Hyperion – ein Hybrid

 

Es ist eine Sprache, die stets an ihren eigenen Rändern balanciert., die changiert zwischen Erzählen, Singen, Zirpen, Klingen und dem Vorantreiben einer Handlung. Roman, dramatisches Gedicht, fiktiver Brief? Mit der Analyse Friedrich Hölderlins „Hyperion“ gelangt der Germanist an seine Grenzen. Und das scheint gut so, denn der Text ist einer, der aus dem Rahmen fallen möchte- so wie auch das schreibende Subjekt, der Dichter selbst, aus dem Rahmen fällt. Als er den Text nämlich verfasst, kippt Hölderlin in eine Art „geistige Umnachtung“, aus der er Zeit seines Lebens nicht mehr heraus finden wird. Dergestalt entsteht dieser besondere fiktive Briefroman vor einem drastischen autobiographischen Hintergrund- und ist somit eine besondere Art des Hybrid, wie man sie nur selten in der Weltliteratur findet. Einfach lässt sich auf den ersten Blick die Handlung des Werkes dieses großen Dichters zusammen fassen: Hyperion, ein Mann mittleren Alters, erzählt seinem deutschen Freund Bellarmin in Form von Briefen über sein Leben: Der junge Suchende wächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Südgriechenland auf. Die Liebe zur Natur sowie ein wohliges Sich- Wiegen im Einklang mit allen Dingen und allem Sein bestimmen schon früh die Existenz des Protagonisten. Gleich zu Beginn des Texts begegnet dem fiktiven Ich- Erzähler, diesem literarischen Hybrid, das an manchen Stellen mit dem Ich des Autors selbst zu verschwimmen scheint, die Einheit mit der Allheit in Form von sprudelnden Quellen, Wolken und Wiesen. Doch: „Wer bloss an einer Pflanze riecht, der kennt sie nicht!“ Aus dem heranwachsenden Hyperion wird rasch ein Suchender. Bald schon bricht der Protagonist auf, begibt sich auf eine sogenannte „Heldenreise“: Der weise Lehrer Adamas reißt den jungen Mann aus seiner kindlichen Geborgenheit und führt ihn in die Heroenwelt des Plutarch ein- und dann weiter in das Zauberland der griechischen Götter . Schließlich gelingt es dem Mentor, Hyperion für die griechische Vergangenheit zu begeistern. Dieser hat nun Feuer gefangen- und nichts ist mehr, wie es war. Schwenk, Plot Point eins also: Hyperion wird von großer fremder Sehnsucht gepackt, und genau hier setzt seine Heldenreise ein. So geschieht es schon bald, dass der tatkräftiger Freund des Protagonisten, genannt Alabanda, ihn in die Pläne zur Befreiung Griechenlands einweiht- und dieser ihm folgt. Doch damit nicht genug: Denn Hyperions erste tiefe Liebe zu seinem Lehrer Adamas muss nun einer Neuen weichen, nimmt konkret physische Formen an: Hyperion verliebt sich in die junge Diotima, die ihm in Kalaurea begegnet. Diese Frau gibt ihm die Kraft zur Handlung: So nimmt Hyperion im Jahre 1770 am Befreiungskrieg der Griechen gegen die Türken teil, wird Kämpfer im osmanischen Krieg und erlebt Schmerz, Leid und Auszehrung. Doch wie es so schön in den ersten Zeilen des Briefromans angedeutet wird: alles in der Welt ist von der Sehnsucht geprägt, zu seinem Urquell zurück zu kehren. Die Rückbindung an die Natur und ihre Seligkeit, das Sichwiegen in Einklang mit den Dingen des Seins, ja, die große Sehnsucht nach den Quellen kehrt also genau in diesem Moment in Hyperions Geiste wieder, als er den Schmerz sinnloser Kämpfe und Schlachten erlebt. Abgestoßen von der Rohheit des Krieges und schließlich schwer verwundet muss der Erzähler zusehen, wie sein teuerer Lehrer Alabanda flieht und seine Geliebte Diotima stirbt. Hyperion geht daraufhin nach Deutschland, aber das Leben dort wird ihm unerträglich. Deshalb kehrt er nach Griechenland zurück um fortan als Eremit sein Dasein zu fristen. In seiner Einsamkeit findet er in der Schönheit der Landschaft und Natur zu sich selbst und überwindet die Tragik, die im Alleinsein des Menschen liegt. Als Weiser mit der Schöpfung und ihrer Existenz verbunden verlebt Hyperion den Rest seiner Tage in mystischer Einheit mit dem Wesen der Schöpfung, das in lauteren Versen um ihn singt und tönt. Der Kreis schließt sich, die Erzählung scheint abgerundet. Soweit so gut.

