Lesen, eine aussterbende Kulturtechnik

Der moderne Flaneur sitzt vor dem Bildschirm. Ihn schlägt nicht weniger als die Welt in ihren Bann. Bilder und Wörter halten ihn gefangen… Wie Goethes dichterisches Ich schlendert der Flaneur im Internet ’so für sich hin‘ und lässt die Gedanken, die an diesem oder jenem Gegenstand hängenbleiben, schweifen; vor ihm eröffnet sich eine Flut an Verknüpfungen, die in Wellen wieder über ihm zusammenschlagen.

Alain Claude Sulzer

Wir erleben einen mentalitätsgeschichtlichen Wandel. In 1989 hat sich nicht nur das Labor gegründet, die linguistische Wende bezeichnete Bemühungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts, sprachliche Vermittlungsformen zu untersuchen. Die Reflexion des Denkens wird zur Sprachkritik, zur Reflexion sprachlicher Formen. Im 21. Jahrhundert ist ikonische Wende eine Hinwendung zu einer Bildwissenschaft, die wissenschaftlichr Ralionalität durch die Analyse von Bildern herstellt.

Das KUNO-Archiv (von griechisch archē: Anfang, Ursprung), ist der Ort, wo nichts verloren geht.

Der „Bildraum der Erinnerung“ bleibt für KUNO auch im 30. Jahr der Leibraum. Schrift bleibt das Medium der Erinnerung, ohne deren vereinnahmende Repräsentierung zu behaupten. Sprache und Schrift stehen auf der Schwelle zwischen Ähnlichkeit und Entfremdung. Das kulturgeschichtliche Medium basiert auf eine Konzeption der Schrift und eine Praxis des Schreibens. Diese doppelte Schriftlichkeit der Erinnerung provoziert eine permanente Spannung zwischen ‚Text‘ und ‚Leben‘. Schreiben überschreitet die Schwelle zwischen Erinnern und Vergessen, Konstruktion eines Textes und Destruktion der Verknüpfungen zur Vergangenheit, Unmittelbarkeit und Dispersion der Referenz. Zeichen sind Charaktere im doppelten Sinne: autonomes Bild und Spur der Erinnerung. Schrift ist weder polyvalente différance noch einheitliche Hand, sondern die Geste, die die Erinnerung entwirft, ohne die vollständige Präsenz des Vergangenen zu behaupten.

Die Schrift eine genau definierte Menge graphischer Zeichen. Das Artefakt ‚Schrift‘ ist präzise festgelegt und kann keiner Veränderung unterliegen. Dieser bestimmten, endlichen Menge graphischer Zeichen entspricht eine noch offene Menge sprachlicher Zeichen. Die Menge der sprachlichen Zeichen nimmt in der Auslegung zu, weil immer mehr entdeckt wird, was alles sprachliches Zeichen ist.

Arnold Goldberg

Lieber einen Bruch im Kunstwerk als einen Bruch in der Zivilisation. Christoph Links verkauft seinen Verlag an die Aufbau-Gruppe. In der derzeitigen Medienlandschaft („overnewsed but underinformed“), sagt er im taz-Interview mit Susanne Messmer, schlage sich das Sachbuch noch tapfer. Aber der Trend sei klar: „Die fetten Jahre sind schon vorbei. Das Buchlesen ist nicht mehr die bevorzugte Freizeitbeschäftigung. Vor der Wende lag das Lesen in der DDR auf Platz 7, in der BRD auf Platz 9. Heute liegt es bundesweit auf Platz 14. Und wenn man abends die letzte WhatsApp-Gruppe zugemacht hat, will man auch nicht mehr zum Buch auf dem Nachttisch greifen, sondern nur noch die Augen schließen.“ Literaturkritik in den Medien betätigt sich als verlängerte Verlagsreklame und manche Kritiker vergessen nichts schneller welches Buch sie eine Saison zuvor hochgejubelt haben. Verläßt man das gewohnt Terrain des Literaturkanons und der Bestsellerlisten, läßt  man den Blick mit Entdeckerfreude schweifen, wird man unweigerlich auf außergewöhnliche Literatur stossen: Werke hervorragender Schriftsteller, die von einem erweiterten Lesepublikum nie recht wahrgenommen wurden.

