Von der Phänomenologie der Sinne

 

Auch der letzte Band der insgesamt sechs Bände, die der norwegische Romancier bei Luchterhand 2016/17 publiziert, ist von einer vielschichtigen Auseinandersetzung des Ich-Erzählers Karl Ove mit seiner Realität geprägt. Es ist eine Realität, deren Wahrnehmung einer besonderen narrativen Betrachtung ausgesetzt ist. Auf der Suche nach einer Definition des Sinns unterscheidet der Erzähler zwischen sinnloser und sinnhafter Welt. Sinnlosigkeit nehme auch der Freiheit ihren Sinn, Sinnhaftigkeit entstehe, wenn man den Blick auf etwas hefte, wobei „der Blick […] das Wesentliche [ist], nicht das, was er sieht.“ (S. 413). Mehr noch: „Der Blick lässt das Äußere zum Inneren werden, aber da das Äußere für den Blick das Äußere bleibt, […], glaubt er häufig, dass die Bedeutung, die er sieht, zu dem Ding oder dem Phänomen gehört, das er dann verdammt, erhöht und dem er sich gleichgültig gegenüber verhält.“ In diesem ständig ablaufenden Prozess „verstehe“ der Blick nicht, „dass es etwas an sich ist, das er verdammt, erhöht oder dem er sich gleichgültig gegenüber verhält.“ (S. 413)

Je länger sich der Leser diesen erkenntnisleitenden, von der Phänomenologie der Sinne gesteuerten Überlegungen hingibt, desto deutlicher wird ihm die Zielsetzung seines narrativen Verfahrens. Karl Ove hat einen umfangreichen Roman über seine engste Verwandtschaft publiziert, in dem sein gerade gestorbener Vater die entscheidende Rolle inmitten seiner Sippschaft spielt. Doch auch die noch lebenden Personen aus der unmittelbaren Nachbarschaft sind der Gegenstand ungeschminkter Betrachtung, weil Karl Ove sie bei ihrem bürgerlichen Namen nennt, ein schriftstellerisches Verfahren, das für ihn mit banger Erwartung vor den Reaktionen der handelnden Personen verbunden ist.

Die zweite große Passage des Roman-Essays ‚Der Name und die Zahl‘ setzt mit der Bewertung eines anonymen Briefs ein, den der Ich-Erzähler erhalten hat. Er nimmt ihn zum Anlass, um über die Macht des Namens zu reflektieren: „Wenn ich die Namen der Menschen sehe, mit denen ich aufgewachsen bin, werden dadurch nicht nur die gesamte Landschaft und all die Tage und Abende […], wieder lebendig, sondern auch, wer sie waren.“ (S. 442) Die folgenden weitschweifenden Betrachtungen münden auf literarhistorischem Terrain, auf dem der Autor die Funktion des Namens in den Werken der Weltliteratur beleuchtet. Diese Beobachtungen enden in der Feststellung, dass der bürgerliche Realismus (Thomas Mann) des frühen 20. Jahrhunderts im Gegensatz zur fiktionalen Literatur des späten 20. Jahrhunderts die Namen der Protagonisten kaum noch verwende oder an deren Stelle sogar nur noch metaphorische Konstrukte benutze. An diese literaturwissenschaftlichen Betrachtungen schließen sich lange Reflexionen über die Produktion und Rezeption von Lyrik in der abendländischen Kulturgeschichte an. Solche Erörterungen mögen für das Fachpublikum spannend sein, bei einem „normalen“ Leser hingegen, falls er sich bis zur Seite 500 „durchgekämpft“ haben sollte, rufen solche Feststellungen sicherlich nur Desinteresse hervor. Wer dennoch der „Marschroute“ des unermüdlichen Autors folgt, der wird in die mystischen Tiefen der antiken griechischen Literatur gelockt, wo er mit dem breiten Assoziationsfeld ‚Asche‘ und dann mit dem umfangreichen Bedeutungsfeld ‚Holocaust‘ konfrontiert wird. Von dort führt er seine LeserInnen zur Dokumentation Shoah von Claude Lanzmann.

In dem damit geschaffene Assoziationsfeld ‚Nazi-Verbrechen‘ setzt sich der Autor nicht nur mit dem brutalen Vernichtungsfeldzug des nationalsozialistischen Regimes gegen die jüdische Bevölkerung auseinander. Er beschreibt auch die Auswirkungen dieses wahnsinnigen Unternehmens in Schweden und mehr noch in Norwegen. Zu diesem Zweck wechselt er von der gesellschaftlichen zur familiären Ebene. Der 1968 in Oslo geborene Knausgård tastet sich nun über Fundstücke, wie ein Exemplar von Mein Kampf (Min Kamp) in der Truhe des verstorbenen Vaters und die sanktionierte Lektüre des Hitler-Machwerkes, „das einzige absolute Tabu in der Literatur“ (S. 534), zu alternativen Zeugnissen der Nazi-Epoche vor. Es ist z.B. „LTI – Lingua tertia Imperii. Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer, der an der Seite seiner deutschstämmigen Ehefrau das sog. Dritte Reich überleben konnte. Ausgehend von Zeugenaussagen über das Nazireich, stellt Knausgård eine dokumentarische Betrachtung über die Machtübernahme durch die Nazis und deren Propaganda-Feldzug gegen alles „Nicht-Deutsche“ zusammen. Es ist eine beinahe nüchterne Bestandsaufnahme, in der die manipulativen Akzente der nationalsozialistischen Propaganda überwiegen. Daneben zitiert er auch aus den – wie bekannt gewordenen – heuchlerischen und verfälschenden Erinnerungen des Rüstungsminister Albert Speer.

