Das multimediale Projekt 630 ist die zeitgemäße Variation des Gesamtkunstwerks, weil hier bildende Kunst, Tonkunst und Literatur sinnfällig zusammenwirken. Er zeigt sich auch, daß Kunst nicht die Sache eines Einzelnen ist, sondern in einer Intaraktion mit dem bildenden Künstler Peter Meilchen, dem Komponisten Tom Täger und eben dem Sprechsteller A.J. Weigoni geschieht.
Das Gesamtkunstwerk hat eine Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität.
Odo Marquard
Bisher sind in der Edition Das Labor DVDs, ein Hörbuch und ein Roman von Peter Meilchen erschienen. In 2014 erinnerte der Kunstverein in Linz mit einer Ausstellung an den Künstler, in der erstmals die Reihe Frühlingel vorgestellt wurde. Zu diesem Anlass erschien mit der Wortspielhalle eine Publikation, die als Role Model für dieses Buch / Katalog–Projekt dient, das zum 10. Todestag von Peter Meilchen erschien.
Das Buch / Katalog–Projekt 630 gibt einen konzisen Überblick über die künstlerische Arbeit von Peter Meilchen in Linz und in der Werkstattgalerie Der Bogen. Zusammengeballt werden Zeit und Licht durch seine bearbeitete Photografie, er reduziert die Wirklichkeit auf Licht und schrumpft die Zeit auf einen Augenblick, den ausdehnungslosen Moment. In der Perpetuierung des Veränderlichen ist die Zeitlichkeit beschlossen – und mit ihr natürlich die Vergänglichkeit, das Abschnurren der Zeit, wie es in Meilchens Werk vorgeführt wird. Seine Arbeiten sind keine Momentaufnahmen von Realität, sondern komplexe Inszenierungen in einem umfassenden gesellschaftlichen Umfeld.
In seiner kombinatorischen Bildregie zapft er verschiedenste Quellen an; die Fremdheit ist in der Kunst ein kostbares Gut, das es erlaubt, die Wahrnehmung des Alltäglichen zu brechen und ihr die nötige Distanz zur Gewohnheit einzuhauchen. Meilchens Bilder haben eine spezifische Signatur und einen speziellen Ort. Vielleicht ist es die irgendwie aufgelöste Atmosphäre der untergegangenen BRD, und doch formulieren die Bilder den Einspruch, daß wir auch angesichts ihrer Melancholie gar nicht anders können, als uns den Rätseln des bösen Märchens, das man das Leben nennt, immer wieder zu stellen. Es ist diese doppelte Botschaft, die Peter Meilchens Photografien die ungeheure Spannung verleiht – zart und grimmig zugleich.
Dem Augen-Blick in seinem wörtlichen, wie auch übertragenen Sinn kommt im Schaffen Meilchens eine entscheidende Bedeutung zu. Sowohl das mit dem Sinnesorgan Auge aufgenommene Bild, als auch die kurze Dauer seiner Wahrnehmung spielen eine wichtige Rolle. Auf diese Weise erhält dieses Werk gerade durch seine Weltzugewandtheit jene Beimischung von Melancholie, die für eine wahrheitsgemässe Beschreibung der Wirklichkeit unerläßlich ist. Weil die photografischen Bilder nicht bewegt sind wie unsere unmittelbare Wahrnehmung der Welt, können Repräsentation und Mimesis nicht die angemessenen Dimensionen ihrer Beurteilung sein.
Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.
lyrikwelt.de
Aus einem musikalischen Einfall heraus entwickelt Tom Täger ein 24teiliges Stück. Der Hörspielkomponist verarbeitet das Thema dabei unterschiedlich, in Sequenzen, Transpositionen und Diminutionen kommen seine Inventionen zu den Vignetten daher. Der Klang der Fremde trifft auf den Verlust von Erinnerung. Es ist eine komplexe Musik, die auf Texturen, Atmosphären und Rhythmus aufbaut; Ambient im besten Sinne. Wir hören dronige Synthesizer-Kompositionen und abstrakte Elektrotracks, die durch ihr treibendes, rhythmisches Fundament und die melodischen Muster an den Genredefinitionen rütteln. Kontraste sind dabei für Täger selbstverständlich, die schwelgerische Melancholie gedeiht direkt neben krassen Dissonanzen, und die Intensität des Schrillen verstärkt diejenige des Stillen. Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien. Wie sich der Klang an den Rändern zum Verstummen bewegt, wird das Reisen, und sei es eines in die Wüste des versehrten Ichs, zu einem Akt der Vergeblichkeit, die Kreisbewegung führt zum Verlust von Verankerung und Identität. In der Hörspielmusik dieses Soundtüftlers gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da unentwegt ein Energiefluss spürbar, es brodelt etwas.
Die Vertonung Tägers fügt – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Oft gibt es das Missverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. Es gibt bei der Hörspielkomposition von Täger immer wieder Momente und Tracks, die hervorstechen, aber erst über die gesamte Dauer zeigt sich, wie sorgfältig er bei 630 eine Dramaturgie entworfen wird, die Genredefinitionen wird überschritten und über die gesamte Spieldauer bis an die Ränder zerdehnt. Dieses Hörbuch fordert aufmerksames Hinhören und ist es ohne zum schöngeistigen Geplätscher zu verkommen, eine sinniger Teil zu diesem Gesamtkunstwerk.
„Akustische Maske“ nannte Elias Canetti das Prinzip, Figuren durch ihre Sprache plastisch werden zu lassen.
Diese Poesie hat allen überflüssigen Ballast abgeworfen und kommt hochkonzentriert und komprimiert daher. A.J. Weigoni spürt der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach. Dieser Sprechsteller gibt der Sprache einen Körper, verleiht ihr Gestalt und Kontur, er gehört damit zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Rezitator verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philosophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts. Jedes Kapitel für sich genommen, ist ein kleines Kunststück der Verdichtung.
Die geschriebene Sprache ist immer eine Metapher für die gesprochene. Diese Poesie hat allen überflüssigen Ballast abgeworfen und kommt hochkonzentriert und komprimiert daher. Desto „echter“ sie klingt, desto weiter entfernt ist sie in Wahrheit von der Umgangssprache. Meilchens Bilder sind der Schlüssel zur Erinnerung, das Sinnbildliche wiederum ergibt sich, wie in Benjamins Berliner Kindheit, gleichsam von selbst. Vergleichbar dem Rhythmus der Gezeiten gehen Wellenbewegungen durch diese Novelle, es transportieren sich die Wellenbewegungen der Flüße Rhein und Nil in sinnlich geschwungene Bögen des Gesprochenen. Hier wird die Dialektik einer beschwörenden Sprachmagie sinnfällig. Bei der Umsetzung dieser Novelle möchte man jedem einzelnen Wort hinterher lauschen. Hier entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist.
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630, Buch / Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Bad Mülheim 2018.
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Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni die Literaturgattung der Novelle neu. Einen Essay zum Buch / Katalog-Projekt 630 zu finden Sie hier.