Einge dieser weniger bekannten, von Kritikern aber gerühmten Aussenseiter und Nonkonformisten finden sich auf KUNO.

Die Texte der Nonkonformisten zwingen zum langsamen Lesen und zum Verweilen. Wie sich die Befriedigung seiner intellektuellen Bedürfnisse der Aufmerksamkeitsspanne von Tweets angepasst hat, wird von KUNO der neuzeitlichen Literaturszene gegenübergestellt. Twitteratur ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Notate bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne.

Das „Kindle“ ist ein Monitor unter vielen in einer Kultur, die vor Monitoren birst. Es hatte eine revolutionäre  Auswirkung aufs Verlagswesen, aber die Welt der Ideen hat es kaum revolutioniert. Verleger grummeln zwar noch über Amazon, aber sie haben einen unbequemen Frieden mit dem Ebook gemacht, dessen Verkäufe seit einiger Zeit stagnieren. Das Kindle hat die Verlagsarbeit verändert, aber nicht so radikal wie manche hofften oder fürchteten, und schon gar nicht in grundsätzlicher Weise.

Mit diesem Zitat zieht Alex Shephard eine widersprüchliche Bilanz in der New Republic. E-Books haben sich seit zehn Jahren einen Marktanteil von fünf Prozent erobert, und das Segment ist kaum noch ausbaufähig. Warum ich nach wie vor das „P-Book“ bevorzuge, habe ich bereits vor fünf Jahren auf KUNO beschrieben. Nicht jede Medienrevolution führt ins gelobte Land (eine Ausnahme stellte das Hörbuch dar!). Wie erleben im Zeitalter der Digitalisierung eine Rückbesinnung auf das Handwerkliche und eine Buchkunst in der Tradition von Johannes Gutenberg.

Praktisch auf der ganzen Welt ist der Buchmarkt in den vergangenen siebzehn Jahren um die Hälfte eingebrochen.

Philipp Keel

Über die Anmerkung der Verlegers Keel hinaus zitiert die Journalistin Sandra Kegel in der FAZ beunruhigende Zahlen: „Schon der monatlich verschickte Branchenmonitor des Börsenvereins verhieß zuletzt nichts Gutes. Jetzt wurden auf der Jahrestagung der IG Belletristik & Sachbuch Zahlen präsentiert, die für sich sprechen. Von Entwarnung kann keine Rede sein, im Gegenteil: Innerhalb von nur vier Jahren, zwischen 2012 bis 2016, gingen dem Buchhandel laut Gesellschaft für Konsumforschung 6,1 Millionen Buchkäufer verloren. Die Käuferreichweite – der Anteil der Bevölkerung also, der Bücher kauft – sank im selben Zeitraum um knapp neun Prozentpunkte auf 45,6 Prozent.“ Dass der Umsatz der Branche dennoch ungefähr gleich blieb, liegt laut der Recherche von Frau Kegel an Preiserhöhungen für Bücher.

Der Archäologe des analogen Alltags

Wir stellen in diesem Onlinemagazin keine an Spezialinteressen hängende Leute mit sozialen Defiziten vor, sondern Lyriker, die das Zeug zu einem echten Klassiker bei Lebzeiten haben. Es ist der redaktionelle Auftrag von KUNO Schlaglichter auf die Szene jenseits des Hipness-Radars zu werfen. Spätestens seit 1989 ist HEL  bekannt als Herausgeber neuer Talente im „literarischen Underground“ und Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.

Während das objektive Denken gegen das denkende Subjekt und dessen Existenz gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als existierender an seinem Denken wesentlich interessiert: er existiert ja darin,

Søren Kierkegaard

Auch von der Hochliteratur kann man ein Mindestmass an Innovationswillen erwarten und nicht das, was aus dem weichgespülten Bestsellerlisten und der afirmativen Beschreibungsprose aus den Literaturinstututen kommt. Der Irrtum, der von dieser Literaturbürokraten produtiert wird, Schriftsteller sind nicht der Wahrheit verpflichtet, sondern der Story. Literatur verlangt oft nach Entschlüsselung, was Erfahrung voraussetzt. Literatur ist mehr ist mehr als Mitteilung. Schreiben heisst denken, reden heisst Bedeutung erschaffen. Die KUNO-Autoren erzählen Geschichten, schreiben Gedichte, Stories, Essay oder Twitteratur und erschliessen sich eine vieldimensionale Welt.

