn einer fähig ist, in Unerklärlichkeiten zu sein, in Zweifeln, ohne das ärgerliche Ausstrecken nach Faktum und Vernunft. Er geht das subtile Bündnis von Wort und Ton ein und erweist sich als VerDichter, der die Sprache im Körper verankert und sich vehement dagegen verwahrt, daß man seine lyrischen Konzentrate im Verstehensprozess wieder verdünnen muss. Hier ist Texterschließung im höchsten Sinne des Wortes gefordert. Diese Lyrik ist Sprache, die sich nichts vorschreiben läßt. In seiner permanenten Bewegung des Ausweichens zeigt Weigoni Haltung gegen die Vereinnahmung des Poeten als intellektuellem Kommentator des eigenen oder eines fremden Werks, gar des Zeitgeschehens. Er sieht den Schriftsteller mitten im Geschehen, wo es keinen privilegierten Beobachterstandort, sondern nur situative Auskunft gibt. Mainstream im herkömmlichen Sinn war Weigoni nie, aber in seiner abgelegenen Furche ist er gefragt und immer wieder gehört worden.

Schlusspunkt der Trilogie – Rückstände des Mündungsfeuers

Zähes Schreiben nährt den Geist. A.J. Weigoni belohnt seine Leser mit Erkenntnisgewinn.

Mischa Kuball

Original-Holzschnitt direkt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Es ist kein Zufall, das Schmauchspuren (sowie das lyrische Gesamtwerk) bei der Edition Das Labor erschienen ist, denn die Konzentration im Verlagswesen und im Buchhandel schreitet im Internetzeitalter rasant voran. Literatur ist eine Ware mit besonderer Aura. Über ihre Vermarktungsstrategien streitet man sich bereits, seit Gutenbergs Erfindung des Bleisatzes. Gut gefüllte Bücherregale bieten kaum noch Prestige, verständiges Lesen nimmt ab und digitale Lektüren bauen das Gehirn um. Der Markt für literarisch anspruchsvolle Innovationen und Entdeckungen hat sich dramatisch ausgedünnt, die Neugier auf die zu lesende Kunst hat in einem beängstigenden Maß nachgelassen. Pop, Glamour und Spaßkultur haben vor das Ernstere geschoben. Zerstreuung, Abenteuer, Fantasy, Selbsterfahrung, Internet verbauen den Blick auf das Wesentliche, das wir benötigen, wenn viele dieser Phänomene ihre Anziehungskraft verloren haben. Buchhändler verlangen Werbekostenzuschüsse, damit Bücher überhaupt in der Auslage präsentiert werden, die Presse ist immer stärker von den Anzeigen der Großverlage abhängig, deren Bücher sich immer ähnlicher werden und die Literaturkritik ist auf den Hund gekommen. Umgeschriebene Waschzettel beleidigen den Lesern genauso redaktionelle Inhalte, die an Anzeigen geknüpft sind. Diesem publizistischen Schneepflug entkommt keiner. Warum solche Bücher wie die von Joanne Rowling, Henning Mankell oder Stephen King zum Bestseller werden, mag leicht zu erklären sein. Originalität jedenfalls spielt keine Rolle. Das Unfertige, Fragmentarische, Geschwätzige hat längst die Alleinherrschaft übernommen. Weigonis Lyrik stellt sich bewusst gegen die Allmacht der Verwertungskette, er positioniert seine Kunst offensiv gegen das ökonomische Prinzip. Mit seiner dichten, häufig rätselhaften Lyrik erweist er sich als luzider Diagnostiker der kulturellen Umbrüche und politischen Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Ein Meisterwerk benötigt absolute Konzentration, und die ist in auseinanderschwirrender Zeit schwer zu gewinnen. In den Schmauchspuren überwindet Weigoni die letzten Grenzen des Gedichts, Perfektion wird von diesem VerDichter kaum mehr angestrebt, geschweige denn erreicht. Schon um ihrer Seltenheit willen sollte man sie höher schätzen.

Notate fürs Auge, adressiert ans Ohr.  So schreibt kein anderer im deutschen Sprachraum.

Theo Breuer

Dostojewski behauptete, der Kummer schaffe die Poesie. Kunst ist die heilige Frucht des Leids. Dieses Leid zu ertragen, ist die Pflicht des Künstlers. Der Literaturbetrieb konfiguriert sich neu. Die Haltung von Literaturbürokraten vereint all jene Eigenschaften, die den Kulturbetrieb zur Folterkammer machen: Gefühlskälte, aufgesetzte Bedeutung, routiniertes Handwerk, gnadenlose Selbstbezüglichkeit. Es wird nichts erzählt, was man nicht schon lange und besser weiß und kennt. Es wird zu viel Vermeidungsfiktion geschrieben. Über die schmerzlichen Wunder unserer Existenz erfährt man bei Holger Benkel, Peter Meilchen, oder A.J. Weigoni ungleich mehr als beim Eintauchen in die mürbe Welt eines Wilhelm Genazino, Botho Strauss oder Martin Walser, von all den jungen bis mittelalten Autoren und Autorinnen ganz zu schweigen, deren Helden sämtlich Jonas oder Anna heißen und in Prenzlberger Cafés ihre Zeit absitzen. Das dieser Szene über den Berghain hinaus eine Bedeutung zugeschrieben wird, ist ein tragischer Fall von germanistischer Inkontinenz.

Das Subjekt empfängt seinen Raum zum Atmen von der Gnade dessen […], wogegen es rebelliert.

