Aus dem Wagner–Baukasten

 

Es tut sich was in der Oper! Als gäbe es eine geheime Verabredung, ist neuerdings plötzlich etwas denkbar in der Gattung Oper, was vorher als in Stein gehauenes Tabu galt. Nämlich der beherzte Eingriff in die Partitur.

Seit Walter Felsenstein das Regietheater für die Oper erfand, ist auf der Opernbühne (fast) alles erlaubt in Sachen Umdeutung, zeitliche Verlegung und zuspitzende Radikalisierung. Selbst im Blut–, Schweiss– und Tränen–Theater steht die Gattung Oper – wohlgemerkt nur in der mitteleuropäischen Inszenierungs–Tradition – dem Sprechtheater schon lange um Weniges nach. Aber der Notentext und seine vom Komponisten festgelegte Abfolge blieben bislang weitgehend unangetastet.

Traditionelle Anti–Dekonstruktion

Ganz anders eben als im Sprechtheater, wo der Text schon lange als Material betrachtet wird, als Steinbruch und offenes Gebilde, von dem sich bedient, an das nach Belieben angedockt werden darf. In der Oper bzw. im Musiktheater gingen die Bestrebungen sogar lange Zeit in die Gegenrichtung, denn die Bewegung der historischen Aufführungspraxis mühte (und müht sich nach wie vor) in verbürgter Spieltechnik und Besetzung dem ersehnten Original, so wie es zur Zeit seiner Schöpfung erklungen sein mag, möglichst nahe zu kommen.

Doch im vergangenen Jahr begab es sich, dass mindestens an drei mehr oder weniger prominenten Orten des klassischen Musikbetriebs Frevel am Kunstheiligtum begangen wurde. Noch dazu an zwei Giganten der Oper: Mozart und Wagner. Die Ergebnisse frappieren und ermutigen gleichermassen.

Salzburg: Total–Umbau einer Mozart–Oper

Bei den Salzburger Festspielen, dem immer noch wichtigsten und grössten Klassik–Festival der Welt, riskierte der neue Intendant Markus Hinterhäuser gleich zum Auftakt seines ersten Festival–Jahrgangs einen Paukenschlag: Mit dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars und dem Dirigenten–Derwisch Teodor Currentzis holte er ein experimentierfreudiges Duo ins Mozart–Mekka. Currentzis war mit seinem im russischen Nowosibirsk gegründeten musicAeterna–Ensemble für radikale Mozart–Deutungen bekannt, doch ging es ihm nun nicht mehr nur um aufrauende Phrasierungen und dynamische Extravaganzen, sondern um einen Total–Umbau von Mozarts später und als spröde geltender Opera Seria „La Clemenza di Tito“. Moderate Kürzungen hat es in Mozarts Opern bereits in früheren Zeiten gegeben, auch gab es immer wieder Versuche, die gesprochenen Texte in seinen Singspielen „Die Entführung aus dem Serail“ oder „Die Zauberflöte“ durch neue oder Fremd–Texte zu ersetzen. In Salzburg wurden die langen Rezitative kompromisslos eingekürzt, und Sellars und Currentzis implantierten die Filetstücke aus Mozarts früher c–moll–Messe in die Oper.

Eine in jeder Hinsicht riskante Dekonstruktion, da sie der Opera Seria eine spirituelle Dimension hinzufügt, ja aufdrängt. Aber siehe da: Die Implantate erzeugen einen geradezu magischen Kurzschluss des Dramatischen – der Oper – mit dem Spirituellen – der Messe – , ohne dass die Kreuzung zum esoterischen Gottesdienst verkommt. Sellars und Currentzis entlarven vielmehr Herrscherlob und den Wunsch nach Befreiung als im Kern spirituelles Bedürfnis, das aber nur in einer säkularen Humanität einzulösen ist.

Das ist nicht nur dramaturgisch ungeheuer erhellend, auch musikalisch funktionieren die Implantate erstaunlich gut, denn die viel früher komponierte Messe fügt sich erstaunlicherweise perfekt in die Klangwelt der späten Oper ein. Ein geglücktes Experiment also, denn es stellt sich ein höheres Verständnis von Mozarts Auftragsoper ein, deren Werben um Milde und Vergebung man bisher nie so recht folgen konnte. In dieser Fassung und in der hohen Konzentration der Aufführung gewinnt das Werk eine neue Plausibilität und Brisanz.