Eine funktionierende Erzählmaschine ist inzwischen auch eine begehrte Geldmaschine, deshalb sind die Miniaturen von Stefan Oehm so lesenswert, weil sie nicht in den Mainstream passen. Es ist eine Reihe von Short–Shorts, kurze Kurzgeschichten. Diese konzentrierten Prosastücke sind fast alle sind hintersinnig und mindestens doppelbödig. Einige bringen im Kopf des Lesers eine – kleinere oder grössere – Welt zum Erblühen. Oder auch zum Verwelken.

Auch die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Über Kunst wird viel geschrieben. In den Feuilletons, in Fachzeitschriften, kunsthistorischen Seminaren, kulturpolitischen Ausschüssen oder in Kommissionen zum Thema ‚Kunst als Wirtschaftsfaktor‘. Aber wann wird einmal ganz grundsätzlich über Kunst nachgedacht, darüber, ob wir, wenn wir über Kunst reden, angemessen über Kunst reden? – Wir streiten zwar wie die Kesselflicker über Kunst, jeder hat seine ganz eigene Ansicht zu ihr. Aber alle Diskursteilnehmer verhalten sich dabei so, als gäbe es eine Art geheimen, unausgesprochenen Konsens, eine interkulturelle, überzeitliche Schnittmenge, die sicherstellt, dass dabei alle über das Gleiche reden. Stefan Oehm hat da so seine Zweifel. Ob wir angemessen über das reden, was alle Welt ‚Kunst‘ nennt. Ob das, worüber alle Welt redet, überhaupt etwas mit Kunst zu tun hat. Ob das, worüber alle Welt redet, von denen, die darüber reden, überhaupt expliziert werden kann. Ob alle, die über Kunst reden, wissen worüber sie reden. Ob alle, die miteinander über Kunst reden, auch über das Gleiche reden. Oder ob nicht vielleicht manche meinen, sie reden, wenn sie über Kunst, über etwas, wo sie doch eigentlich über nichts reden, aber keiner sich traut, das ihnen mal öffentlich zu sagen, weil man Angst hat, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Um es vorweg zu sagen: Auch KUNO weiß nicht, worüber wir reden, wenn wir über Kunst reden. Stefan Oehm weiß nur, dass ein großer Teil derer, die über Kunst reden, einige grundlegende Erkenntnisse außer acht lässt. Und über genau die möchte er in einer Reihe von Essays reden. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verliehen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.

Wir setzen damit auch unsere Reihe mit Essays fort.

Ein weiterer Preisträger ist Walther Stonet. In seinem Essay Robokratie – Wie Social Bots die Demokratie manipulieren entkleidet Stonet die Lebenswelt ihres ideologischen Überbaus. Es ist die virtuose Handhabung der poetisch-technischen Verfahren, die treffsichere Verwendung grotesker Verfremdungen und die Fähigkeit, ein Inventar von Metaphern und Bildfeldern für die Charakterisierung von Personen und Situationen bis in die letzte Möglichkeit der Assoziation auszureizen. Am stärksten sind Stonets Überlegungen dort, wo es ihm gelingt, die politischen Implikationen von Denken und Schreiben herauszuarbeiten. Im Internet verflüssigen sich die fundamentalen Orientierungen unserer Kultur. Stonet kritisiert die Bipolarität von Wirklichkeitskonstruktionen, wie sie etwa in den Dualismen Mensch und Maschine, Natur und Kultur, Realität und Virtualität, Tod und Leben zum Ausdruck kommt. Um Walter Benjamin zu paraphasieren, es geht um den „Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Durch das Netz entwickelt sich aus der Entgegensetzung von Mensch und Maschine eine umfassende Mechanisierung des Menschen. Es bleibt als letzte Hoffnung: Die Lehre von Kunst und Dichtung ist kein Selbstzweck, sondern einer der entscheidenden Schauplätze der Globalisierung.

Mit seiner micropoetry gelang es Denis Ullrich eine übernutzte Sprache zu entkernen. Seine vielgestaltigen Texte auf KUNO bewegen sich zwischen Transzendenz und Körperlichkeit. Zuweilen hat man den Eindruck, als wollte dieser Autor das berühmte Diktum Wittgensteins widerlegen: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man – nicht schweigen – sondern dichten! Dieser Autor hinterlies eine Twitteratur bei der weder ästhetische Überhöhung noch schnöder Realismus infrage kommen.