Theodor W. Adorno

Die Gestalt die Schmauchspuren ist hochartifiziell. Die scheinbar freie Form beugt sich anderen Gesetzen. Der assoziative Schein der Gedichte trügt und düpiert den Leser, denn alles bei Weigoni ist durchdacht und konstruiert. Sichtbar wird eine Schichtentechnik, die in die Tiefen des Textes führt und die Reflexionen des VerDichter zu dekodieren hilft. Zwischen den Zeilen liegt das Mitbedachte, das in Spuren  zeigt, was mitgedacht und mitgewusst wird, es spricht dann beim Lesen mit, man liest anders, wenn man es bedenkt und von den verborgenen Schichten seine stillen Kenntnisse hat. Man muß abstrakt denken, um in die Seele hineinhorchen zu können. Weigoni ist ein Extremist der lyrischen Gedankenexperimente. Hier lernt man, was es heisst, sich auf der philosophischen Probebühne des Lebens zu bewegen. Diese Poesie ist etwas, das als Flaschenpost bewahrt und verbreitet werden kann; sie ist kein Text, nicht einmal eine Einsicht. Die Eindringlichkeit dieser Gedichte verdankt sich all dem Ungesagten, das zwischen den Worten und den Zeilen lagert. Poesie ist die Anstrengung durch die wir Leser in immer wechselnden Auseinandersetzungen nicht nur mit der Welt, sondern auch mit anderen Realitäten, durch die wir die Welt wahrnehmen, uns Bilder der Lage verschaffen.

Wie immer höchste Komplexität, die ich an A.J. Weigoni schätze, weil sie eine Art bewegte Bewegerin ist.

Wer erzählt? – Vielleicht im Sinne von Mallarmé: Der Autor ist ein Element des Weltbuches, das ihn schreibt.

Wer verarbeitet? (Hindurchgang) – In diesem Sinne ist der Leser passage au passant u n d zugleich Medium des Werkes.

Wem gehört eine Geschichte? – Die Geschichte bleibt ein immaterielles Angebot und ist deshalb potenzielles “PräsenzGut” Aller.

Angelika Janz

Mit dieser ´Todeslitanei` versucht sich Weigoni dem Tod zu widersetzen und seine Macht zu brechen. Den Titel Schauchspuren sollte man in Stein meisselen, denn dieses Buch ist ein Grabstein, es zu lesen bedeutet, einen Friedhof abzuschreiten. Diese Lyrik ist ein Totenlied, angestimmt um die Vergänglichkeit der Zeit, der Menschen, der Liebe und den Untergang der westlichen Kultur zu besingen. Es sind nicht immer die Motive, das „Lebenszittern“ (wie Thomas Mann dies einst nannte). Seine Buchstabentreue ist das wirksamste Antitoxin gegen eine lyrische Versimpelung. Gedichte werden zu einem Erkenntnisinstrument. Es ist der Klang der Worte, die Musik ihres Rhythmus; ein kleines Wunder allemal, da das “Material” ja knapp ist, 26 Buchstaben zählt das deutsche Alphabet (oder 29, siehe oben) – und die zu immer neuen Fugen, Fügungen zu komponieren. So entfaltet sich ein thema­tisches Instru­mentarium, das für Weigonis Dichtung konstitutiv ist, die Begegnung mit Kunst und Künstlerischem, mit geographischen und historischen Räumen, die voneinander entfernt erscheinen, aber in seiner Poesie auf eine unverwechselbare Weise einander angenähert werden, nie werden diese dispa­raten Vorfindlichkeiten jedoch willkürlich arrangiert. Vielmehr ist es das dieser Dich­tung zugrundelie­gende Prinzip der Begegnung, des Austauschs, des Miteinanders, an dem dieser Poeta ludens beharrlich festhält und die vermeintlichen Gegensätz­lichkeiten höchst unterschiedlicher Wirklich­keits­räume zum Verschwinden bringt.

Photo: Thomas Suder von A.J. Weigoni beim Gelingen eines Sprechakts

Performanz

Die Stimme ist gleichsam der Fingerabdruck von Weigonis Persönlichkeit.

Regine Müller

Dieser VerDichter hat ein poetisches Referenzsystem dafür geschaffen, wie Sprache im Akt des Sprechens ihren Sinn verändern und zu einer ebenso komischen wie tragischen Verkettung von Verständnissen führen kann. Damit befindet er sich auf der Höhe moderner Kommunikationstheorien mit der grandiosen Überlegenheit, sie nicht nur behauptet, sondern literarisch dargestellt zu haben. Weigoni hat Poesie strikt als Kunst begriffen, man kann das l’art pour l’art nennen, muss sich aber bewußt sein, daß er an eine Tradition anschloß, in der Kunst als Äusserung des freien Geistes verstanden wird, frei eben auch von gesellschaftlichem Nutzen und Auftrag, frei von der Pflicht zur Kommunikation eines Inhalts. Die Komprimiertheit der Weigoni’schen Gedichte lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf deren Machart, auf die Sprache oder auf die leeren Zwischenräume der Zeilen, darin kann man die rhythmischen Qualitäten dieser Poesie entdecken. In Schmauchspuren läßt sich lesen, was Dichtung letztlich ausmacht: präzise Intuition und analogisches Denken. Um in die tieferen Schichten dieser Poesie vordringen zu können, sind Ruhe und geduldiges Lesen erforderlich.