Was nun jedoch die Bedeutung und Lesart dieses Romans betrifft, so wird er allgemeinhin als eine Art Selbstbekenntnis, die trotz mancher jugendlich-schwärmerischen Zügen klar zu analysieren ist, verstanden. Hölderlins eigene Lebensschau, ja, sein inneres  Seelentum werden hier abgekoppelt und gekonnt auf den Protagonisten projiziert. Metaphysische Aspekte stehen im Fokus der Schilderungen: die Natur, vor allem in den Schlussbriefen hymnisch gefeiert, wird hier zur Metapher des gotterfüllten Raums Gegenwart:. In der Schilderung

Griechenlands- einem zur Zeit der Romantik überaus beliebten und auf den ersten Blick fast banalen Topos- durchdringen sich Vergangenheit und Zukunft, Traum und Verheißung. Eine scheinbar eindeutige Aussage, die dieser Briefroman zu treffen scheint, oder? Doch diese Tatsache bezieht sich nur auf die Oberfläche des Werkes. Bahnbrechend indes sind Binnenstruktur und sprachliche Aufarbeitung von „Hyperion“. Der Ton ist in brüchiger Lyrik gehalten, die oft mehr dem Sinn denn dem Klang folgt, und der formale Ablauf bleibt aufgrund weitschweifender Du- Passagen gebrochen und fragmentarisch. In seiner Schreibweise erinnert Hölderlin stark an das, was man heute gemeinhin als „Körperprosa“ bezeichnen könnte. Es ist eine Art weiblicher „Sound“, den er hier in seiner literarischen Suchbewegung in Versen unternimmt. Ganz und gar auf den Spuren der Philosophin Hélène Cixous, die in ihrer „écriture feminine“ eine Art des Schreibens philosophisch festmacht und selbst betreibt, das sich viel eher am Klang der Sprache entlang tastet, als dass es sich an einem stimmigen Gesamtkonzept abarbeitet, fühlt Hölderlin der Handlung in Form von „sounds“ nach- und erzeugt dergestalt einen fast physischen Sog, dem sich der Lesende auch abgesehen vom Inhalt des Textes kaum entziehen kann. Jenseits einer klaren Struktur oder einer traditionelle Form geht  Hölderlin in seinem Text den Weg des Hörenden, ja fast des des Komponisten. So wird die Produktionsmaschinerie der Erzählung nicht einfach beliefert; vielmehr kommt es zur Auslotung neuer Bereiche und Möglichkeiten, Sprache zu denken. Diesen Sprachansatz finden wir bei nicht allzu vielen Zeitgenossen Hölderlins- spricht sich doch ein Goethe beispielsweise in seinen Werken stark für Formalismus und rundes Erzählen aus! Doch Hölderlin bedient sich ebenfalls der klassischen tradierten Formen: Auch die uralte, archaische Struktur der Heldenreise ist in „Hyperion“ sichtbar, so brüchig und fragil das Material im Kontext seiner Zeit auch erscheinen mag. Dazu muss ein wenig ausgeholt werden: Bei der sogenannten „Heldenreise“ handelt es sich um kein Genre sondern um einen Ablauf, nach dem Geschichten konzipiert sein können. Die Idee dieser Gattung ist eine, die vor allem der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell, der von 1904–1987 gelebt hat, erforschte. Er fand heraus, dass alle bekannten Märchen und Mythen aller Welt auf einem einfachen Grundmuster beruhen: Die Taten eines Protagonisten ereignen sich auf einer Heldenfahrt oder Heldenreise, manchmal im Englischen auch als „Quest“ bezeichnet, die durch typische Situationsabfolgen und Figuren gekennzeichnet is. In allen Kulturkreisen begegnen uns diese Ich- Anteile, sogenannte „Archetypen“, wieder- und mit ihnen darf der Held eine abgerundete Struktur durchlaufen. Genau so einen klassischen „Quest“ erleben wir nun auch in „Hyperion“- von der Quelle aufbrechend kehrt der Protagonist Hyperion- gescheitert oder nicht gescheitert, diese Frage sei dem Leser überlassen- zu seinen Wurzeln zurück. Damit bedient Hölderlin sich einer einfachen Handlungsabfolge, die uns bereits in den drei Akten des griechischen Dramas begegnet. Diese wahrscheinlich dem Unterbewussten des Menschen entsprungene archetypische Grundstruktur bezeichnet man oft auch als Monomythos, ein Begriff, der von James Joyce entwickelt wurde. Gleichzeitig aber ist der Roman „Hyperion“ auch ein Kind seiner Zeit und bedient sich der Form des klassischen Entwicklungs- oder Bildungsromans. Denn legt man die Struktur der Heldenreise nun auf den Begriff des Entwicklungsroman an, so sind hier viele Überschneidungen zu erkennen. Unter dem Entwicklungsroman versteht man einen Romantypus, der die geistig-  seelische Entwicklung eines Protagonisten in seiner Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt erzählt. Kein Zweifel, genau diese finden wir auch in der Struktur von „Hyperion“ wieder. So wird hier ein Reifeprozess einer Hauptfigur geschildert, die ihre Erlebnisse reflektierend verarbeitet und in die eigene Persönlichkeitsstruktur integriert- die Liebe zum Mentor, die Sehnsucht nach Vereinigung mit der Natur, Krieg und sexuelle Begierden, all das wird in den Verlauf des Textes mit hinein genommen. Auffallend ist allerdings genretechnisch auch die Nähe des Begriffes „Bildungsroman“ zu der des sogenannten „Entwicklungsromans“. Diese beiden Genres grenzen eng aneinander, während sich Letzterer dadurch auszeichnet, dass ein Wandel der Hauptfigur, also ein Sich- Annähern an höhere Befähigungen oder ein größeres Maß an Bildung am Ende der Entwicklung dieser stehen muss. Nun, worum aber handelt es sich bei „Hyperion“? Auch hier scheint die Form in gewisser Weise hybrid zu sein, denn es bleibt offen, ob der Protagonist sich letzten Endes entwickelt oder einfach nur ein Kreis geschlossen wird.