Denis Ullrichs Essay Sind wir nicht alle ein bisschen COPY & Paste? wurde beim KUNO-Essaypreis 2013 mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Die Begründung findet sich hier. Die Redaktion verlieh ihm für einen weiteren fulminanten Text den KUNO–Essay–Preis 2015.

Destabilisierung der Textautorität

Das Werk von Angelika Janz erschließt sich nur dann richtig, wenn man die Verflechtung ihrer Bildgedanken mit der Dichtung versteht. Der Fragmentexterin geht es um die Zusammenführung von Bild und Abbild. Ihre Arbeiten sind ein Prozeß, der von Weiterungen, Abweichungen bestimmt ist, das Angepeilte erfüllt sich nicht so, wie es sich der Betrachter sich normalerweise vorgestellt. Janz’ Wirken zielt auf die Wiederherstellung der zerstückelten Einheit von Musik, Sprache und Bewegung, von Kunst und Leben. Die Textgestalt traditioneller Lyrik hat die Autorin weit hinter sich gelassen. Die herkömmlichen lyrischen Ordnungsprinzipien wie Verse, Strophen und Reime werden von ihr außer Kraft gesetzt durch verschiedene Formen der Überschreibung und Rekombination des Urtextes. Die Aura poetischer Texte wird überschrieben, mit groben Streichungen und handschriftlichen Eingriffen in die Verse. So entsteht eine Poethologie des Flüchtigen, die den Fragmentarismus dieser Zeit spiegelt. Mit der Offenheit der Form polemisiert Janz in ihren Fragmenttexten gegen die Affirmationsmaschine des Literaturbetriebs. Wir setzen auch in 2019 die Reihe fern, fern fort.

Meister der Kurzform

Wir verliehen Karl Feldkamp – einem Meister der Kurzform – den KUNO-Twitteraturpreis 2014. In unterschiedlichen Felder der Literatur zu Hause hat sich der gestandene Lyriker und Essayist neuen Formen gegenüber aufgeschlossen und vermag dies auch zu begründen, für ihn ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Feldkamp behilft sich mit der scheinbar einfachsten Form der Literatur. Seine Twitteratur sind Miniaturen in Prosa, sie sind präzise, witzig, und philosophisch. Seine Twitteratur zeigt dem Leser wie klein Geschichten sein können. Wie entbehrlich Handlung ist. Dies ist keine Lyrik, weil sich in Lyrik Wörter vor allem aufeinander beziehen. Diese Twitteratur verweist auf Reales, es ist der Kern, um den herum eine unendliche Vielzahl von Formen aufblüht – ein Aperçu, eine Aufzählung, ein Witz, ein Paradox. Das Schreiben ist zum einen Erkenntnismedium, und des weiteren Schauplatz individueller und kollektiver Handlungsweisen in einem gesellschaftlichen, politischen Rahmen. Twitteratur darf sich von allen Literaturgattungen bisher den geringsten Zuspruch erwarten. In 2019 stellen wir den Lyriker vor.

Onomapoetisches Zirpen

Wie präzise Sophie Reyer mit der Sprache zu arbeiten vermag, blitzte bereits in binnen auf. Ihre Lyrik ist intelligent und spielerisch. Sie ist eine schöpferisch Ver / rückte, sie kann gar nicht anders, als das, was ihr begegnet, zu verknüpfen und in ein Kunstganzes zu überführen, buch / stäblich alles: Menschen, Bücher, Töne, Mythen. Unbekümmert, mit einem feinen stilistischen Gespür mischt sie Genres, verbindet Analysen mit Impressionen, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück. KUNO hat ein ausgesprochenes Faible für diese Art des Textens, deshalb setzen wir dies gleichfalls weiter fort.

Entweder reichen wir einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber.

Zygmunt Bauman

Gedichte bedeuten für Holger Benkel etwas, das Seamus Heaney so beschreiben hat: “die Authentizität archäologischer Funde, wobei die vergrabene Tonscherbe nicht weniger zählt als die Ansiedlung; Dichtung als Ausgrabung also, als das Ans–Licht–Holen von Fundstücken, die am Ende als Pflanzen dastehen.” Es um eine Phantasie, die zugleich frei und verbindlich ist. Klarheit und Magie waren für Benkel keine Widersprüche. Dies belegen auch seine neuen Gedichte.