A. J. Weigoni´s “Sound” besticht durch rhythmische Sicherheit, während seine formale Arbeit sich durch Eigenständigkeit und eine Verweigerung klassisch-seichter Erzählhaltungen auszeichnet. Einen philosophischen Unterbau bietet seine gesellschaftskritische Haltung, die… den Blick auf die Zukunft gerichtet hält.

Sophie Reyer

Walter Benjamin hat festgestellt, daß der politische Wert eines literarischen Werks dessen literarischer Wert ist – und das gilt erst recht für die Literatur des 21. Jahrhundert. Weigonis Einsatz berücksichtigt auch soziale und politische Werte, denn es kann keine ästhetische Recherche ohne Ethik geben. Bewusst bezeichnet Weigoni diese Lyrik als VerDichtungen. Seiner Vorstellung nach ist jedoch ein literarischer Text nicht bloß ein System oder eine Struktur, sondern von seiner Umgebung und einem historischen oder zeitgenössischen Kontext abhängig, welcher der Erschaffung jedes Textes voraus geht. Außerdem wird der Text von einem Adressaten geteilt – zum Beispiel einer Person oder einer sozialen Gruppe – der die Bedeutung dieses Textes teilt und bereichert. Jeder Text ist als Mosaik von Zitaten aufgebaut, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. Diese Texte entstehen nicht aus dem Nichts heraus, sie spiegeln den Einfluss all dessen wider, was der Lyriker gelesen hat und was den ihn umgebenden Diskurs bestimmt. In jedem Fall ist Weigonis Werk in eine linguistische Umgebung eingebettet. Es empfiehlt sich eine Demut gegenüber dem Bedeutungssystem und den Verweisungszusammenhängen und den Rhythmen in Weigonis Gedichten. Ein sicheres Spre­chen ist längst kein abge­sicher­tes. Deut­lich ist spürbar, daß sich hier fragile dichte­rische Existenz sprachlich konstituiert. Sprach­liche Sicher­heit, nicht abge­sichertes Spre­chen! Das wird von den Germanisten gern ver­wechselt, aber letzteres wäre es nur, wo dieses Sprechen eine herrschende Lebensform affirmierte.

Poème en prose: Langedichte und Zyklen

Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte. Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre. Dieses “Nachtstück” besticht nicht nur durch seine souveräne sprachliche Meisterschaft, sondern auch durch eine gedankliche Tiefe, die dichterisch facettenreich ausgelotet wird.

Axel Kutsch

Original-Holzschnitt direkt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Es gehört zu den Auffälligkeiten dieser Langgedichte und Zyklen, daß Weigoni die Sprachräume, die er ausschreitet, bevor er sie manchmal in geradezu schwindelerregende Höhen treibt. Nach dem Sturz ins Abgründige werden akribisch Bodenproben genommen, werden Bedeutungsablagerungen untersucht, wird genau analysiert, was da als Bodensatz vorhanden ist. In dieser Lyrik verdichten sich Zeit- und Raumdimensionen; Realität und Traum verschränken sich, die Laut- und Klangbilder werden an ihre Ursprünge zurückgeführt, bis ein archaischer Rhythmus zu vernehmen ist. Seine Fähigkeit besteht darin, allein aus Haltungen und Gesten zu erkennen, was den Menschen widerfahren ist. Er baut seinen Stoff aus Beobachtungen. Diese Monodramen sind Promusikalisch, der Text klingt nicht von selbst, er bietet dem Komponisten genügend schöpferische Lücken bieten müsse. Weigoni zeigt sich hier als Meister der Andeutung, des sparsamen und klugen Einsatzes von Worten. Als Flaneur lockt Weigoni den Hörer in Fallen und Verstecke quer durch die Weltliteratur, durch die er sich, bildungssatt und erkenntnishungrig, als Cicerone bewegt, um auf immer wieder überraschende Weise Arglist und Täuschung zum Arsenal der Kunst auszurufen.

Seit Jahren beobachte ich die bemerkenswerte Entwicklung des Multimediakünstlers A.J. Weigoni. Zu seinen besonderen Kennzeichen gehört die Wachheit für die Entwicklung zeitgenössischer Kommunikationstechnologie, deren Nutzung und der spielerisch-experimentelle Umgang mit allen erdenklichen Ausdrucks- und Kommunikations- und Vertriebsformen. Er akzeptiert keine vorgegebenen Kategorien medialer Produktionen, sondern sprengt unbekümmert deren Grenzen.

Prof. Almuth Keusen–Hickl

In hochkonzentrierter Form macht das Monodram Señora Nada etwas, was nur die Literatur kann, aber auch sie nur sehr selten: Es macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte. Doch wenn sie wie hier verwandelt erscheinen, verdichtet, in jedem Wortsinn, zu Literatur, werden sie, wenn schon nicht erträglich, so doch erlebbar in einer Mischung aus Grauen und ästhetischem Genuß. Dieses Monodram handelt von der Konstitution einer Gegenwirklichkeit der psychischen Prozesse. Was scheinbar geschieht, ist nur die Oberfläche eines ganz anderen Abenteuers. Dem Titel liegt die Auffassung zugrunde, daß sich jeder Mensch in seinem Bewußtsein eine Welt nach seinem Maß erschafft – ein Vorgang, den das Werk gleichsam in der Schrift wiederholt. Die erzählerischen Strukturen des Monodrams geraten ins Wackeln, die semantischen und morphologischen Valeurs der Wörter rücken ins Zentrum. Die entfesselte Sprachalchemie triumphiert über den Traditionalismus. Die Redensarten haben versagt, so bleibt nur der Weg in die innere Demontage und Sprengung aller konditionierten Sprechhaltungen: heraus aus den Festlegungen, hinein in die Polysemie, das turbulente Spiel der Mehrdeutigkeiten. Seine Poesie ist kein Prozeß, in dem man eine Erkenntnis verschlüsselt oder treffender formuliert, sondern eine Sphäre menschlichen Tuns, die so autonom ist wie die Musik, die bildende Kunst, der Tanz. Will man beschreiben, warum diese lyrischen Monodramen eine so betörende Wirkung entfalten, könnte man sagen: Da ist ein Klang von Stille.