Schwieriger Fall: Wagner

Auch der grosse Gesamtkunstwerker Richard Wagner, der wie kein Zweiter in allen Details über sein Werk wachte, war 2017 nicht sicher vor offensiven Eingriffen in seine dagegen eigentlich immun geglaubten Partituren. Schon allein ihre durchkomponierte Technik sollte sich doch eigentlich gegen Kürzungen oder Pasticchio–Tricks sperren, die in Barock–Opern damals üblich und heute längst wieder geläufig sind?

Gewiss hat es immer wieder Versuche gegeben, sich an Wagners Werken – zumeist verkleinernd – abzuarbeiten. Kabarettistisch–ironische Juxereien à la „Der Ring an einem Abend“ von Loriot oder Spöttisches wie „Wagner for sale“ an der Neuköllner Oper Berlin. Die Nürnberger Pocket Opera mit ihren Wagner–Adaptionen. Oder Frank Castorf, der die „Meistersinger“ 2006 an der Volksbühne mit Mini–Orchester und kratzigem Schauspieler–Gesang auf Krawall bürstete. Auch gab es schon Wagner–Überschreibungen – wie den (harmlosen) Versuch von Helmut Oehring im Wagner–Jahr 2013, den „Holländer“ mit raspelnden Klängen zu überpusten (Uraufführung in der Deutschen Oper am Rhein). Nicht zu vergessen just 2017 den „Mondparsifal“ in Wien und Berlin, eine Gemeinschaftsarbeit des Total–Künstlers Jonathan Meese mit dem Komponisten Bernhard Lang, der mit Material aus dem originalen „Parsifal“ eine neue Partitur geschrieben hat und vor allem mit Loop–Techniken arbeitete.

Wuppertal: Wagner + Goebbels

Doch die originale Wagner–Partitur ganz aufzubrechen und anders zusammenzusetzen bzw. Fremdes anzubauen, das gab es vorher so nicht, aber gleich zwei Mal im vergangenen Jahr: in Wuppertal und in Wien. In Wuppertal verklammern Jay Scheib (Regie) und Johannes Pell (musikalische Leitung) den dritten Akt der „Götterdämmerung“ mit Teilen von Heiner Goebbels‘ „Surrogate Cities“. Die scheinbar krude Paarung ergibt einen schlüssigen Abend, der Wagner keineswegs beschädigt, sondern geradezu irritierend elegant andockt an Goebbels‘ scharf pulsierenden Metropolen–Sound. Ist der nicht wiederum eigentlich eine Avantgarde–Fortschreibung von Wagners Nibelheim–Geräuschmusik aus dem „Rheingold“? Das ist die erste Assoziation, die sich aufdrängt, wenn der Abend mit Teilen aus „Surrogate Cities“ anhebt.

Während Goebbels‘ Repetitionen stampfen, betritt eine Gestalt in verdreckter Biker–Kluft die Bühne. Es ist die Baritonista Lucia Lucas, die später Hagen sein wird. Hagen zieht sich aus, duscht sich und wühlt aus dem abgespülten Schlamm in der Dusche einen vielsagenden Ring hervor. Dann erscheint eine Frau in Weiss – später Gutrune – und starrt auf ein Schwert, das in der Wand hängt. Hagen kramt daraufhin in einer Plattensammlung und legt Wagners „Rheingold“ auf, das Orchester bricht „Surrogate Cities“ ab und spielt ein paar Takte „Rheingold“.

Es ist unmöglich, all die vielschichtigen Bezüge zwischen Goebbels und Wagner aufzuzählen, die Regisseur Jay Scheib dem kundigen Wagnerianer anbietet. Aber auch den Unkundigen lockt der Verlauf des Abends in ein Weltuntergangsszenario, das von „Surrogate Cities“ nahtlos übergeht in den dritten Akt der „Götterdämmerung“, der einen nach Siegfrieds Tod kaltschnäuzig in die Pause entlässt. Noch harscher dann der zweite (Tabu)–Bruch: Nach Brünnhildes Schlussgesang hebt Johannes Pell erneut sachlich den Taktstock, und weiter geht’s mit Goebbels‘ „Three Horatian songs“ auf Texte von Heiner Müller. Dieser Abend funktioniert also durch Brüche und die überraschende Anschlussfähigkeit von Wagner und Goebbels.

Wien: „Ring“ um ein Drittel gekürzt

Wie biegsam und belastbar Wagners Werk als Material ist, zeigt auch das Wiener Wagner–Experiment, wenn auch ganz anders: Am Theater an der Wien hat Regisseurin Tatjana Gürbaca im Team mit ihrer Dramaturgin Barbara Auer und dem Dirigenten Constantin Trinks Wagners „Ring“ dekonstruiert und die gekürzten Teile der Tetralogie neu montiert zu einem gigantischen Loop. Tatsächlich scheint Wagners‘ fatale Familiengeschichte ja von Wiederholungszwängen geprägt und ist auch schon als unendlich sich wiederholender Untergang inszeniert worden.