Der Hungertuchpreisträger denkt in Zusammenhängen, die immer auch das Ganze und das Kommende betreffen. Bereits in der Renaissance beriefen sich Lyriker, die auf die strenge Bindung der Verse durch Rhythmus und Reim verzichteten, auf das Vorbild der Antike. Sie konnten in den Gesängen Pindars, aber auch in den Psalmen der Bibel kein Metrum und keinen Gleichklang der Endsilben entdecken. In ältester Vorzeit waren die Vorläufer unserer heutigen Gedichte sprachmagische Werkzeuge. Ihrer bediente man sich einzelweise oder im Chor, um sich Götter und Gegenstände gefügig zu machen. Gedichte waren Gesang, und zu diesen beiden gesellte sich der Tanz. Erst durch das Nachstellen ritueller Schrittfolgen wurde die Entstehung der Versfüsse, der Hebungen und Senkungen im Versfluss, plausibel und deutlich. Benkel beleuchtet die oft vergessen magischen Quellen der Dichtung, als da sind: der Schamanismus, die animistische Anrufung, der Beschwörungszauber. An ihrer archaischen Quelle ist die Dichtung Gesang und das Geheul des Priesters und Heilers. In dieser frühen kultischen Praxis sind die Seele und die Dinge noch nicht voneinander getrennt, die Materie, die Tiere, Pflanzen und Menschen sind ineinander verwandelbar. Mitunter scheint es, als ginge Benkel auf Runensuche und zeichnet auf, was im Gedächtnis des Volkes an Liedern, von Sängern und Sängerinnen während Jahrhunderten mündlich überliefert worden waren.

Das Unbehagen an der modernen Kunst ist im Grunde nichts anderes als das Unbehagen an der Kunst überhaupt.

Hellmuth Karasek

Wir schätzen beim Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) ein Pingpong der Positionen; gerade die ästhetische Gegenposition eines Ulrich Bergmann. Er ist ein Glücksgeborener. Und damit meine ich nicht nur das äußerliche Glück, sondern die seelische und psychische und, davon ausgehend, geistige und kulturelle Prädisposition und Begabung für Glückswahrnehmungen, die ihn selbst noch die Ironisierungen und Parodien seiner eigenen glücksbezogenen Größenphantasien als Glück erleben läßt. Gegen die Auffassung, daß die Verschmelzung von Glück und Kunst eine vormoderne Vorstellung sei, setzt er seine Modernisierungen des Glücksempfindens. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er freilich, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich Liebesakt, Geburt, Sterbemoment, Seelenwanderung, Auferstehung und Erleuchtung vereinen müßte.Wir verleihen Ulrich Bergmann für die Reihe „Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben” den KUNO-Lyrikpreis 2016. Wir setzten die Zusammenarbeit auch in 2019 mit dem Zyklus Kritische Körper fort’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Andy Warhols berühmtes Diktum von den fifteen minutes of fame hat sich im Zeitalter der asozialen Medien in fifteen minutes of shame gewandelt

Die künstlerische Aneignung des Alphabets als Ursprung unseres abendländischen Denkens, der Siebenmeilensprung zwischen Alpha und Omega – ein gewagter Entwurf. Daß sich Haimo Hieronymus das Alphabet vornimmt, es bebildernd lexikalisch durchexerziert, ist die konsequente (Weiter-) Entwicklung seines gattungsübergreifenden Arbeitens. Sprache, Wörter, Buchstaben finden sich seit Jahren auf seinen Leinwänden, Pappen und Papieren. Dieser Künstler verwandelt die Zeit mit der Schrift in ein sichtbares Element. Diese künstlerische Tradition wird mit einer avancierten Katalogreihe fortgesetzt. Die quadratische Form der Kataloge ist eine läßiger Insiderwitz, sie hat sich gleichwohl als praktisch erwiesen und die Größe ist gut für die Abbildungen der künstlerischen Arbeiten. Dem Alphabetikon Katalog von Haimo Hieronymus folgte die mit dem lime_lab ausgezeichnete Wortspielhalle von Sophie Reyer und A.J. Weigoni, das von Karl Hosse angeregte Gezeitengespräch und die von Stephanie Neuhaus initiierte Super Speed Art Exhibiton Tour. Im Katalog Partiale trifft der Formerfinder Hieronymus auf den Allegorienschöpfer Weigoni. Hier machen die Künstler dem Betrachter klar, daß es bei ihren Arbeiten nicht um die vorgelegten Dinge und deren faktische Bedeutungen geht, sondern um ironische Diskrepanzen, um ein poetisches Verwirrspiel mit Worten, Bildern und Gegenständen, das sich  zwischen den Kunstgattungen Lyrik, Bildhauerei und Malerei ereignet.