Weigoni und  Täger spüren der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach.

Dr. Christiane Schlüter, Buecher-Wiki

Zwischen die großen Blöcke seiner Monodramen sind unterschiedliche Zyklen, die sich sprachlich auf den konkreten Ort, bzw. das gesetzte Thema einlassen. Sie sind intellektuell, konzentriert, aber auch witzig und ironisch. Die Erprobung neuer Sprach- und Spielformen und Verfremdungen besteht in einem poetischen De-Konstruktivismus. Die Sprach- und Lautverschiebungen werden zu Verschiebungen der Bedeutungsebenen, alles ist dynamisch, alles ist im Fluß, nichts steht still. Diese Gedichte wollen gesprochen werden, die haben einen Resonanzkörper, der mit einer Stimme zum Klingen gebracht werden soll. Hier zeigt sich, wie sich Weigoni zwischen Musik, akustischer und bildender Kunst bewegt, unterstützt von Künstlern wie Anna Jacquemard, Haimo Hieronymus und Peter Meilchen oder auch Komponisten wie Frank Michaelis und Tom Täger. Im Bermuda-Dreieck zwischen Arnsberg, Düsseldorf und Bad Mülheim entstand jene ästhetische Kreativität und schöpferische Irrationa­lität in Bild, Wort und Ton. Man liest diese Mikrozyklen auch so, als würde man einer geistreichen Konversation unter alten Weggefährten lauschen, die sich nichts mehr beweisen müssen und nur daran interessiert sind, einander neue Einsichten mitzuteilen. Die größte Wirkung erreicht Weigoni, wenn er Leerstellen und Verschwiegenes einfügt, die das offene Geheimnis preisgeben, und das Verschwiegene ist höchst beredt, diese Zyklen murmeln vor sich hin, deutlich und hörbar für die Leser. Man sollte sie lesen und hören zugleich.

A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.

Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century

Tom Täger, Hörspielkomponist aus „Bad“ Mülheim

Einst nannte man sie „Heimatvertriebene“, in der Sprache der Gutmenschen nennt man den Sachverhalt: Migration. Folgt man den Gedanken Weigonis, ist die Hörspielfassung von Unbehaust ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben als Held. Jo Chang, die Heldin, mißtraut diesem Traum. Sie führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Das Leben bietet andere Realitäten. Und mehr noch, eine partielle interkulturelle Andersartigkeit. Das Formganze dieses Monodrams wird nicht durch metronomgenaues Durchschlagen der Poesie von außen übergestülpt, sondern entwickelt sich bruchhaft und widerspruchsvoll gerade aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile. Kongenial begleitet durch den Komponisten Tom Täger, der für seine Komposition ausschließlich Papiergeräusche verwendet hat. Es geht um das  Entkolonisieren der Zeit, das Ausbrechen aus der westlich geprägten Hegemonie der Linearität. Diese Musik verzichtet auf das in europäischer Musiktradition typische Metrum, den Taktschlag, nicht aber auf einen Puls, dieser bildet den Ausgangspunkt für die Klangerforschung. Dieser Klang hat einen psychotropen Effekt, er öffnet ein neues Fenster im Wahrnehmungssystem.

Poesie ist eine alchemistische Kunst.

Holger Benkel

Das Hörspiel ist gleichsam ein Wassertropfen, in dem sich die Welt spiegelt. Erfahrung einatmen, Poesie ausatmen. Der Autor erhebt Satzschachtelungen, Paraphrasen und fragmentarische Wiederholungen zur Kunstform. Die Schauspielerin Bibiana Heimes erzeugt einen geradezu körperlichen Rhythmus von Umkreisen, von Innehalten und Weiterspinnen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Stenografische Spontaneität und szenografisches Geschick sind in diesem Stück kein  Widerspruch.

Andrascz Jaromir Weigoni stellt mit einen Hörspiel unser Zeitempfinden und unsere Vorstellung von Identität auf die Probe. Der vielfach ausgezeichnete ungarisch-deutsche Schriftsteller und  Medienpädagoge Weigoni schafft mit seinem Text, Papiergeräuschen und der Stimme von Bibiana Heimes  eine Atmosphäre, die uns einem Gedanken ganz schnell auf den Pelz rücken lässt: wir sind alle Gefangene unserer selbst.

Buchpiloten, Radio Bremen

Bibiana Heimes, Sprecherin der Yo Chang in Unbehaust

Dieses Langgedicht schraubt sich wie Tunnelbohrer durch zeitgenössische Erfahrungsräume. Ob dieses Monodram etwas bedeuten soll, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie sich ereignet. Diese Lyrik ist ein Sprachgeschehen, das die Leser synchron miterleben können, vorausgesetzt, er ist bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Es ist ein intellektuelles Vergnügen sich an dem eigenwilligen Umgang mit literarischen Formen und Tonarten zu erfreuen. Weigoni liefert in seinem Monodram ein subtiles Kammerspiel eines inneren Monologs. Die Schauspielerin Bibiana Heimes ist Silbe für Silbe auf der Suche nach dem Kern und sieht darin eine Metapher zu den Bekleidungen der eigenen Identität. Sie gestaltet feine Zäsuren im Redefluss mit einer freien, reinen Gelenkigkeit als Sprecherin, eine locker schraffierte Haltungen, überhaupt das Skizzenhafte, die hingehauchte, nie vollends auserklärte Figur. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Ihre Verwandtschaft beziehen die Künstler aus ihrem Arbeitsmaterial – dem Papier. Eindrucksvoll klingt so auch das Hörbuch auf CD. Getragen wird die Lesung des “Unbehaust” von einer sanften Melodie aus ständigem Papierknirschen und Papierknüllen.

