Hat sich nach der Nobelpreiss-Pause etwas geändert?
Kein Romancier aus Asien. Keine Kurzgeschichten-Autorin aus Lateinamerika. Kein Essayist aus Afrika. Keine Inuit-Lyrikerin, die Naturgedichte schreibt (Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg* hat den Friedensnobelpreis auch nicht erhalten). Dafür eine Vorzeige-Dissidentin aus dem ehemaligen Warschauer-Pakt (damit die Quote erfüllt ist) und ein alter Europäer, männlich, weiß. Wie zuletzt driftete die Begründung für diesen Preis immer immer häufiger in diffuse Mehrdeutigkeit. Bereits als der Nobelpreis für Bob Dylan verkündet wurde, teilten sich die Geister in Enthusiasten und Enttäuschte: ein gefundenes Fressen für alle diejenigen, die online ihre literarischen Meinungen kundtun, verteidigen und weiterentwickeln. Hat der Ruf des Nobelpreises, durch die „Publizität“ der jüngsten Vorgänge großen Schaden genommen?
Müssen Mensch und Werk verschmelzen?
Slavoj Zizek liefert eine interessante Erklärung für Handkes Serbien-Sympathien: „Der Nobelpreis für Handke ist ein weiteres Zeichen für das, was Robert Pfaller die ‚Interpassivität‘ der westlichen Linken nennt: Sie wollen gerne authentisch sein, aber durch einen anderen, der das authentische Leben an ihrer Stelle lebt. Handke hat lange Jahre interpassiv sein authentisches Leben gelebt, frei von der Korruption des westlichen Konsumkapitalismus, und zwar durch Slowenen, seine Mutter war Slowenin. Für ihn war Slowenien ein Land, in dem die Worte noch direkt in Verbindung standen mit den Dingen. In den Läden hieß Milch einfach ‚Milch‘, keine kommerzialisierten Markennamen störten das Bild. Die slowenische Unabhängigkeit und die Bereitschaft des Landes, der Europäischen Union beizutreten, haben in ihm dann eine gewalttätige Aggression entfacht: Er hat die Slowenen nur noch als Sklaven des österreichischen und deutschen Kapitals betrachtet, die ihr Erbe an den Westen verscherbeln. Und all das, weil seine Interpassivität gestört wurde, weil Slowenen sich nicht mehr so verhalten haben, dass er sich durch sie authentisch geben konnte. Kein Wunder also, dass Handke sich Serbien zugewandt hat, als letzter Bastion des Authentischen in Europa.“
Als Bob Dylan der Völkermord-Apologeten“ bezeichnet der Schriftsteller Aleksandar Hemon Peter Handke in der New York Times. „Die Entscheidung für Handke impliziert ein Konzept von Literatur, die sicher fernab ist vom Ungemach der Geschichte und Tatsächlichkeiten des menschlichen Lebens und Sterbens. Krieg und Völkermord, Milosevic und Srebrenica, der Wert der Worten und Taten eines Schriftstellers in diesem Moment in der Geschichte – all dies mag für den ungebildeten Plebs, der Mord und Vertreibung ausgesetzt war, von Interesse sein, aber ja wohl nicht für diejenigen, die den ’sprachlichen Einfallsreichtum‘ zu schätzen wissen, ‚der die Randgebiete und Besonderheiten der menschlichen Erfahrungen durchmisst.‘ Für solche kommen Völkermorde und gehen auch wieder, aber die Literatur bleibt für immer.
Ein Empörungsrausch geisterte durch das Netz und den Blätterwald. KUNO schätzt es nicht, wenn man einen Schriftsteller auf einen Punkt reduziert, der ihn angreifbar macht. Diese Diskussion umkreist eine Kernfrage:
„Müssen gute Schriftsteller auch gute Menschen sein?“
In den 1920er-Jahren zog Gottfried Benn zunächst der italienische Faschismus an, wie er z. B. durch die Kunstprogrammatik des Futuristen Marinetti verkörpert wurde. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde er als Nachfolger Heinrich Manns kommissarischer Vorsitzender der Sektion. Am 13. März, kurz nach der Reichstagswahl März 1933, verfasste er zusammen mit Max von Schillings eine Loyalitätsbekundung für Hitler, die den Mitgliedern eine nicht-nationalsozialistische politische Betätigung verbot.
Knut Hamsun war ein großer Bewunderer Deutschlands und ein entschiedener Gegner des britischen Imperialismus und des Kommunismus. Zur Zeit des Nationalsozialismus bezog er in Zeitungsartikeln für die Politik Hitlers Stellung, während seine literarische Produktion zum Erliegen kam. So griff er 1935 Carl von Ossietzky, der in dem KZ Esterwegen gefangen saß, scharf an, unter anderem in der Zeitung Aftenposten. Er bezeichnete ihn als „merkwürdigen Friedensfreund“, der vorsätzlich in Deutschland geblieben sei, um als Märtyrer erscheinen zu können. „Wenn die Regierung Konzentrationslager einrichtet, so sollten Sie und die Welt verstehen, dass das gute Gründe hat“, schrieb er an einen Ingenieur, der sich für Ossietzky eingesetzt hatte. Als Carl von Ossietzky 1935 den Friedensnobelpreis erhielt, äußerte Hamsun öffentlich massive Kritik und rechtfertigte die Errichtung von Konzentrationslagern.