Aber das Wiener Team geht wesentlich weiter. Wobei Wagners Musik weder verfremdet noch überschrieben wird, sondern „nur“ umgebaut: Aus vier langen Abenden und etwa 15 Stunden Musik wird in Wien eine knapp zehnstündige Trilogie, die ihren Blick auf die zweite und dritte Generation der Protagonisten richtet: auf die Söhne und Töchter der Götter also, Menschen, die mit der Schuld und den Schulden ihrer Ahnen fertig werden müssen. Der Schlüsselmoment, von dem alles weg und zu dem alles hinführt in dieser Neufassung, ist der Mord an Siegfried durch Hagen.

Wagner bietet Material und erzähltechnische Inspiration

Wagner begann 1848 genau an dieser Stelle mit dem Dichten des Librettos. Auch der Kunstgriff des Erzählens in der Rückschau, der für Gürbacas Neufassung zentral ist, verweist auf Wagners Erzähltechnik, die sich durch sein gesamtes Werk zieht. Gürbaca und ihr Team erzählen den „Ring“ aus Sicht der drei Beteiligten der finalen Mordszene: Hagen, Siegfried und Brünnhilde. Alle drei Abende beginnen mit Donnergrollen zu einem stummen Vorspiel, das den Mord zeigt.

Der erste Abend gehört dem Mörder Hagen, es geht los mit der ersten Szene des zweiten Akts der „Götterdämmerung“, es folgen aus „Rheingold“ das Vorspiel, die erste, dritte und vierte Szene und dann wieder sechs Szenen aus der „Götterdämmerung“. Diese weiten Sprünge sind musikalisch verbunden durch die höhere Logik der Leitmotive und werden zudem szenisch beglaubigt durch Gürbacas – lange Erzählstränge sichtbar machende – Personenführung. Die Geschichte der Auslöschung und Traumatisierung des Sohnes Hagen, seine Instrumentalisierung durch seinen seinerseits zutiefst erniedrigten Vater Alberich erzählt Gürbaca mit den „Rheingold“–Szenen, in denen der kindliche Hagen dem grausamen Spiel der Rheintöchter und der folgenden Überwältigung seines Vaters durch den gewaltbereiten Wotan und Loge beiwohnen muss.

Werk schlägt Autor, es gewinnen die Figuren

Das Wagnis der radikalen Dekonstruktion bietet neue und überraschende Sichtweisen und Hör–Eindrücke in Wagners Monumentalwerk. Am letzten Abend „Brünnhilde“, wenn der Mörder Hagen wieder auftaucht, hat man das Gefühl, Wagners erratischen Figuren wirklich näher gekommen zu sein. Der Wust an Verstrickungen hat sich nach den drei Abenden gelichtet, geordnet und zum gewaltigen Schuldzusammenhang zugespitzt. Die Figuren gewinnen durch die Beleuchtung von Vor– und Nebengeschichten an Fallhöhe, Tiefenschärfe und Menschlichkeit. Der orthodoxe Wagnerianer wird sich schwer tun mit diesem abgespeckten Remix der Tetralogie. Erhellend und in der analytischen Durchdringung Massstab setzend ist die Neufassung allemal.

Fazit: Dass das Werk mehr weiss als sein Autor, gab schon Heiner Müller gern zu Protokoll – um zu unterstreichen, dass ein Kunstwerk ein Eigenleben führt, weit mehr als nur die Summe der Absichten seines Schöpfers ist. Gilt das nun auch für Partituren? Endlich auch „nur Material“? Die neuen Versuche sprechen dafür. Was wäre nicht alles denkbar? Im Falle Wagners: den „Lohengrin“ mit „Parsifal“ kurz schliessen? „Tristan“ mit dem „Holländer“? Nur zu.

 

 

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Der kleine Wagnerianer: Zehn Lektionen für Anfänger und Fortgeschrittene, von Enrik Lauer und Regine Müller, Beck C. H., 2013

Weiterfühend →

Flankierend zum Kollegengespräch eine Leseprobe aus Der kleine Wagnerianer, die der Beck-Verlag aus dem Buch zur Verfügung stellt.

Eine andere Lesart präsentiert Ulrich Bergmann auf KUNO.

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