Über die Arten der Müdigkeit
Das Telefon klingelt mich aus dem Schlaf. Es ist meine Chefin, die einen neuen Auftrag für mich hat … Wahrscheinlich fangen so nicht wenige Romane an, schlechte Krimis auf jeden Fall, Essays selten, es sei denn, sie handeln von der Müdigkeit.
Ich versuche etwas von meiner Müdigkeit zu behalten, um gleich weiterzuschlafen. Es gibt ja verschiedene Arten der Müdigkeit, und die Müdigkeit kurz nach dem Aufwachen – ich nenne sie Nr. 1 – ist immer besonders … lecker, sie ist ein bisschen zäh und schmeckt nach … aber bevor ich darauf komme, wird sie mir von meiner Chefin entrissen, die meine volle Aufmerksamkeit fordert.
»… Sie müssen sich bei Familie Knust melden.« Sie ließ mir etwas Zeit, um über den Namen zu schmunzeln. »Aber wundern Sie sich nicht, wenn die beim erstenmal nicht dran gehen. Die lassen einen immer erst auf den AB sprechen, um zu hören, wer anruft …« Kein Wunder, denke ich, wenn doch die Chefin grundsätzlich mit unterdrückter Nummer anruft. »… Auch sonst sind die ein bisschen komisch«, fügt sie noch hinzu.
Ich bin zu neugierig und probiere es gleich, 11 Uhr vormittag – eine gute Zeit, der AB springt an, ich sage meinen Namen und weshalb ich anrufe, dann versuche ich es gleich nochmal und jemand nimmt ab. Eine Frau. Ob ich ihren Mann sprechen könne, ich sei die Vertretung für seine Zeitungstour. Der sei gerade nicht da, aber ich könne das auch mit ihr besprechen.
Jetzt fällt es mir ein, wie diese Müdigkeit schmeckt – nach süßem Weißbrot, nach …
Alle Straßennamen kenne ich nur aus abenteuerlichen Erzählungen, sie gehören zur Calenberger Neustadt, einem Stadtteil, der sich zwar mitten in der Stadt, aber in einem Nirwana befindet. »Gibt es denn ein aktuelles Tourenbuch?« Nein, nein, meint sie, das sei auf der Tour überhaupt nicht sinnvoll. »Mein Mann und ich haben LISTEN angefertigt, die sehr übersichtlich sind. Da können Sie gar nichts falsch machen. Heben Sie nur immer schön die Packzettel auf, bitte nichts auf die Listen draufschreiben. Das machen wir dann.« Jetzt ist es aus mit dem Nachgeschmack des Schlafs: selbstgeschriebene Listen – ein Graus! Wozu gibt es eigentlich das postkartengroße, genormte Tourenbuch für alle Zusteller? Und wenn ich die Listen noch nicht mal korrigieren darf, sind sie nutzlos, weil sich nun mal fast jeden Tag was bei den Abonnenten ändert.
»Sie sollen ja morgen schon mitgehen, wenn ich das richtig weiß. Ablagestelle ist das Archiv in der Altstadt. Mein Mann fängt immer so um Viertel vor 3 an.« Ich hoffe, mich verhört zu haben, denn das hieße ja um Viertel nach 2 losfahren und um 2 aufstehen, und dann braucht man sich gar nicht mehr hinlegen. »Die Auslieferer sind aber doch selten vor halb 4 da …«, wende ich ein. »Um Gottes Willen, nein, das ist das Gute an dieser Tour: Das Archiv ist die ERSTE Ablagestelle. Da sind sie immer am frühsten.« Oh nein, was sollen das für Nächte werden. – Doch eine Chance gibt es noch: Die Zeitangabe Viertel ist schließlich dialektal geprägt. »Sie meinten bestimmt Viertel NACH 3 … ?« »Nein, nein: Viertel VOR. Aber es reicht auch, wenn Sie um Viertel nach kommen. Mein Mann muss ja erst alles noch einpacken.« Wer, um Himmels Willen, braucht denn eine halbe Stunde zum Einpacken von Zeitungen, es sei denn man verquatscht sich mit Kollegen, aber um diese Uhrzeit …
Ich kann den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht schlafen, aber vor allem bin ich todmüde. Die 2. Art, müde zu sein: Wenn ich fürchte, dem Leben nicht gewachsen zu sein. Völlig gerädert steige ich aufs Rad und fahre los. Ich habe schon viele Touren vertreten, aber noch nie hat es im Vorfeld so merkwürdige Infos gegeben.
Müdigkeit 3 ist von der Sorte, die sich irgendwann still und heimlich an meine Fersen heftet, mich lange Zeit unbemerkt verfolgt, um dann in einem unabsehbaren Augenblick zuzuschlagen, in Form von plötzlicher Erschöpfung. Ich kenne das schon. Diese Müdigkeit tut weh. Sie äußert sich in Kopfschmerzen. Ich kann nichts Sinnvolles denken. Bloß Angst haben und hoffen, dass die Zeit vergeht. Die Zeit vergeht aber nachts s e h r langsam.
Die wenigen Geräusche, die es gibt, sind im wahrsten Sinne Geräusche: ein Rauschen, leiser noch als das Rauschen des Blutes im eigenen Kopf. Eine Trennung von Außen- und Innenwelt ist schwer möglich: Ist man geneigt, alles als Außenwelt zu betrachten, bekommt man Angst – ist man geneigt, alles als Innenwelt zu betrachten, schläft man ein. Und das darf auf keinen Fall passieren, schließlich rase ich mit 35 Stundenkilometern durch die Innenstadt.
3 Uhr 10. Am Archiv ist tatsächlich schon jemand. Ein weißhaariger Mann Mitte 60 macht sich an den Zeitungsstapeln zu schaffen. Er trägt eine schwarze Weste, die durch das Gewicht von über 100 Schlüsseln deformiert ist, kneift die Augen hinter einer Brille mit fettigen Gläsern zusammen und redet vor sich hin. Erst nimmt er mich gar nicht wahr, dann belädt er sogleich meine Packtaschen mit NPs. Dass seine für die Menge an Zeitungen gar nicht ausreichen, ist auf einen Blick klar zu erkennen. Seltsam nur, dass er mit mir nichts abgesprochen hat. Ich hätte ja genausogut ohne Packtaschen kommen können, und was hätten wir dann gemacht? Die legendären Listen sind in Dokumentenhüllen eingeschweißte, unhandliche Computerausdrucke, in denen die Änderungen mit blassem Bleistift vorgenommen wurden. Im gelben Licht der Straßenlampen sehen sie aus wie Schatzkarten.
Wir fahren los. Knusts Tretlager ächzt, als wäre dies seine letzte Tour. Unser erster Halt ist der Hintereingang des Krankenhauses, gleichzeitig die Notaufnahme. Es fühlt sich so an, als ob es besser für mich wäre, hierzubleiben … ich will mich hinlegen, LIEGEN … Danach tauchen wir in die Dunkelheit, die den engbebauten Stadtteil auch tagsüber nie ganz verlässt.