oder
die kunst der narzißtischen selbstkritik
zum roman »Gionos Lächeln«
von ulrich bergmann
ulrich bergmanns roman, der verschiedene zeitebenen miteinander verschränkt, ist ein rückblick auf kindheit und jugend, die teils traumartig auftauchen, größenphantasien inbegriffen, die meisten träume sind narzißtisch, ja zu einem tagträumerischen gang durch das leben werden. dabei greift das autor, der selber sagt, er sei als kind ein träumer gewesen, motive seines autobiographischen romans »Doppelhimmel« von 2012 erneut auf. auch denkfiguren der spielerisch ironischen »Arthurgeschichten«, die 2005 als buch erschienen, erkennt der leser wieder, so in gedanken an die transzendenz.
die hauptfigur janus rippe begegnet als junger mann, der noch voller zweifel ist und bisher kein lebensziel findet, in einem pariser hotel dem italienisch französischen schriftsteller jean giono, von dem es den episodischen roman »Jean, der Träumer« gibt, spricht fiktiv mit ihm, und verinnerlicht seinen blick, der ihm nachschaut, für die eigenen betrachtungen und befragungen des lebens: »und als er in die Schwärze seines Zimmers schräg über dem Eingang des kleinen Hotels zurücktrat, fühlte ich seine Augen unter meinem Schädel.« »Begründe dein eigenes Glück!«, sagt die stimme gionos über ihm, und »Lebe deine Natur aus gegen den Irrsinn der Gesellschaft!« ulrich bergmann, der meist mit stilmitteln von prosaminiaturen arbeitet, aber auch lyrische, dramatische und essayistische schreibtechniken einbezieht, beschreibt und reflektiert dann die ichundglückssuche seiner figur, während sich, eingebunden in szenen eines paris-aufenthalts, immer wieder augenblicke der kindheit ins aktuelle erleben schieben. hinzu kommen episoden einer reise durch die usa. mitunter gehen die rede der figur und des autors, der natürlich seine lebenserfahrungen einbringt, ineinander über, so daß ich-figur und autoren-ich verschmelzen.
parallel spricht janus, der wie der kleine prinz bei saint-exupéry auf seinem ich-planeten von der schönen welt träumt, mit stella, italienisch stern, die unmittelbar nach der eingangsszene erscheint, einer geliebten und zugleich lebensrat gebenden und kritisch nachfragenden frauenfigur, der stimme der lebensrealistischen vernunft, die ihn auf paradoxien seines traumlebens hinweist und der er entgegnet: »Ich stehe fest auf dem Boden des Traums.« an anderen stellen sagt er: »Ich lebe nach der Art der Dichter. Meine Einbildungen sind gemacht, um in der Welt zu wohnen, die ich mir baue. So wohne ich auf dieser Erde. Es gibt kein anderes Maß als mich.« und »Wenn ich mein Leben nicht spielen könnte, hielte ich es nicht aus.« liebe zum leben bedeutet ulrich bergmann, einem früchtepflücker im regenwald der kultur, vor allem liebe zur kunst, die lebenskunst inbegriffen. zugleich erträgt man manches im leben nur, indem man es als theater betrachtet. bisweilen könnte man glauben, er selbst sei eine aus der zeit gefallene opernfigur. die beste aller welten wäre für ihn eine nie endende lebensoper.