Westfalenpost

Publikumsüberforderung ist im Zweifel erheblich besser als jedes Wohlfühlangebot. Deutungsmöglichkeiten sind grundsätzlich vielseitig, so vielfältig man diese Langgedichte interpretieren kann und intertextuellen Bezügen nachgeht, mit jedem Aspekt verdichten und vervielschichtigen sich diese Monodramen und Zyklen. Das Enzyklopädische des Dichtens hat Weigoni auf eigene Weise neu interpretiert. Es geht in Unbehaust um Kommunikation, deren Irrwege, Modulationen und Verschiebungen, es geht um Projektionen und Täuschungen, eine Verfehlungsgeschichte in Form eines Monodrams. Eine Brechung überkommener Sichtweisen erreicht der Autor auch dadurch, daß er auf außerliterarische Formen wie etwa den Film rekurriert. Seine Langgedichte haben eine Beweglichkeit, die von den Lesenden und dem Hörenden eine große Aufmerksamkeit verlangt. Sie bleiben nicht bei dem ersten Eindruck, den sie vermitteln, stehen, sie drehen und wenden sich und scheinen darauf zu vertrauen, daß das Lesen diese Denkbewegungen mitmacht. So vielschichtig diese Monodramen und Zyklen sind, am Schluß empfindet man ein Gefühl von zufriedener Erschöpfung. Der erste Schritt zur Herausgabe des lyrischen Werks war getan, dieser Band bildete dazu die Portalfigur.

Vom VerDichter zum Sprechsteller

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

lyrikwelt.de

Das in der Edition Das Labor erschienene HörBuch Gedichte faßt die langjährige Studioarbeit von Tom Täger und A.J. Weigoni einerseits zusammen, gibt aber auch einen Ausblick auf das nächste Buch. Die am 18. Januar 2015 erschienenen Schmauchspuren sind ein erneuter Beweis der sich immer noch steigernden Gedankenschärfe und Ausdruckskraft dieses Poeten. Verstehen bedeutet: lesen! Und darauf hören, was auch noch mitschwingt in jedem Wort. Diese Poesie hat etwas Körperliches, man sieht es daran wie das Wort als Lautabfolge von Zunge und Lippen geformt wird und seinerseits das Gesicht dessen zeichnet, der es artikuliert. Worte haben bei Weigoni physiologische und physiognomische Qualität. Auf diesem Hörbuch vernimmt man der Rezitator als Klangkörper; in der Rezitation durch den Sprechsteller werden die Gedichte lebendig, das Hörbuch Gedichte vermitteln die physische Eigenart dieser Lyrik, ihre Sprachgewalt, ihren verschmitzten Witz. Es zeigt sich hier sogar mehr als ein Gesamtwerk, eher die zeitgemässe Variation des Gesamtkunstwerks, weil hier bildende Kunst, darstellende Kunst, Tonkunst und Literatur sinnfällig zusammenwirken. Und es zeigt sich auch, daß Kunst nicht die Sache eines Einzelnen ist, sondern in einer Intaraktion mit Schauspielern, Komponisten und eben dem Autor geschieht.

Photo: Leonard Billecke

Das ist natürlich schon eine starke Pose, mit der Andrascz Jaromir Weigoni auf dem Cover seiner von der Kunststiftung NRW geförderten vierteiligen CD-Edition mit Gedichten zu sehen ist: Langes wallendes Haar, konzentrierter Blick, die Falten treten deutlich hervor und die Finger sind wie beim Rezitieren kelchförmig geformt, als wollte er etwas Wichtiges auf den Punkt bringen. Nur das kurzärmlige Hemd im gedeckten Ton wirkt etwas neuzeitlich. Es erinnert, und da sind auch die Initialen, an Albrecht Dürer, mit der Jahreszahl 1500.

Steffen Tos (NRZ)

Die Gedichte dieses Sprechstellers sind konzentrierte Miniaturen, seine verdichtete Sprache bildet ein System, das sich aus dem Leben bezieht und in dieses zurückwirkt. Es ergibt sich ein Pirandellisches Spiel mit der Mehrdeutigkeit. Dieser Poeta ludens ist ein Entdecker der Poesie unbesetzter Räume und der lyrischen Langsamkeit. Er ist ein Lautschöpfer und Sprachbastler, er bringt die Buchstaben in eine neue Un-Ordnung und die Bedeutungen zum Schwirren. Seine Rezitation entspricht exakt dem scharf sezierenden Blick seiner Gedichte, der lakonisch und bisweilen sarkastisch das Material durchdringt. Seine sparsamen Betonungen werfen Schlaglichter auf bisweilen überraschende Details oder heben die zyklische Struktur der Gedichte hervor. Seine Spreche ist angemessen, weil sie behutsam und leise ist, und weil sie sich in konzentrierter Strenge ganz durchlässig macht für das, was sie an poetischer Spürbarkeit im Intérieur, in den Fugen der Welt entdeckt.

