Dieses Europa hat keine andere Utopie als jene, die sich zwangsläufig aus den Unternehmensbilanzen und Buchführungen ergibt, kein positives Projekt, nur das der shareholders, denen es nur noch um maximale Renditen geht, denen Bildung und Kultur nur noch als Produktionsfaktor in den Sinn kommen [….] es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen [….]
Mit diesem kräftigen Zitat vom Buchrücken des Werkes Gegenfeuer von Pierre Bourdieu leitet Raffael Scholz seine Diplomarbeit ein. Der Soziologe gab ihr den Titel „Neoliberalismuskritik mit Pierre Bourdieu – Von der Mont Pèlerin Society zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Sie kann über den Link aufgerufen werden.
Wie das? Sollen wir jetzt auch noch soziologische Diplomarbeiten lesen, in die sonst bestenfalls nur der prüfende Professor und vielleicht ein paar Institutsmitglieder reinschauen?
Genau. Das Ding liest sich nämlich wie ein Krimi. Raffael Scholz hat es geschafft, dem Neoliberalismus und seiner Geschichte ein Stück seines intransparenten Fells abzuziehen. Obwohl die Arbeit bereits an mehreren Stellen im Netz verfügbar ist, wird sie hier ein weiteres Mal republiziert. Und das verbunden mit der Hoffnung, diese komplizierten Zusammenhänge für noch mehr LeserInnen nachvollziehbar zu machen, den Neoliberalismus und seine Wirksamkeit verständlich zu machen.
Zu Zeiten des kalten Krieges war hierzulande von einigen Pressevertretern und Politikern des öfteren von der Gefahr der kommunistischen Unterwanderung des Westens die Rede. Und zwar mit dem Ziel, den ein oder anderen Vertreter linker oder sozialpolitischer Denkrichtungen zu diskreditieren. Heute müssen wir feststellen, dass die neoliberalen Unterwanderstiefel wesentlich besser funktioniert haben, dass es dem Neoliberalismus gelungen ist, zu vielen gesellschaftlichen und politischen Fragen die Agenda zu bestimmen und wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in den westlichen Gesellschaften zu nehmen. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung bei der Mont Pèlerin Society.
Dieses von Friedrich August von Hayek im April 1947 initiierte Treffen von 36 liberalen Intellektuellen am Mont Pèlerin – bei Vevey am Genfersee, zwischen Lausanne und Montreux – kann als Startschuss einer weltweiten Gründungswelle von zahlreichen neoliberalen Denktanks verstanden werden, denen die auf dem Treffen gegründete Gesellschaft als Anregung und Vorbild diente.
Nun ist es nicht so, dass man den Neoliberalismus einfach als eine monolithisch daherkommende geschlossene Ideologie verstehen kann, und schon gar nicht als eine Art von Verschwörung. Den Beteiligten ist aber gemein, dass es ihnen um politische und wirtschaftliche Einflussnahme, um Macht geht. Die Forderung nach einer logischen Konsistenz der theoretischen Vorstellungen blieb dabei völlig auf der Strecke.
Etwas vereinfacht kann der Neoliberalismus auf zwei Wurzeln zurückgeführt werden, erstens die Chicagoer Schule der ökonomischen Theorie, die behauptete, dass die Wirtschaftswissenschaften ebenso wie die Naturwissenschaften universell gültige Gesetzmäßigkeiten beschreiben, sowie zweitens die Österreichische Schule – u.a. um den bereits genannten Friedrich August von Hayek – in der die Ansicht vorherrschte, dass naturwissenschaftliche Methoden nicht auf die Gesellschaft anwendbar seien. Diese elementare Meinungsverschiedenheit tat jedoch der Begeisterung für die bloße Idee des freien Marktes keinen Abbruch. „Wie man ihn theoretisch begründete, spielte letztlich keine Rolle.“[2] Das schreibt der britische Philosoph John Gray, der selbst Mitglied der Mont Pélerin Society war und 1996 aus ihr austrat.
