1
An meinen rippen sägt dreckiger schnee
Mama der himmel ist weg
Du wirfst mich runter gut ich geh
Es hat ja doch keinen zweck
O der scharfe eisige wind
brüllt alles blind
Wann gibt das ewige tosen ruh
wann ist die welt wieder rein
Ich hab ein messer aus harsch im schuh
und den trockenen brand im bein
O der scharfe eisige wind
brüllt alles blind
Keiner von uns hat die stadt gesehn
die summende stadt auf dem sabbatberg
wo sich die feinen gebetsmühlen drehn
und der staub ruht aus von seinem werk
Ich friere das feuer auf deinen mund
Er wartet draußen nicht wahr
in fauchender frühe am sternengrund
im weißen januar
O der scharfe eisige wind
brüllt alles blind
2
Gehn wir unter den stürmen
hohen stürmen hin
treten wir zu den türmen
rohen türmen hin
sturm und schnee
vom sumpf bis über die see
Laufen wir in den stauben
mauern gefräster zeit
fliegen wir im glauben
an die gelegenheit
sturm und schnee
vom sumpf bis über die see
Schleifen wir uns in lüften
hageren lüften vor
stemmen wir die hüften
magere hüften vor
sturm und schnee
vom sumpf bis über die see
Kommen wir in die städte
jeder fetzen ein mann
werfen wir die geräte
schrägen todes an
sturm und schnee
vom sumpf bis über die see
3
Es läuft ein sturm von land zu land
von ort zu ort
Er treibt den wurm mit nasser hand
nur fort nur fort
Die einen rollen die kinder ein
in sichern ort
Die andern wolln gerüstet sein
und treiben sport
Da steht der sturm auf einmal still
auf schiffes bord
Sagt einer: Turm! sagt einer: Kill!
sagt einer: Dort —
4
Mama was sind deine zähne so lang
und deine rippen so blau
Mama das ist hier der abschiebegang
Dein haar ist stahlwollegrau
O die sturmklinge schreit
uns die haut vom gesicht mit der zeit
Schwester ich schneid dir die sulatsch* raus
Die männer sind kalt wie fisch
Schwester wir kommen zum kühlschrank nach haus
Da bleibt sie allezeit frisch
O die sturmklinge schabt
alles wofür ihr gebetet habt
Papa hier drinnen ist es leer
Was wenn der himmel kracht
Papa ich halt dich ich kann nicht mehr
Du bist so schwer wie die nacht
O die sturmklinge saust
Eure knochen in meiner faust
Bruder der in der vorbirne saß
geboren in leichener ruh
Bruder erbitt uns den irdischen fraß
Und schweig denn satt bist du
O die sturmklinge kreist
Und die sümpfe sind schwarz vereist
Mädchen komm mit oder bleib zurück
Faulen wirst du hier
Mädchen ich wärm dir dein bestes stück
Und ich geb dir mein schnellstes tier
O die sturmklinge schreit
Schließ die augen sie schlürft die zeit
O die sturmklinge schreit
uns aus der zeit
***
Rohlieder I – X von HEL
HEL ist bekannt als Herausgeber neuer Talente im „literarischen Underground“ und Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.
Weiterführend →
Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.
Anmerkung:
sulatsch = „belg. soulage = gosse, rinne, arsch“