Mehr als 20 CDs mit Hörstücken und Hörspielen entstanden bis heute, erst in den letzten Jahren widmete sich A. J. Weigoni wieder stärker dem Buch. Als roter Faden zieht sich aber durch alles das Wortspiel, die kreative Auseinandersetzung mit der Sprache. Mit Witz und Esprit erforscht er neue Nischen und Unterschlupfe.

Dr. Enno Stahl, Heinrich Heine Institut

A.J. Weigoni & Frank Michaelis

Wie Blaise Pascal sieht dieser Lyriker das menschliche Leben als kurzes Aufscheinen zwischen dunklen, leeren Ewigkeiten. Diese Gedichte leben aus dieser Spannung: der Gewissheit des Todes als schwarzem Hintergrund und der fast grell beleuchteten Gegenwart des 21. Jahrhundert im Vordergrund. Diese Sinnlichkeit und Gegenwärtigkeit übersieht, wer Weigonis Gedichte als bloße Gedankenlyrik mißversteht. Die Schmauchspuren sind als fein durchkomponiertes Werk zu lesen, das qua Metapher und Synästhesie die eigene Vorstellungskraft anregt.

Ganz im Gegensatz zu den anderen “experimentellen” CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.

Dr. Dieter Scherr, Literaturhaus Wien

Dichtung ist Übertragung des Eros auf die Sprache. Auf diesen Hörbuch mischen sich Körperrede und Klangrede, die orale mit der gutembergeschen Tradition, geschriebenes Sprechen verwandelt sich in gesprochenes Papier, die Rhythmik der Konsonanten in eine genuine Sprachmusik und so fort. Diese präzise Feinarbeit am Sprachkörper zeigt den Wechselbezug zwischen Oralität und Schriftlichkeit auf. In diesen Gedichten bezeugen Wort- und Klangästhetik das geistige Prinzip. Bei seinen Rede- und Suchgedichten konzentriert sich Weigoni seit der Letternmusik beim Rezitieren auf die nackte Stimme. Die stimmliche, sprechtechnische sowie akrobatische Virtuosität, mit der er zu Werke geht, erzeugt gleichsam ein Textkonzert, die Partitur ist Sprache. Tom Täger stellt sie auch bei dieser Aufnahme im Tonstudio an der Ruhr in den Vordergrund. Gleichzeitig löst sich die Sprache in den Gedichten in ihre Einzelheiten auf. Dieser Sprechsteller hat beim Schreiben das Hören im Blick und beim Sprechen das Auge im Ohr. Dieses Hörbuch nicht nur eine sinnfällige eine Ergänzung zum Geschriebenen es ist eine wohltönende Verlockung zur Lektüre.

Durch Performances, Lesungen und Vertonungen löst A.J. Weigoni seine Stücke aus der Abhängigkeit der Schrift und macht sie in einer weiteren Dimension sinnlich erfahrbar, betont ihre rhythmischen, melodischen, klanglichen Qualitäten.

Juliane Rogge

Manuel Quero, Tänzer / Choreograph

Dem Schuber liegt als Erweiterung für Sammler auch Tägers Komposition An der Neige bei, sie ist nicht bloße Begleitung, sondern strukturierend und dispositiv – ebenso gewichtig wie die Sprecherstimme; seine Musik hat keinen illustrativen Charakter. Lyrik und Musik ergeben einen eigenen neuen Klangkörper. Die Klanglandschaften sind in der Komposition An der Neige abstrakt und trotzdem von eindringlicher Bildhaftigkeit. Was erklingt, ist gestaltet, hat Farbe, Rhythmus, Tonhöhe. Es geht um Soundorganisation um ihrer selbst willen, um Farbwerte von Klängen, um Pausenarchitektur und perkussive Strukturen. Man schaukelt sich in eine Trance hinein, in der allerdings, paradoxerweise, das Hören umso schärfer gestellt wird. Auch der Hungertuchpreisträger Manuel Quero steht für Aufbruch und Innovation. Statt das Publikum als Kunstabnehmer zu behandeln, lädt er zur Teilhabe an einem Experiment ein. Der Versuch, Tanz sprachlich darzustellen, ihn lautmalerisch zu verschriften, dient nicht nur dazu, der flüchtigen Bewegung Dauer zu verleihen. Die Notation, die Tanzschrift, basiert auf der Reflexion über Tanz, sie ist ein Mittel der Tanzanalyse und darin ein kreativer Entwurf des Tanzes, der nach bestimmten Prämissen notiert wird. Die Darstellung des Tanzes in der Schrift, der graphischen Präsentation, entwirft ihn quasi neu.

Vereint in aufmerksamer Versenkung

Das Papier stellt potentiell als Anschlussstelle bereit für Gedanken, Sprache, Schrift. Hinter der Vielzahl der Akteure und Ereignisse verbergen sich Strukturen, die sie hervorbringen, und die sich mit Pierre Bourdieu als ‘künstlerisches Kräftefeld’ bezeichnen lassen. Dieses spannt sich zwischen den Polen einer poetischen und einer klanglichen Aufzeichnungslogik auf und geht über in den Drang sich zu bewegen. Bei der Uraufführung  und dem Versuch, Tanz sprachlich darzustellen, ihn lautmalerisch zu verschriften, dient nicht nur dazu, der flüchtigen Bewegung Dauer zu verleihen. Die Notation, die Tanzschrift, basiert auf der Reflexion über Tanz, sie ist ein Mittel der Tanzanalyse und darin ein kreativer Entwurf des Tanzes, der nach bestimmten Prämissen notiert wird. Die Darstellung des Tanzes in der Schrift, der graphischen Präsentation, entwirft ihn quasi neu. Das Papier stellt potentiell als Anschlussstelle bereit für Gedanken, Sprache, Schrift. In der Werkstattgalerie Der Bogen gelang es dem Choreographen, die abstrakte Formensprache mit leidenschaftlicher Expressivität aufzuladen. Das Echo hallt nach, in der Reihe MetaPhon findet sich ein Nachklang zur Uraufführung ‘An der Neige’.

