Vorbemerkung der Redaktion: In unregelmäßiger Abfolge stellen wir auf den Kulturnotizen Literaturzeitschriften vor. Die fünfte Ausgabe des zweisprachigen Literaturmagazins The Transnational ist diesen Monat erschienen, KUNO bat den Herausgeber René Kanzler um einen Einblick in die redaktionelle Arbeit:
Wir brauchen uns nicht zu fragen, was die heutigen Probleme der Welt sind. Täglich werden wir über sie in Kenntnis gesetzt. Inwieweit wir die Nachrichten noch bewusst erleben und sogar reflektiert verarbeiten, ist ein anderer Problemkomplex. Fest steht allerdings: Die Informationsflut über Missstände im Kleinen wie im Großen scheint uns abstumpfen zu lassen. Als wirkliche Sensation gilt allerhöchstens ein Flugzeugabsturz, bei dem mindestens 200 Menschen, möglichst Reisende aus dem eignen Land, verstorben sind. Aber auch darüber sehen wir zusehends hinweg. Ist das Polemik und Übertreibung oder Realität?
Es nützt nichts, ein weiteres Mal zu pointieren, dass immer mehr Staaten rechtskonservativ werden, dass der Klimawandel bereits jetzt unsere Erde auf den Kopf stellt, dass Kriege weltweit herrschen oder im Entstehen begriffen sind, wir uns gegenseitig ausbeuten,nur noch wollen, dass es uns gutgeht, wobei wir das Wohlergehen anderer bewusst ignorieren, wir immer weniger in der Lage sind, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, wir die Fähigkeit eingebüßt haben, die Rhetorik von Wortführern zu durchschauen und uns damit zufrieden geben, am Ende des Tages ein Smartphone in der Hand halten zu können, um soziale Medien als Ersatz für unser verlorengegangenes Sozialleben zu nutzen.
Die Analysen der Ursachen jener Schwierigkeiten sind auch bereits gemacht. Wie sehr wirdiese wahrnehmen und hinterfragen, ist wiederum eine andere Sache. 2016 kam es zur Veröffentlichung der Panama-Papers. Der Aufschrei war groß. Mehr geschah nicht. Ein Jahr später heißen sie Paradise-Papers – nach einer Woche Medienaufmerksamkeit geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Ich könnte noch tausende solcher Beispiele aufführen. Es ist aber müßig. Im Prinzip sind ganz andere Fragen zu beantworten:
Was können wir tun, um diese Probleme zu lösen?
Wie können wir angemessen auf sie reagieren?
Wie können wir vielleicht sogar präventiv agieren, um die Entstehung neuer Probleme zu verhindern?
Welche Aufgabe kommt dabei der Kunst zu?
Nehmen wir ein Gedicht, eine Geschichte, ein Essay, ein Buch, eine Zeichnung, ein Gemälde, eine Plastik, eine Skulptur, ein Musikstück, Wissenschaft, eingebettet in jene Erzeugnisse oder eine Kombination aus all dem, all das kann genau dann als Kunst betrachtet werden, wenn das jeweilige Werk vom Künstler erstens empfunden, zweitens durchdacht und drittens handwerklich gut, das heißt mit Empfindung und Gedanken ein hergehend, angefertigt wurde. Ob uns die Gedanken und Empfindungen oder sogar das handwerkliche Geschick erreichen beziehungsweise wir all das verstehen und ob uns das gefällt, kann der jeweilige Autor, Maler oder allgemein Künstler nicht beeinflussen. Das Erreichen des Lesers oder Betrachters hängt von vielen Faktoren ab, auf die nicht vollständig Einfluss genommen werden kann. Ein Kunstwerk stellt uns jedoch die Möglichkeit bereit, dass es von jemandem erreicht werden kann, und darüber hinaus die Chance, sich dazu zu positionieren:
Gefällt es uns? Spricht es uns an?
Können wir den vermittelten Gedanken folgen?
Ist es formvollendet?
Weist es Stärken oder Schwächen auf?
Widerspiegelt oder widerspricht es unserer Meinung oder unserer Haltung?
Was bedeutet das für uns?
Und noch viel wichtiger: Wie begründen wir unsere Antworten?
Und genau hier liegt eine mögliche Antwort auf die oben gestellten Fragen: Kommt Kunst jenen drei genannten Bedingungen nach, ist es möglich, einen Dialog nicht über das Kunstwerk selbst zu führen, denn dazu bedarf es der Erfüllung jener Bedingungen freilich nicht, sondern über das Kunstwerk hinaus. Im Dialog mit uns, mit anderen Lesenden, Hörenden, Betrachtenden oder mit dem Autor, Maler, Bildhauer, Musiker oder Wissenschaftler können wir uns sowie unsere Sichtweisen und die anderer Menschen kennenlernen. Was dabei entsteht, ist einer der schönsten Augenblicke im Leben eines Menschen: Es findet ein Austausch statt, ein Hinterfragen, eine Reflexion, ein Überdenken und sogar ein Neudenken und Neufühlen. Dass die Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung eines Kunstwerkes immer mehr verloren geht und wir es immer mehr versäumen, gescheite Gespräche zu führen, hat viele verschiedene Ursachen, auf die einzugehen müßig wäre.
Verwahrlosung hat viele Gesichter. Doch der Transnational hat den Anspruch, einen Beitrag dazu zu leisten, wieder zur Betrachtung von Kunst, speziell der Literatur, und dem Führen von Dialogen zu motivieren. Und im Idealfall verbleiben wir alle nicht nur beim Betrachten und Diskutieren, sondern wandeln unsere Eindrücke in gemeinschaftliche Taten um. Der eine oder andere mag aber gleich fragen: „Warum etwas tun?“ Ein weiterer wird meinen: „Es nützt doch ohnehin alles nichts!“ Ein Blick in die Regions und Weltnachrichten sollte genügen, um eines klarzumachen: Wird nichts getan, wird es auch bald für Skeptiker, Bewahrer des Bestehenden und die Resignierten keinen Anlass mehr geben, ihre Standpunkte zu vermitteln – denn irgendwann ist es einmal für alles zu spät.
Noch haben wir die Chance, etwas besser zu machen. Der Transnational soll dazu ein erster Schritt sein.
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Zu finden sind Beiträge von:
HGich.T, Josef M. Gaßner, Simon Alles, Michael Johann Bauer, Clifton Bates, Gary Beck, Gerhard Benigni, Lara Dolphin, Clive Donovan, Ingrid Herta Drewing, Gary Duehr, Carina Contreras, Stefan Gräfe, Gloria D. Gonsalves Mimi Hapig, Catherine Harnett, Wolfgang Hofer, Tobias Hoffmann, Shubhangi Joshi, Bastian Klee Karin Monteiro-Zwahlen, Marcus Nickel, James B. Nicola, James P. Piatt, Tim Rogers, Robert Ronnow Philipp Schaab, Daniel Schulz, Marlene Schulz, Addie Scoggin, Margarita Serafimova, Marina Sens Ron Singer, Bert Tecklenborg, Michael Timoschek, Andrascz Weigoni, Rudolf Weiler
Übersetzter: Paul Becker, Leah Griesmann, Maria Hesse, Conor O’Loughlin, Isabelle Poweleit, Anika Weidner, Rudolf Weiler