Über die kritischen Äußerungen auf seine Zwiebel-Biographie sprach Günter GraSS von „Entarteter Presse“, die Kritik an seinem langen Schweigen über die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS grenze an einen „Vernichtungsversuch“. Als man ihn daran erinnerte, welchen Platz der Begriff „entartet“ im Wörterbuch des nationalsozialistischen Unmenschen einnimmt, gestand er zu: „Ich korrigiere das Wort“, hielt aber in der Sache an seinem Vorwurf fest.
Wer seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwiegen hat, sollte sich zu Charakterfragen besser nicht mehr äußern.
Oskar Lafontaine
Der freiwillig in die DDR übergesiedelte Lyriker Peter Hacks schrieb 1952 als poetischen Kommentar zur historischen Lage ein Stalin-Gedicht. Geschickter verhielt sich zuvor ein anderer Schriftsteller Die Frage „Sind Sie oder waren Sie je Mitglied einer kommunistischen Partei?“ verneinte Brecht mehrmals entschieden.
Der „Lyriker“ Radovan Karadžić ordnete am 27. März 1995 die totale Mobilmachung in der Republika Srpska an. Auf Befehl Karadžićs nahmen serbische Truppen unter Ratko Mladić am 11. Juli 1995 die UN-Schutzzone Srebrenica ein, in der sich über 40.000 bosnische Flüchtlingen aufhielten. Die niederländischen UN-Truppen der Einheit Dutchbat unter Thomas Karremans leisteten keinen Widerstand. Während Mladićs Truppen die muslimischen Frauen und Kinder in Richtung Tuzla vertrieben, ermordeten sie den größten Teil der männlichen Bevölkerung, mindestens 6.975 Menschen. Am 20. Juli erlitt die Stadt Žepa ein ähnliches Schicksal. Dort wurden aber alle Einwohner vertrieben.
Saša Stanišić geht der Frage nach, in welchem Verhältnis die Wahrheit des Erfundenen zu der angeblichen Authentizität des Tatsächlichen steht.
Unangepasst zeigte sich Saša Stanišić, in denen er sich auf Twitter massiv gegen den Literaturnobelpreis für Peter Handke ausgesprochen hatte. So nutzte er auch seine Dankesrede für klare Statements. „Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“, sagt er. Und: „Dass ich hier heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat.“
Es gebe gute literarische Gründe dafür, Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen, meint der serbische Essayist Dejan Ilić im Feuilleton der FAZ. Aber deswegen müsse man dem Schriftsteller noch lange nicht auf dessen serbischen Abenteuer folgen. Handke ist offenbar der Überzeugung, dass der Feind des Feindes ein Freund sei: „Es geht hier um eine Form intellektueller Faulheit. Handke hat, wie übrigens auch Chomsky, nicht übermäßig große Mühen darauf verwandt, sich über das Kriegsgeschehen in Jugoslawien zu informieren. Stattdessen kam er nach Serbien und sah, dass hier normale Menschen leben. Was er zu sehen erwartet hatte, wissen wir nicht. Aber die Begeisterung darüber, gesehen zu haben, dass auch in Serbien die Menschen auf zwei Beinen laufen, könnte sich auch als Reflex eines verdrängten Empfindens einer Überlegenheit äußern, der sich in eine Art Herablassung verwandelt hat.“
Das investigative Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ deckte auf: „Handke ist ein Autor, der sich äußerst abfällig über Frauen und #MeToo äußerte, ein Autor, der zugegeben hat, einen Kritiker geschlagen zu haben. Ein Autor, der in einem Gespräch mit dem Journalisten André Müller sagte, er fühle sich „dem Hitler als Mensch“ gelegentlich „sehr nahe“, er fühle außerdem manchmal eine „tiefe, perverse Sympathie für die faschistische Gewalt, die aus der Verzweiflung kommt“. Und ein Autor, der auf der Trauerfeier für einen Diktator eine Rede hielt.“
Fehlt nur noch der Hashtag Handke#MeeToo.
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Randständigkeit ist das Lebensprinzip der Poesie. Vom Rand aus arbeiten wir auf dem Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) daran, den Kanon zu erweitern. Die Idee zum Projekt Das Labor ist ein viertel Jahrhundert alt. Wer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten 30 Jahren die Entstehung einer Edition beobachten, die weder mit Pathos noch mit Welterlösungsphatasien daherkam. Die zeitliche Abfolge der projektorientierten Arbeit ist nachzuvollziehen in der Chronik der Edition Das Labor. Weitere Porträts finden Sie in unserem Online-Archiv, z.B. eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel außerdem Ulrich Bergmann, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz. Lesen Sie auch den Essay über die Arbeit von Francisca Ricinski und eine Würdigung von Theo Breuer. Und nicht zuletzt den Nachruf auf Peter Meilchen.
*Greta Tintin Eleonora Ernman Thunberg erhielt den Right Livelihood Award (RLA, übersetzt etwa „Preis für gerechte, angemessene Lebensgrundlagen“).