Jedoch weiter: Betrachtet man die Ereignisse oder Initialzündungen, die in Entwicklungsromanen einen Wandel der Persönlichkeit hervorrufen, so sind es stets negative Erfahrungen, die die Entwicklung beeinflussen. Diese veranlassen den Romanhelden, sich ihrem Inneren zu widmen und verhelfen ihnen zu höherer Erkenntnis- ungerechtfertigte Ansprüche oder schwerwiegende Fehler werden erkannt. Indem der Protagonist sich im Laufe der Handlung seiner falschen Ansätze bewusst wird und sich diese eingesteht, gibt er sich selbst die Möglichkeit, umzukehren und seiner Entwicklung eine andere Richtung zu geben. Dieser Abschnitt wird auch mit dem Terminus der Desillusion betitelt. Im Falle des Bildungsromans kann der Held an der Aufgabe, seine Haltung zur Welt zu erneuern, scheitern- oder aber die Situation kann neutral ausgehen. Wie nun jedoch ist es in „Hyperion“? Scheitert der Protagonist an seiner Umwelt, oder lernt er von ihr? Die Moral ist nicht eindeutig zu erkennen, doch das Ende, die Rückkehr zur Quelle, die schließlich allem zum Trotz doch erfolgt, scheint auf jeden Fall evident. Soweit zu der Erkenntnis, den formalen Aspekt des Textes betreffend. Thematisch gesehen geht es nun in einem Bildungsroman immer um die „Auseinandersetzung einer zentralen Figur mit verschiedenen Weltbereichen“[1], wie Jürgen Jacobs schreibt. Somit handelt es sich bei der Gattung um eine Art Hybrid zwischen dem Figurenroman- einer Romanform, die dazu dient, die Lebenswelt eines Protagonisten anschaulich darzustellen- und dem Raumroman, einer Gattung, in der die äußere Reise des Helden im Fokus steht. Was diesen Aspekt betrifft, so haben wie auch hier- gleich wie im griechischen Mythos- eine zentrale Figur eines Helden, der einen Prozess der Entwicklung erlebt und sich schließlich in seinem Verhältnis zur Gesellschaft und seinen sozialen Verhältnissen ausdrückt.[2] Diese Entwicklung spielt sich meistens in der Jugend des Helden ab. Betrachtet man die Ebene der erzählten Zeit- also die Zeitspanne, die das epische Werk aufweist- so erstreckt sich diese immer über mehrere Jahre, nicht selten auch über Jahrzehnte, genau so wie in „Hyperion“. Soweit so gut: Hier bleibt der Dichter also den klassischen Elementen des Genres treu. Ein Leben wird erzählt. In diesem Sinne erinnert der Bildungsroman auch sehr stark ein in dieser Zeit florierendes neues Genre: an das der Biographie.[3]Hi Was diesen Aspekt betrifft, können wir also sagen, dass auch „Hyperion“ sich klassisch an einer fiktiven Biographie abarbeitet und somit den Anforderungen des Genres „gerecht wird“. Was nun aber die Grobgliederung der Form betrifft, so weisen Bildungs- und Entwicklungsroman- und hier sind wir wieder nahe an der Struktur der Heldenreise- eine Dreiteiligkeit auf. Besonders exemplarisch kann diese in Goethes klassischem Paradebeispiel „Wilhelm Meisteres Lehrjahre“ analysiert werden. Während ein erster Abschnitt sich durch die Schilderung der Jugendjahre auszeichnet ,kommt es im zweiten Teil zu Wanderjahren. Das ganze mündet in eine „Epoche“ der Meisterjahre ,in denen der Protagonist seelische Reife erlangt hat. Schwieriger allerdings ist es, „Hyperion“ auf eine konkrete Dreiteiligkeit herunter zu brechen. Vielmehr als in Form eines Dreischritts scheint sich die Entwicklung des Helden in mehreren Stufen zu vollziehen, die ihn über archetypische Erfahrungen wie die mit dem Mentor, die der sexuellen Liebe, die des Krieges und die politischer Betätigungen führen- und schließlich wieder zurück zu der Sehnsucht nach der