Ein Zitat Hayeks betont die Überlegenheit der sog. freien Marktwirtschaft:
„Dass in die Ordnung einer Marktwirtschaft viel mehr Wissen von Tatsachen eingeht, als irgendein einzelner Mensch oder selbst irgendeine Organisation wissen kann, ist der entscheidende Grund, weshalb die Marktwirtschaft mehr leistet als irgendeine andere Wirtschaftsform.“ [3]
Durch die unreflektierte Annahme einer höherwertigen Rationalität des Marktes, die mehr sein soll als die Summe der Rationalitäten der einzelnen Marktteilnehmer (homo oeconomicus) und die vom Neoliberalismus daher über die Rationalitäten der Individuen gestellt wird, gewinnt der Neoliberalismus von der Struktur her quasireligiöse Züge. Er vergötzt den Schwarm der Marktteilnehmer und predigt faktisch Anpassung, Unterwerfung und Selbstaufgabe für das Individuum.
Diese Predigt erfolgt jedoch nicht offen sondern über Gesten der Verführung, des Versprechens auf Selbstverwirklichung und Selbstgenuss, das jedoch der neoliberalen Wettbewerbslogik folgend ganz zwangsläufig wenige Gewinner und viele Verlierer produziert. Reduziert man auf die ökonomischen Verhältnisse, dann reicht allein die sich immer weiter verschärfende globale Vermögensverteilung [4] als Aufweis.
Einer der fundamentalen Widersprüche des Neoliberalismus „ist der zwischen dem in der neoliberalen Rhetorik so vielbesungenen ‚freien Markt‘ und der Tatsache, dass der Neoliberalismus vor nichts eine größere Angst hat als vor einem wirklich freien Markt. Der ‚freie Markt‘ ist nur für die ökonomisch Schwachen, ob Personen oder Staaten, gedacht, während die ökonomisch Starken, insbesondere Großkonzerne, durch staatliche Interventionen vor ebendiesen Kräften zu schützen sind. Der Neoliberalismus benötigt also für seine eigentlichen Ziele, nämlich die einer Umverteilung und beständigen Akkumulation, ganz wesentlich den starken Staat, der die ‚Marktfreiheit‘ in seinem Sinne reguliert.“[5]
Am vorläufigen Ende der Entwicklung, die an dem Hügel in der Schweiz einen ihrer Anfänge hatte, steht u.a. die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die wie auch in Scholz‘ Arbeit erwähnt durch unseriös geführte Kampagnen auffiel. So sah sich die INSM dem Vorwurf der Beeinflussung von Drehbüchern der Fernsehserie Marienhof der ARD ausgesetzt.
Der Soziologe Raffael Scholz – Auslöser dafür war in der Tat seine hier republizierte Diplomarbeit – konnte von der Piratenfraktion NRW als Rechercheur und freier Referent angeworben werden. Er war zwischen 2015 und 2016 für mehrere Monate freier Mitarbeiter der Fraktion und führte eine umfangreiche Recherche durch auf deren Basis die Fraktion am 06.04.2016 ihre große Anfrage zur politischen Einflussnahme der Bertelsmann-Stiftung auf die Landesregierung NRW stellte.
Näheres dazu mit allen dazugehörigen Links findet man in zwei Telepolis-Beiträgen von Thomas Barth, hier und hier. Darüber hinaus muss in diesem Zusammenhang noch auf ein Interview mit Dieter Plehwe hingewiesen werden, der lange u.a. zur Mont Pèlerin Society geforscht hat.
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Weiterführend →
TRANS- … Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen. Die Totholz-Variante ist vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.
Lesen Sie auch das Porträt von Joachim Paul → Ein Pirat entert das Denken
Quellen:
[1] Bourdieu, Pierre; Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz 1998
[2] Gray, John; Politik der Apokalypse – Wie Religion die Welt in die Krise stürzt; aus dem Englischen von Christoph Trunk, Klett Cotta, Stuttgart 2009; Original: „Black Mass. Apocalyptic Religion and the Death of Utopia“, Farrar, Strauss and Giroux, New York 2007
[3] Hayek, Friedrich A. von (2001): Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Aufsätze zur Wirtschaftspolitik. Hg. v. Viktor Vanberg. Tübingen 2001, S. 76
[4] Piketty, Thomas; Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014
[5] Mausfeld, Rainer; Berger, Jens; Interview: Die neoliberale Indoktrination; Nachdenkseiten 2016; http://www.nachdenkseiten.de/?p=30286#more-30286