der »Ausstieg aus der Zeit« kann auch auf entwicklungen der gesellschaft verweisen, etwa die allmähliche zurückdrängung eines zugleich spielerischen und ernsthaften bildungsundkulturbürgerlichen lebens, das vor allem vulgärmaterialistisch, von verwertungsideologien und technologiegläubigkeit, bedroht wird. so betrachtet schildert der autor, der das träumerische einverständnis mit der wirklichkeit, deren unangenehmen teilen man durch verfremdungen auszuweichen vermag, auch ironisiert, womöglich eine künftige welt von gestern, die er noch gegenwärtig erlebt. schließlich ist narziß eine figur der jugend. und die jugend dauert nicht ewig. folglich führt jeder narzißtische traumzustand der selbstverliebtheit zum erwachen. wird man einst sagen, diese welt sei an ihren eigenen privilegien zugrunde gegangen? andererseits kann das zeitlos werdende, worauf bergmann hofft, zeitübergreifend wirken und damit überdauern. die dauerhafte einheit aller zeiten und orte bleibt freilich unerreichbar. »Seit der Teilung der Zeit in Gestern, Heute und Morgen, in Stunden, Minuten und Sekunden ist der Mensch nicht mehr eins mit ihr und so auch nicht mehr eins mit der Wirklichkeit.«, konstatierte octavio paz.
eine zentrale aussage der hauptfigur lautet: »Das Wichtigste ist, du lebst gern. Wenn das so ist, dann ist jede Lebensart schon dadurch gerechtfertigt. So bin ich gestrickt.« am ende wird noch einmal wiederholt: »Ich höre Gionos Worte hinter der Stirn: Geh deinen Weg, es ist der einzige der zum Ziel führt.« michel foucault gibt dem romanhelden recht, indem er schrieb: »Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle der Suche des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist, ich bin sofort damit einverstanden.« der schluß des romans deutet einen prozeß der selbstfindung bei janus rippe an, der vor der entscheidung steht, »sich weiter an sich selbst zu verlieren oder sich in sein Leben hineinzuretten.«
der satz »So bin ich gestrickt.« relativiert die vorherige aussage. später heißt es: »Ich muss mich selbst fortwährend übersetzen, um mich zu verstehen.« und: »Ich kann das, was in mir glaubt, einfach nicht totschlagen.« denken verlangt immer auch das überwinden eigener täuschungen. die westlichen gesellschaften der gegenwart leben freilich hochgradig von illusionen. natürlich sind lebensarten nicht allein durch sich selbst legitimiert. man sollte ihre überindividuellen, also gesellschaftlichen, wirkungen ebenso mitdenken wie die längerfristigen. denn wir wollen ja nicht hoffen, daß das menschliche mit einem »Wenns mir privat gut geht, dann ist die Welt in Ordnung.« erschöpft sei, das leicht soziale spaltungen und einen mangel an empathie verursacht. wie sehr egoismus und narzißmus das denken einschränken, werden die meisten der heutigen menschen wohl erst nach ihrem tod erkennen, der sie klüger macht. denn keine gegenwart hat ein realistisches bild von sich selbst.
»Ein Künstler, hart in die Welt hineingestoßen, aus der er doch flüchtet, hin und her geworfen zwischen zwei Welten wie die Meerjungfrau im Märchen, braucht einen Teufelspakt, um seine Welt erschaffen zu können …«, schreibt bergmann, der das problematische literarisierter lebensformen durchaus sieht. sein intellekt reflektiert stets erneut das ich, während er genußfreude lebensreal vom reflektierten trennen kann. seine lebensphilosophie vereint dann beides wieder. die selbstreflexion enthält selbstironie und diese selbstkritik, die eine allerdings mehr spielerische und sanfte, und mitunter kokette, kritik ist. bei aller ironie denkt er meist mit wohlwollen über den narzißmus und die welt des schönen scheins nach. er beherrscht die kunst der narzißtischen selbstkritik, das heißt er liebt sich derart, daß er sich sogar selber kritisiert und so entlastet.
anhand von träumen, und traumsequenzen, oder traumfugen, durchziehen das ganze buch, werden gleichfalls identitäten hinterfragt. parallel beobachten autor und figur die narzißtischen attitüden ihrer mitwelt. von ambivalenten zusammenhängen zwischen liebe und tod, schönheit und gewalt, lust und schmerz, genießen und zerstören war schon 2005 im erzählband »Kritische Körper« die rede. daran erinnert in »Gionos Lächeln« etwa die tötung des vaters, gegen dessen pflichtzwang die jugendliche figur rebelliert, »Ich vernichte dich, mein Vater. Ich erschaffe mich selbst.«, mit einem preßlufthammer im traum.
