Marktgesetz. Das klingt so beruhigend. Denn was sich rational in einem Gesetz fassen lässt, verliert mit einem Mal seinen irrationalen Schrecken: Kennt man erst mal das Gesetz, wird jede ökonomische Bedrohung zu nüchternen Werten einer abstrakten Formel verharmlost.
Ein Marktgesetz kleidet sich besonders gerne als mathematisches Gesetz. Und suggeriert, dass das menschliche Handeln in seinen Abläufen beschreibbar, wiederholbar und damit auch vorhersehbar ist. Wie eine a priori bestehende, ewig und unwiderruflich gültige Regel, nach der Markt und Mensch funktioniert und die nur darauf wartet, von einem überragenden menschlichen Geist formuliert zu werden. Im Zweifelsfalle von einem Spieltheoretiker, dem Physiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern.
Dumm nur, dass sich diese notorisch aufsässigen Spielfiguren einfach nicht einem solch ehernen Gesetz unterwerfen wollen. Sie können doch partout nicht von ihrer kindischen Neigung zu spontanem, emotionalem und unlogischem Verhalten lassen. Spieltheoretiker empfinden das schon fast als gotteslästerliche Zumutung, wenn diese störrischen Esel sich einfach nicht so verhalten wollen, wie die mit unendlicher Mühsal eruierten Gesetze es ihnen vorschreiben.
Sie würden dem am liebsten ein für alle Mal einen Riegel vorschieben. Es kann schließlich nicht sein, was nicht sein darf. Frank Schirrmacher hat auf die Gefahrenlage dieser vorherrschenden Denkstruktur der Ökonomen in seinem äußerst anregenden Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ eindrücklich aufmerksam gemacht.
Bei mathematischen und physikalischen Gesetzen erübrigt sich die Frage nach Verantwortlichkeiten. Gesetze dieser Art kennen keine Verantwortung, sie laufen mit zwingender Notwendigkeit so und nicht anders ab. Die Beteiligten können in diesem Gedankenkonstrukt gar nicht anders, als sich naturgesetzlich zu verhalten.
Wenn a, dann b. Es ist die profanierte Form der Schicksalsergebenheit. Alles ist vor-bestimmt, alle Abläufe sind fatalistisch festgelegt. Der freie Wille hat hier abgedankt, der individuelle, selbstbestimmte Handlungsspielraum ist gleich null.
So sieht’s dann aus: Keiner ist verantwortlich, niemanden trifft eine Schuld. Also muss sich auch niemand einer Schuld bewusst sein. Alle können sich wunderbar plausibel hinter solchen Gesetzen verstecken. Können sich die Hände reiben und sie in Unschuld waschen. Und sich glaubhaft entrüstet zeigen, sollte jemand doch einmal mit Fingern auf sie zeigen: Das ist doch nicht meine Schuld!
Schließlich will sich die Wirtschaftswissenschaft als mathematisch-physikalische Paradedisziplin etablieren, fernab von den unvorhersehbaren Widrigkeiten des schnöden Lebens. So deckt sie ihr Mäntelchen des Schweigens über Max Weber, der in seinem fundamentalen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ schrieb:
„Idealtypische Konstruktionen sind z.B. die von der reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre aufgestellten Begriffe und ‚Gesetze’. Sie stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre. Das reale Handel verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungsweise so, wie im Idealtypus konstruiert.“
Eine solch idealtypische Betrachtung hat allein einen „methodischen Zweckmäßigkeitsgrund“. Diese Art der Betrachtung darf, und das betont Weber ausdrücklich, „nur als methodisches Mittel verstanden und also nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden“.
Wer also bei diesen zweckrationalen, idealtypischen „Begriffen und ‚Gesetzen’ “ ihren rein auf methodische Zweckmäßigkeit beschränkten Gebrauch außer Acht lässt und uns dabei auch noch glauben machen möchte, als würden diese eben jene Realität abbilden, die wir der einfacheren Verständigung halber gemeinhin ‚Markt’ nennen, verkennt entweder gänzlich die Natur der Sache.
Oder aber er tut das bewusst, intentional und damit zielgerichtet. Was notgedrungen die Frage nach Absicht und Ziel aufwirft.
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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2003
Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.