Was zeichnet die nun folgenden mehr als hundert Seiten aus, in denen die schriftlichen Zeugnisse von Hitlers Zeitgenossen, Passagen aus den Biografien angesehener Historiker wie auch ausgewählte Passagen aus dem Machwerk Mein Kampf  zitiert und kommentiert werden? Nach dem Urteil von Knausgård ist es eine Autobiographie, in der man „dem Autor von seiner Geburt an die ersten charakterbildenden Jahre der Kindheit, durch die Jugend hin zu den Entdeckungen und grundlegenden Erkenntnissen des jungen Erwachsenen folgt.“ (S. 546) Sein Urteil, dass Hitler sich in Mein Kampf eine Persona erschaffen habe, die auf der von ihr kreierten politischen Plattform seine Botschaften verkünde, belegt er mit einer Fülle von Quellen. In diesem manischen „Verkündigungsanspruch“ löst sich die Figur des erzählenden Ich zugunsten eines Wir als angebliche Stimme des Volkes auf. Es ist ein Wir, das „über dem Wir des Staates steht“, über der praktischen Politik, und dieser angebliche Anspruch wird nach Knausgård moralisch begründet. Danach beziehe diese Moral ihre „Kraft aus dem Körper, dem Außersprachlichen, dem Nicht-Argumentativen, Konkreten und Physischen: dem Blut.“ (S. 547)

Die nun folgenden Passagen sind einer eingehenden Textanalyse von Mein Kampf gewidmet, wobei er sowohl Hitler-Biografien, wie die von Ian Kershaw (Hitler 1889 – 1936) als auch Schriften von Hitlers Zeitgenossen und Weggefährten (wie z.B. August Kubizeks. Adolf Hitler. Mein Jugendfreund) in seine oft minutiösen Ausführungen einbezieht. So ermüdend die Lektüre solcher Textexegesen auch ist, sie vermittelt Einsichten in eine Sprache, die ihre mental gelähmten Benutzer auf den Aufmärschen der Nazis in den 1930er Jahren ihrem „Führer“ unterwarf. Und diese Exegese ist mit einer weiteren Einsicht in die mentale Wirksamkeit von Sprache verbunden. Es ist Knausgård in der Funktion als Ich-Erzähler, der seine analytischen Erörterungen oft mit seinen eigenen Verhaltensweisen, dem Umgang mit seinen drei Kindern und mit Linda, seiner Frau, verbindet. In diesem Prozess mischen sich kunsthistorische Betrachtungen, religionsanalytischen Erörterungen und Rückblenden in die vergangenen Jahrhunderte in einem Erzählstrang, in dem die Suche nach Sinnhaftigkeit überwiegt. Seine textanalytischen Betrachtungen von Sprache in James Joyce‘ Ulysses oder Hermann Brochs Der Tod des Vergil verbindet er mit seinen Wahrnehmungen über Raum- und Zeit-Erfahrungen im 21. Jahrhundert und koppelt sie mit alltäglichen Erlebnissen, Spiel und Ritualen im familiären Zusammensein. Dieser schnelle Wechsel zwischen Neuzeit und Postmoderne erzeugt beim Lesen bestimmte Aha-Erlebnisse, die zugleich zahlreiche Anregungen für intermediale Erkenntnisprozesse geben. Und sie werfen die Frage auf nach den Wechselbeziehungen zwischen tief schürfenden kunsttheoretischen Einsichten, den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Psyche der Deutschen und den Passagen in Hitlers Mein Kampf. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen der systematischen physischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Hitler-Schergen!

Das zwischen reflektierter Zeit- und Literaturgeschichte und der ausufernden Beschreibung der Lebenswelt des Autors ständig pendelnde Textkonstrukt hätte sicherlich an Geradlinigkeit gewonnen, wenn die spannungsgeladenen familiären Beziehungen zwischen Linda und Karl Ove wie auch mit ihren drei Kindern Heidi, John und Vanja in der Romanerzählung nicht so ausschweifend beschrieben worden wären. Andererseits ist die Intention des Autors auch verständlich. Es ist der leider nicht zu lösende Konflikt zwischen sinnloser Geschichte und der Suche nach Sinnhaftigkeit in einem Roman-Epos, in den der Autor seine familiär geprägte Lebensgeschichte wie auch seine Beunruhigung über die zerstörerische Geschichte hineinschreibt. Doch der stellenweise überbordende Text hätte sicherlich an spannungsgeladener Dynamik gewonnen, wenn der Ich-Erzähler seine familiäre Lebenswelt in vielen Passagen konzentrierter vorgetragen hätte und seine ausschweifenden Mein Kampf-Analysen zugunsten von inneren Monologen über das Kämpfen des Autors mit seiner Textgeschichte gestaltet hätte. Trotz solcher Einwände im Hinblick auf den Umfang des vorliegenden Werkes, es ist ein stellenweise atemberaubendes Oeuvre, das auch die unheilvolle deutsch-nationale Geschichte aus nordeuropäischer Perspektive seine Leser in den Bann ziehen wird!

 

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Kämpfen. Roman von Karl Ove Knausgård Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. München (Luchterhand) 2017