janus rippe spürt auch unbewußtem nach, so wenn der star in einem kindervers todesprophetisch erscheint: »Wir haben einen Tod – Der singt so lieblich – Singt sogar – Wie ein Star – Hat gesungen sieben mal sieben Jahr …« im aberglauben konnte der star tatsächlich tode ankündigen. der tod, der dem figuren-ich, das sich sogar im eignen grab sieht, rippe reimt sich auf hippe, wiederholt leibhaftig erscheint und begegnet, spielt überhaupt als motiv dieses romans häufig mit, beginnend in der kindheit. zugleich hebt die phantasie, oder das leben, den tod immer wieder auf. und solange dies, lebensreal und mit hilfe eines individuellen kultischen theaters, gelingt, kann sich das ich allmächtig fühlen.
die letzte botschaft von janus könnte lauten: wenn ich sterbe, geht die welt verloren. rainer maria rilke schrieb: »Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? / Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) / Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) / Bin dein Gewand und dein Gewerbe, / mit mir verlierst du deinen Sinn.« todesüberwindung verlangt gottwerdung. im antiken mythos hing indes selbst das schicksal der götter von den moiren oder parzen ab. sogar zeus blieb auf die moiren angewiesen. denn die macht der schicksalsgöttinnen war größer als die seine. homer, aischylos und vergil beschrieben, wie zeus das schicksal erforscht, von dem er abhängt. sigmund freud erklärte: »dem begabtesten Volk des Altertums dämmerte die Einsicht, daß die Moira über den Göttern steht und daß die Götter selbst ihre Schicksale haben.«, und egon friedell: »Gegen die Moira vermögen die Götter nichts, wenigstens für gewöhnlich: denn manchmal sieht es auch so aus, als ob sie ihr Werkzeug sei. Manchmal auch versuchen sie sie wenigstens zu beeinflussen oder mit ihr sozusagen auf Teilung zu arbeiten.« michel de montaigne schrieb in einem essay unterm titel »Philosophieren heißt sterben lernen«, auf seneca und horaz zurückgreifend, »Sich in Gedanken auf den Tod einrichten, heißt sich auf die Freiheit einrichten: wer zu sterben gelernt hat, den drückt kein Dienst mehr: nichts mehr ist schlimm im Leben für denjenigen, dem die Erkenntnis aufgegangen ist, daß es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben. Sterbenkönnen befreit uns von aller Knechtschaft, von allem Zwang.« auch thomas manns roman »Der Zauberberg« rät, dem tod keine macht einzuräumen.
elias canetti, der in seinem postumen »Buch gegen den Tod«, das auch kollektive tode meint, la rochefoucauld mit dem satz »Der Sonne und dem Tod kann man nicht fest in die Augen sehen.« zitierte, reflektierte das verhältnis von gott und tod so: »Der Tod ist von Gott, und hat seinen Vater gefressen.«, »Daß die Götter sterben, macht den Tod noch frecher.«, »Und wenn Gott sich aus Scham über den Tod von der Schöpfung zurückgezogen hätte?«, »Die Auferstandenen klagen plötzlich in allen Sprachen Gott an: das wahre Jüngste Gericht.«, »Einmal will ich Sätze finden, daß Gott sich vor mir schämt. Dann wird niemand mehr sterben.« und »Es braut sich ein neuer Gott zusammen. Aus Überresten.« den narziß janus, der sein eigener gott ist, greift alldas nicht an. bei ihm heißt es: »Kein Gott ist so stark wie ich, nicht einmal der Allmächtige.«
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Gionos Lächeln, Kurzroman von Ulrich Bergmann, Kid-Verlag, Bonn 2017
Weiterführend → Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem A.J. Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet.
→ Zur Vorgängerband Doppelhimmel finden Sie hier eine Einführung. Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.