Als geformte Performance bezeichnete Thomas Kling das Hörbuch, hier trenne sich kurz und schmerzlos die Spreu vom Weizen. Deshalb solle den Mund halten, wer nicht ‘vorlesen’ kann, oder zu faul zum Üben ist.

Michael Opitz

Der VerDichter A.J. Weigoni ist ein Meister der Wortschöpfung, der es versteht, die Phraseologie des Alltags subversiv aufzuladen, auf eine Art, die sprachwitzig ist, ohne sich auf die Pointen draufzusetzen, und umso betörender, je tiefer er sich in die irrwitzigsten Gedankenspiele hineinschraubt. Seine Vokalkunst ist reinste Überzeugungskraft, er läßt die Distanz zwischen Sprache und Gedanken schrumpfen, daß die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubt, daß sich die Unterschiede zwischen Gattungen aufheben. Seine ruhige Stimme verleiht dem Text eine bitter nötige, beiläufige Eleganz. Man kann ein Kompositum wie Dichterloh als Polyphonie hören, eine Art Wortkonzert, ein auf– und abschwellender Klagegesang über den Verlust des Individuums. Es geht um Stimmen, ein Sprachspiel, das in ein Sprechspiel übergeht, ein Aus-Atmen, das zu einem Aus–Sprechen wird, das die Kulturgeschichte von Klang und Ton gleichsam mitatmet.

Auch wenn man dem Groove seiner Reziation nicht immer folgen kann, wenn man ein Netz auswirft, zieht man manchmal einen grossen Erkenntnisgewinn aus seinem Redefluss.

Pia Lund

Dieser Rezitator ist ein Lautschöpfer und Sprachbastler, er bringt die Buchstaben in eine neue Un-Ordnung und die Bedeutungen zum Schwirren. Stets aufs Neue jongliert er mit Lettern, Silben, Wörtern und Sätzen. Weigonis Lyrik erfordert assoziatives Lesen und Hören. Seine Stimmbildung hat Weigoni als reine Physik verstanden, da wurden Muskeln trainiert – seine Stimmbänder – und es ging ihm um Physiologie und Raumakustik; er vergleicht die solcherart geschulte Stimme mit dem Resonanzkörper eines Instruments. Diese stilisierte Alltagssprache macht den Unterschied zum privaten Sprechen, in den Gedankenimpulsen, die sich den Zuhörer über die Prosodie vermitteln, also über Rhythmus, Melodie oder Sprechgeschwindigkeit, es ist ein Gedanken verdichtendes, zielgerichtetes Sprechen in normaler Sprache. Weigoni stellt die Lyrik nicht mehr lautlich aus, um schönes Sprechen geht es ihm dabei nicht. Um Verständlichkeit schon.

Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.”

Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels

Als ein Höhepunkt des Hörbuchs ist sicherlich die Hörspiel-Produktion Señora Nada zu bezeichnen, in vielen Phasen ist es ein literarisches Halluzinogen. Am Anfang steht ein Ton, Geräusche wie von wispernder Brandung, ein Rauschen in ewiger Wiederkehr. Ein Styx scheint Wellen an den Strand zu schlagen. Sanft strandet der Fluss sein Wasser. Das letzte Wasser, der letzte Fluß. Es schält sich mit jeder Minute eine ehrfürchtige Hör-Spiegelung heraus. Sein Denken ist ein wagemutiges Suchen und Tasten nach immer neuen Perspektiven, das keine endgültigen Tatsachen präsentieren will, ein Nachdenken von Ton und Sprache; in diesem Monodram provozieren die Artisten mit einem ‘stream-of-consciousness’ durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround.

Lyrik sollte man hören. Sprechen und Hören von Lyrik erinnert daran, dass es hinter jeder Dichtung zuallererst eine Stimme gibt.

Edgar Selge

Ioona Rauschan, Regisseurin von Señora Nada

Interpreten aller Art sind auf der Suche nach dem Wesen des Menschen – Regisseure, Schauspieler, Instrumentalisten – sind re-kreative, also nachschaffende Künstler im Dienste der kreativ-schöpfenden Autoren und Komponisten. Das ist nicht weniger als die Conditio sine qua non der Kunst. Die Regieseurin Ioona Rauschan hat dies sinnfällig umgesetzt. Ihre Inszenierung ist in ihren Abläufen, Crescendi und Dynamikzyklen so präzise komponiert, daß man von einem Hörspiel sprechen muss, einer  Mundwerkoper. Gesprochene Sprache fungiert als Authentizitätsträger. In ihrer Inszenierung begleitet Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Er öffnet mit seinen rhythmischen und melodischen Ideen dem Hörspiel neue Horizonte, in denen die gedanklichen und emotionalen Impulse quasi ihre eigene Dramatik und Form zu definieren scheinen. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Dem Zuhörer verlangen sie in erster Linie ein gewisses Maß an Geduld ab, die aber auch oft belohnt wird, mit unvergleichlich atmosphärischen Sequenzen, die poetische Dichte und interpretatorische Offenheit auf geradezu beglückende Weise miteinander verbinden. Die Widersprüche der Señora Nada sind Ausdruck einer geistigen Unruhe, die sich mit der herrschenden Wahrheit nicht versöhnen will. Das Zuhören führt an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Dieses Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