Außerhalb dieser Reihe erschien  der Auftakt einer dicken Schwarte: Zyklop I ist mit einer partikularen Sichtweise eine ebenso wunderbare, wie irritierende Erfahrung. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen, denn Haimo Hieronymus will unbestreitbar Schönheit schaffen und er will hier nicht weniger als von allem erzählen: Vom Großen, Ganzen, vom Kosmos, von der Schöpfung. Gar vom Leben selbst, indem er in die Vollen greift, ohne Angst, etwas falsch zu machen. Kunst erkennt man daran, daß sie das Ewige sichtbar macht, Bilder werden zu einem idealen Erkenntnismedium. Zyklop I ist ein sakrales Kunstprojekt ohne religiöse Dogmen.

Dieser Zyklus setzt sich in 2019 mit Zyklop II fort. Das Zyklop-Projekt bildet die Wahrnehmung nicht einfach ab, es strukturiert eine Kultur zwischen Empfindsamkeit und Abbildung. Das meiste findet Hieronymus ohne zu suchen und freut sich über Details. Und trotzdem inszeniert er immer wieder, gerade wenn es darum geht, das Einzelne, das Vereinzelte abzulichten. Dann arbeitet er gerne in seiner Küche auf den Arbeitsplatten aus Holz, sie geben ihm die Objektivität für die Sache, ohne eine neutrale Kälte auszustrahlen, sondern um das Wesen einzufangen. Es ist ihm offensichtlich völlig egal, in welche Kategorien ein Werk zu pressen sei, es ist ihm auf den ersten Blick hin auch die Form gleich, das Bild muss funktionieren, das ist wichtig. Selten wird bei ihm zusammengestellt, sondern meist wie vorgefunden abgelichtet. Er arbeitet mit seiner Kamera, ist sie nicht zur Hand, dann greift er auf das Mobiltelefon zurück. Das macht es nicht schlechter, aber direkt, wirkt skizzenhaft, eine Zeichnung mit Licht. Und nichts geht verloren. Dann kann er auswählen, dann finden sich die Zusammenhänge und manchmal wird das Gesehene dabei völlig absurd, beim zweiten und dritten Blick.

Literatur ist keine schreibende Kunst, sondern eine Kunst der Auswanderung.

Ein alter Wegbegleiter der Kulturnotizen ist Herr Nipp. Eine regelmässige Abfolge seiner Geschichten erscheinen 2016 wöchentlich auf KUNO. Nach der überwältigenden Resonanz auf den ersten Band »Die Angst perfekter Schwiegersöhne« kann man diese wöchentlichen Wortmeldungen als eine Erkundung vom Mittelmäßigen und Übermaß bezeichnen, abermals fürsorglich begleitet durch den sauerländischen Synergetiker und Hungertuchpreisträger Haimo Hieronymus. Und abermals sind es Geschichten vom unbekannten Verlust. Das wiederkehrende Motiv ist das Individuum, das durch die Moderne strauchelt, herumgeschubst wird, viele Niederlagen erlitten und die Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung seiner Lage aufgegeben hat. Herr Nipp scheitert mit Würde, will anständig und nicht peinlich sein auch wenn das nicht immer gelingt. Haimo Hieronymus beschreibt die kleineren und größeren Lebenslügen, die es für das glückende Leben braucht: ein wenig zwischenmenschliche Verkommenheit für die Karriere, ein bisschen Ehebruch, die paar im Laufe des Lebens angeeigneten Neurosen, vor denen man die Augen schließt. Als Identifikationsangebot für soziale Bewegungen eignen sich die Texte nicht, Herr Nipp wurschtelt sich allein oder mit Freunden durchs Leben, seine tragische Geschichte wird nie mit Pathos, sondern auf eine Weise leicht und humorvoll erzählt. Die Edition Das Labor setzt weiterhin unbeirrbar das Muskelspiel des beherzten Zugriffs, aus dem Metaphysischen wird die Schrift ins Physische geholt, in Künstlerbücher. Diese bibliophilen Kostbarkeiten sind eine ´Ware`, die kein Mindesthaltbarkeitsdatum tragen. Zwei Beispiele: Haimo Hieronymus präsentierte 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Wir finden in diesem Buch sprachliche Floskeln, die noch nicht etabliert sind, unverzeihliche Versprecher und Ausrutscher, die zu sprachlichen Kollateralschäden führen. Neben dieser Twitteratur finden sich in schlüssiger Abfolge einige Zeichnungen und Aquarelle abgebildet.

