Einen wunderbaren schriftlichen Versuch hatte er in die Finger bekommen, hatte mit Lust geschmökert und war verblüfft über die geistige Reife der jungen Autorin. Zum Thema „Das Höhlengleichnis als literarische Adaptionsschablone“ hatte sie Gedanken von einer unglaublichen Tiefe entwickelt und diese mit einer sprachlichen Eleganz und Eloquenz umgesetzt, dass Herr Nipp gerne ein zweites und drittes Mal las. Die Rhythmik der Wörter wusste zu überzeugen, die gesetzten Fachbegriffe leuchteten in ihrer Prägnanz nicht nur ein, es gab an keiner Stelle den Hauch eines Zweifels an ihrer bewussten Gesetztheit. In Anbetracht des Alters der Verfasserin erkannte er mehr und mehr, welches intellektuelle Schwergewicht und Genie ihm da auf diesem Blatt Papier entgegen trat. Es gibt nur wenige Momente, dass Herr Nipp in seinem Leben solch rauschhafte Erlebnisse hatte. Eins werden mit dem Geschriebenen, Gelesenen, Beschriebenen. Doch zuletzt stolperte er immer über den unsinnigen letzten Satz. In sich widersprüchlich. Bedeutungsverzerrend.
Ein aufmerksamer Leser sollte genau an dieser Stelle anfangen zu zweifeln. Wer clever sucht, wird in einer wissenschaftlichen Metasuchmaschine die Schlüsselwörter einer begrenzten Textstelle recherchieren lassen. Immer nur die eines Satzes unter Verschlagwortung des Oberbegriffs.
Und tatsächlich. Schnell fanden sich die entsprechenden Textstellen auf einschlägig bekannten Seiten, welche gerne von jungen Menschen verwendet werden, um Belesenheit oder eigenen Fleiß vorzutäuschen. Sie haben nicht die Beziehungen, den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zu bemühen, müssen sich mit den Kargen der Brosamen wissenschaftlichen Abfalls im Internet begnügen.
Nur an einer Stelle hatte das arme Mädchen leider nicht verstanden, dass im komplexen dialektischen Disput die dreifach verwobene Verneinung verlangt, vieldeutig als allgemein angedeutete Zustimmung begriffen zu werden.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421