Den ganzen Abend hatte er auf dem fremden Sofa gesessen, erst, dann es sich immer gemütlicher gemacht, hatte die Schuhe ausgezogen, sich gelegt. Hatte in die Luft stierend nachgedacht, denn hier wurde nicht geredet, nicht viel. Nicht unglücklich, aber ein wenig trostlos erschien diese Zeit. Hier wurde gearbeitet, intensiv oder mit Pausen, aber immer wichtig. Er kannte inzwischen jede Einzelheit unter der Decke, jede Struktur und jeden Faden, der sich aus übriggebliebenen Spinnweben leicht schwebend hin und her bewegte. Herr Nipp konnte an diesem Abend eigentlich gar nichts mit sich anfangen, hörte die von unten durch meterdicke Betonwände heraufdringende Bluesmusik, die ihm meist befremdlich klang, manchmal auch sehr schön, so wie jetzt gerade. Es wurde wohl eine Ballade zum Besten gegeben. Dort spielte also die neue Blueshoffnung Deutschlands, Henrik Freischlader, eine CD hatte Herr Nipp im vergangenen Jahr erworben, komplett von diesem Burschen eingespielt, der gerade mal 28 Jahre alt war, kongenial aufgenommen und gemischt von Meinschäfers Martin, alles analog, mit Röhrentechnik, so etwas gibt es tatsächlich noch, sogar in einem Provinzkaff. Jetzt mit Band, einem guten Schlagzeuger, bei dem man das Gefühl hatte, er würde bei seinem Handwerk anfangen zu schweben. Eine Schweineorgel war auch manchmal zu hören. Prägnant, wenn man Blues mag.
Aber das interessierte Herrn Nipp an diesem Abend gar wenig, er nahm es wohl wahr, mehr nicht. Ihm fehlte etwas, das er noch nie vorher vermisst hatte. So erhob er sich langsam vom Sofa, durchquerte ohne irgendjemanden zu stören, denn er ging langsam und leise, das große Atelier, in dem er sich wohl nie richtig heimisch fühlen würde, immer nur als Gast, er würde niemals dazu gehören. Mal wurde er geladen, mal kam er auch einfach nur so, aber er war einfach keiner von ihnen, der eingeschworenen Gemeinschaft, das gab schon manchmal einen Stich, war aber nichts daran zu ändern. Vielleicht war auch ein Hauch Neid dabei.
Er öffnete die feuerfeste Stahltür, nahm die Treppen nach unten, mogelte sich an der Frau an der Kasse vorbei, ging zur Theke und bestellte: “Ein Bier bitte.“ Öffnete die bauchig grüne Flasche einer Sauerländer Brauerei und nahm, das erste Mal glücklich an diesem Abend, einen kühlen Schluck.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421