Im Frühjahr 2015 verfiel die Rezensentin der ZEIT beim Lesen des neuen „Jahrbuchs der Lyrik“ in eine „von Langeweile und Empörung angetriebene Schnappatmung“. Offenbar hat sie mit ihrer überzogenen, ja vernichtenden Kritik eine Tür aufgestoßen, durch die ihr seitdem mancher Verächter der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart mit schwerem Hammer gefolgt ist. So wurden nur wenig später in verschiedenen Medien eine weit verbreitete Stillosigkeit, ein Trend zu einer Art Plauderton und Belanglosigkeiten aus den Literaturinstituten beklagt. Zum jüngsten Hieb holte im April 2018 der Schriftsteller Helmut Krausser aus, der in der FAZ die Lyrikszene kurzerhand als „weitestgehend gaga“ abstempelte.
Wenn solche Rundumschläge dem Niveau unserer gegenwärtigen Poesie auch nicht gerecht werden und wenig hilfreich sind, darf man sich als Autor und Herausgeber von Gedichten wenigstens darüber freuen, dass die Nischengattung der Literatur noch Mediengemüter erhitzt, die ihren Dampf dann vor einer größeren Öffentlichkeit ablassen. Vielleicht fühlt sich so der eine oder andere dichtungsferne Zeitungsleser sogar animiert, mal ein Buch mit zeitgenössischer Lyrik zu kaufen, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Gewiss ein frommer Wunsch, aber es soll ja eine Zeit gegeben haben, in der das Wünschen noch geholfen hat. Warum nicht auch heute?
Nicht wunschlos glücklich, aber sehr zufrieden bin ich mit der Resonanz, die die Jubiläumsausgabe Versnetze_zehngefunden hat. Sie wurde – was bei Lyrik-Anthologien eher selten vorkommt – in mehreren Zeitungen (z. B. Kölner Stadt-Anzeiger, WAZ) vorgestellt, außerdem in der Zeitschrift Signum, in den Onlineportalen fixpoetry und Kulturnotizen (KUNO) sowie im WDR 5. In dieser Rundfunkrezension heißt es unter anderem: „Axel Kutsch weist im Vorwort auf die Bedeutung so einer Lyriksammlung hin, als gesellschaftlicher Seismograph. So finden sich u. a. in ,Versnetze_zehn‘ neben persönlichen Befindlichkeitsgedichten von Autoren aus der ehemaligen DDR auch Arbeiten, die die aktuelle Situation um geflüchtete Menschen lyrisch thematisieren. Wer also wirklich wissen will, was insbesondere in den vergangenen Jahren an deutschsprachiger Lyrik veröffentlicht wurde, kommt hier gut auf seine Kosten. Fazit: ,Versnetze_zehn‘ ist weiterführend, aufschlussreich und spannend zu lesen.“ Dieses Kompliment reiche ich gerne an alle Autorinnen und Autoren weiter, die mit ihren Beiträgen zum Gelingen des umfangreichen Jubiläumsbandes beigetragen haben. Chapeau!
Bekanntlich ist laut Sepp Herberger nach dem Spiel vor dem Spiel. Also machen wir weiter mit der elften Ausgabe, die ihren Vorgängern in ihrer Klartext, Verschlüsseltes, Sperriges, Liedhaftes, Mundartliches, Apokalyptisches, Humorvolles aufweisenden Vielstimmigkeit vom zustechenden Epigramm bis zum ausladenden lyrischen Text in nichts nachsteht. Und sollte hier und da etwas Gagaismus eingeflossen sein – sei’s drum. Schließlich wird zur Zeit sogar eine Weltmacht von einem Gagaisten gelenkt, bei dessen Äußerungen man immer wieder in Schnappatmung verfallen kann. Bei der Lektüre dieser Anthologie hoffentlich nicht.
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Versnetze_elf, Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, 340 Seiten, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2018.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.