Als ich dieses Hörbuch hörte, war ich schlichtweg begeistert. Bei Hörbüchern und Hörspielen wird oft der Begriff “Kunst” verwendet. Ich rede eher vom “Handwerk”. Als ich Gedichte von A.J. Weigoni lauschte, war für mich sofort klar: Das ist wirkliche Kunst! Dieser Mensch ist ein wahrer Wortakrobat, ein Liebhaber der Sprache, ein Kenner des Mediums. Weit weg vom Mainstream ist Gedichte von Weigoni für Liebhaber der “Sprachkunst” und für intellektuelle Unterhaltung DER Geheimtipp. Solch eine liebevolle Inszenierung hat eine Auszeichnung verdient, deswegen: ‘Beste Lesung’.

Simeon Hrissomallis, Begründung für den Hörspielpreis Ohrkanus

Lyrik als Klanggebilde wird oft vernachlässigt, weil das Schreiben eine lautlose Disziplin ist, eine, mit der man, um buchstäblich Gehör zu finden, sich immer erst ans Notenpult stellen und das Geschriebene mit erhobener Stimme vorlesen muß. Die Performance ist in der Literatur lediglich ein sekundärer Akt, es gibt ein anderes Medium, das deutlich direkter auf das Gehör zielt: das Hörbuch. Das plurimediale Potenzial der Schrift wird erst auf diesem Medium zur Gänze ausgeschöpft. Das Hörbuch Gedichte stellt die Gesamteinspielungen des Lyrikers vor, die zwischen 1995 – 2015 im Tonstudio an der Ruhr  in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Tom Täger entstanden sind.

Es muss mehr Schweigen in das Sprechen.

Ilse Aichinger

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen.

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 seine LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht erfunden) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Er erscheint im Nachgang fast logisch, daß diese Artisten sich über den Weg laufen mußten. Beide Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, beide haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, der Verbindung von Melodie und Experiment, der Offenheit und das In-der-Schwebe-Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen. Synthese und Synästhesie liegen offensichtlich nicht nur lautlich nah beieinander, die Erfindung der Aufnahmetechnik wird von ihnen als ein Moment der Befreiung gedeutet. Die Zuhörer werden Zeugen bei der alchemistischen Verwandlung von Gedanken in gesprochene Worte – also in Poesie.

Wer nicht hören kann, muß lesen; wer auch nicht lesen kann, muß… rückschließen.

HEL

Weigoni in Linz am Rhein

Poesie als Äusserung des freien Geistes. Weigoni ist ein Demiurg der Sprache aus Passion, seine Lyrik auf dem Hörbuch Gedichte ist gespickt mit starken Metaphern und drastischen Vergleichen, dieser barocke Überfluß an Sinneseindrücken verschlingen den Hörer von der ersten Sekunde an. So geht es einem mit diesem Hörbuch: Man will mit beiden Ohren tief hineinhören in dieses sinnliche Sprachgemisch. Das Hörbuch Gedichte umfaßt mit vier CDs eine Spieldauer von 270 Minuten, das mag in den Ohren derer, die “einfach nur genießen” wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß der Erkenntnis.

Der Akzent ist das Gesicht der gesprochenen Sprache.

Yoko Tawada

Dieses Hörbuch ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte, es belohnt intensives Zuhören. Gedichte zu verstehen heißt erst einmal, sie in sich zum Klingen zu bringen, dieses Verstehen beginnt mit dem Klang und führt dann zur Einsicht. Das Hörbuch Gedichte handelt von der Wirkmächtigkeit der Sprache und vom geheimen Pakt zwischen dem Sprechsteller und dem Zuhörer, es bleibt im sensorischem Speicher der Hörer, wenn nötig, für die nächsten 25 Jahre. Bei diesem VerDichter wird das Komplizierte evident bleiben. Mehr verlangt niemand von der Lyrik. A.J. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen, bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

 

 

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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim 2017

Der Schuber wurde handgefertigt von Olaf Grevels (Vorwerk Kartonagen) – Photo: Jesko Hagen

Die fünf Gedichtbände erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine handwerkliche Drucktechnik, er hat sie auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von A.J. Weigoni gestanzt hat. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind „Gebrauchsspuren“ geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover direkt nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken.

Alle Exemplare sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.

Weiterführend → Mehr zur handwerklichen Verfertigung auf vordenker. Eine Würdigung des Lyrik-Schubers von A.J. Weigoni durch Jo Weiß findet sich auf kultura-extra. Margeratha Schnarhelt ergründelt auf fixpoetry die sinnfällige Werkausgabe. Dennis Ulrich geht weg von einer hermeneutischen Interpretationsweise, hin zu einer dekonstruktivistischen, die das Verhältnis von Ästhetik und Rhetorik dieser Gedichte zu fassen vermag. Holger Benkel untersucht rettungsversuche der literatur im digitalen raum. Lesen Sie auch Jens Pacholskys Interview: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters. Einen Artikel über das akutische Œuvre,  mit den Hörspielbearbeitungen der Monodramen durch den Komponisten Tom Täger – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.

 

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst in in: MATRIX_45_3. KUNO dankt dem Herausgeber Traian Pop.