Er war ein wenig erstaunt.
Hatte er sich noch vor Stunden in der Stadt vergnügt, so lag er rechtzeitig zum Hochfest ausgestreckt auf seinem Bett. Das musste man ihm lassen: Er vergaß nie seine Verpflichtungen, die nahm er gebührend ernst.
Tropisch warm war es in dieser Nacht. So erlaubte er es sich, nur leicht bekleidet zu Bett zu gehen, auch wenn es dem Anlass nicht angemessen war. Er überlegte noch hin und her, ob es sich um eine Sünde handelte und wenn ja, um welche. Die Argumente schwirrten ihm im Kopf, es war, wie ihm schien, ein heftiges Für und Wider.
Er wusste nicht, wie lange er so da gelegen hatte. Er wusste nur, dass sein Schlaf ein tiefer, regungsloser Schlaf gewesen sein musste. So tief, dass er, als er unvermittelt die Augen aufriss, nicht recht wusste, wo er war. Er versuchte sich zu erinnern. An das Haus. Die drei Etagen. Das Fenster zum Friedhof.
Seine Augen mussten sich erst an das Dunkel der Nacht gewöhnen. Aber dann gaben ihm die Grablichter genug Licht, um die Fronleichnamsprozession zu verfolgen, die an seinem Fenster defilierte.
Es war kein prunkvoller Umzug.
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Freilauf, Miniaturen von Stefan Oehm, KUNO 2018
Die Miniaturen von Stefan Oehm sind eine Reihe von Short-Shorts, kurze Kurzgeschichten. Diese konzentrierten Prosastücke sind fast alle sind hintersinnig und mindestens doppelbödig. Einige bringen im Kopf des Lesers eine – kleinere oder größere – Welt zum Erblühen. Oder auch zum Verwelken.