Wo endet Schrift und wo beginnt die Zeichnung?

Katja Butt arbeitet als Videokünstlerin, Zeichnerin und Fotografin – mit diesen Medien untersucht sie architektonische Prinzipien und Zusammenhänge. Ihre Zeichnungen und digital bearbeiteten Fotoarbeiten zeigen ebenso ein Interesse für Architektur, wie sie deren statische Tendenzen durch die Lust an Dynamik und instabilen Raumsituationen erweitern. Butts Kunst fordert den Betrachter heraus, mehr von dem, was er sieht, auch ernst zu nehmen. Wir leben in einer bilderreichen Zeit und lassen uns von einer Pixelflut durch die Tage schwemmen. Transformation, lautet das Stichwort. Der Eros der Kunst von Butt liegt in der Biologie der Existenz: der puren Freude und der Lust an Fleisch und Geist. Es verbleiben Pfeile mit Widerhaken, die im Gedächtnis des Betrachters verankern.

KUNO ist der Ansicht, daß spätestens seit  Gutenbergs genialer Erfindung und der Verbreitung von Martin Luthers 95 Thesen die Autorschaft eine wesentliche Grundvoraussetzung für jedwede Selbstbeschreibung einer aufgeklärten Gesellschaft ist. Nicht nur Dichter des 18., auch Künstler des 20. Jahrhunderts setzen ganz bewußt auf Künstlerbücher.

Schablonendruck mit Acrylfarbe auf schwarzem Buchkarton von Haimo Hieronymus. Auflage 100 Exemplare.

Randständigkeit bleibt das Lebensprinzip der Poesie

Vom Rand aus arbeiten wir auf dem Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) daran, den  Kanon zu erweitern. Die Idee zum Projekt Das Labor ist ein viertel Jahrhundert alt. Wer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten 30 Jahren die Entstehung einer Edition beobachten, die weder mit Pathos noch mit Welterlösungsphantasien daherkam. Die zeitliche Abfolge der projektorientierten Arbeit ist nachzuvollziehen in der Chronik der Edition Das Labor. Weitere Porträts finden Sie in unserem Online-Archiv, z.B. eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel außerdem Ulrich Bergmann, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz. Lesen Sie auch den Essay über die Arbeit von Francisca Ricinski und eine Würdigung von Theo Breuer. Und nicht zuletzt den Nachruf auf Peter Meilchen.

 

 

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630, Buch / Katalog-Projekt  von Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Bad Mülheim 2018.

Covermotiv von Krumscheid / Meilchen

Bisher sind in der Edition Das Labor DVDs, ein Hörbuch und ein Roman von Peter Meilchen erschienen. In 2014 erinnerte der Kunstverein in Linz mit einer Ausstellung an den Künstler, in der erstmals die Reihe Frühlingel vorgestellt wurde. Zu diesem Anlass erschien mit der Wortspielhalle eine Publikation, die als Role Model für dieses Buch / Katalog-Projekt dient, das zum 10. Todestag am 27.10. 2018 erschien. Das Buch/Katalog-Projekt 630 – mit bislang nicht gezeigten Arbeiten des Künstlers – gibt einen konzisen Überblick über die künstlerische Arbeit von Peter Meilchen in Linz und in der Werkstattgalerie Der Bogen.

Weiterführend →

Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni die Literaturgattung der Novelle neu.

Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Die Künstlerbucher sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421