ich laufe in einer uferstraße an zerfallenen häusern mit wendeltreppen, terrassen und balkonen entlang, die jeden moment einzustürzen drohen. nirgends sehe ich menschen. plötzlich bricht knirschend die gußeiserne verzierung eines balkons herab und zerplatzt direkt neben mir. ich gehe weiter und erkenne an manchen inschriften der fassaden noch, was die gebäude einmal waren: hotels, cafés, villen, pensionen. die fensterscheiben sind fast überall zerschlagen, wände und balken teils zerbrochen, vermodert und herausgerissen. an einem der häuser lese ich das verblichene schild »blick auf wald und meer«. ich steige über schuttberge, öffne eine hintertür des hauses, gehe hinein und stehe in einer verlassenen hotelküche, in der ein käfig mit einem eichhörnchen an der wand hängt. weil ich keinen aufgang zur oberen etage finde, betrete ich ein förderband, das sich von selbst einschaltet und mich langsam nach oben schiebt, wobei ich meinen puls pochen höre. währenddessen schießt eine schar ratten, die in der küche im kreis sitzt, mit steinschleudern äpfel, eier und kartoffeln nach mir. schließlich fährt mich das band zur nächsthöheren etage und ohne halt weiter zum dach, das an einem berghang liegt, den ich über geröll hinauflaufe. oben angelangt, kommt mir von der anderen seite eine weißgekleidete frau mit langen struppigen haaren entgegen, die ein schwert trägt und einen mit einer gummihaut überzogenen esel führt. sie ruft mich zu sich und ich sehe, daß ihre haare aus brombeerdornen sind und ihr gesicht aus wachs ist. der esel nähert sich mir sofort zutraulich, was mich befremdet und abstößt. die frau legt mir einen efeukranz um, den gleich darauf bienen umschwirren. ich fliehe und kehre übers geröll zur hotelküche zurück, wo ich jedoch nur noch einen hühnerstall finde. ich setze mich auf dessen dach, lasse die beine herunterhängen und greife neben mir eine der steinschleudern, mit denen mich die ratten beschossen hatten, habe aber nicht die geringste lust, die hühner zu beschießen, die unter mir umherlaufen.
***
Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2022
Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.
Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015