Urquelle. Also eher eine Art Stationendrama als ein Entwicklungs- oder Bildungsroman? Wie auch immer, gilt ja auch für dieses Genre, dass Ausnahmen die Regel bestätigen: Nicht alle Bildungsromane weisen diese Dreiteiligkeit auf. [4]Das mag daran liegen, dass Literatur stets zuerst durch das Schreiben selbst entsteht- in dem Moment, wo eine Form vollendet wäre, würde das ganze zu purem Maschinismus verkommen und hätte keinen künstlerischen Gehalt mehr. Und nun sind wir am Kern der Substanz: Ja, denn genau diesen Aspekt findet man auch in „Hyperion“! Hölderlin schreibt und ist dabei seiner Zeit voraus, die Binnenstruktur bleibt brüchig und lässt sich, da die Sprache selbst oft Thema des Gesagten wird, in keinen Rahmen der Analyse pressen. Vielmehr geht scheint es dem Dichter um eine Art lyrisches „Sich- Entlangtastens“ am Klang selbst zu gehen. Nicht umsonst wird der Text ja auch ls „lyrischer Epos“ bezeichnet- und verweigert sich so jeglicher gattungstheoretischer Zuordnung. Eine wichtige formale Komponente des Genres „Bildungsroman“ ist im Übrigen auch die Politische. Doch nicht nur die Form gestaltet sich bei einem Bildungsroman politisch; auch der Bildungsbegriff an sich liegt im Fokus dieses besonderen Genres. Im Gegensatz zum reinen Entwicklungsroman spielt beim Bildungsroman ein bestimmter Bildungsbegriff eine wichtige Rolle und steht im Fokus der Erzählung. Dieser stammt meist aus der griechischen Antike und erfährt in der Zeit der Aufklärung und des Sturm und Drang eine Neuorientierung- so auch in „Hyperion“. In dem Text wird die von staatlichen und gesellschaftlichen Normen losgelöste Entwicklung des Individuums zum einzigen und höheren, positiven Ziel des Geschehens- und zwar klar und deutlich anhand der kritischen Aufarbeitung des Krieges. Einerseits beinhaltet nun dieser Terminus, wenn man ihn auf die Gattung anlegt, die Bildung des Verstandes, andererseits aber auch die Bildung des Nationalcharakters. Auch die sogenannte „Anbildung“ steht in wichtigem Kontext zum Bildungsroman: Äußerer Einflüsse sind hier ebenso wichtig wie das Florieren einer bereits vorhandener Anlagen. [5]Beides ist im Falle von „Hyperion“ gegeben, finden wir doch eine Fülle an Anspielungen an die griechische Antike und deren hellenistische Tradition, alles bereits existierende Folien, denen der Protagonist mittels seines Lehrers nachfühlen kann. Im Zentrum des Bildungsromans steht aber stets auch ein spezifisches Bildungsverhältnis zwischen dem Schriftsteller, dem Protagonisten und dem Leser. Insofern geht es nicht nur um die Thematisierung des Bildungsbegriffs sondern auch um dessen didaktische Aufarbeitung. Das bedeutet, dass Werte und Ideen im Sinne der Bildung auch an den Rezipienten vermittelt werden sollen. Hölderlin stellt diese Vermittlung besonders schlau an, indem er seine ganzen Erlebnisse „richtet“; ja, die Erzählung ist an ein fiktives Du gerichtet und somit stets auf Kommunikation, auf das Überbringen einer Botschaft- hier ganz konkret in Form von Briefen- hin „aus“-gerichtet. Ein Kunstgriff, der in dieser Zeit seinesgleichen sucht. Vergleicht man nun den Bildungsroman mit dem didaktischen Aufklärungsroman, so finden sich auch hier einige Parallelen: Das „missionarische Überlegenheitsgefühl eines sich selbst bewussten Erzählers, der seinen Bildungsvorsprung gegenüber Held und Leser geltend machen“[6]kann wird hier ins Zentrum des Geschehens gerückt. Diesen Aspekt finden wir auch bei unserem Dichter, Hölderlin allerdings weiß ihn überaus gekonnt diskursiv zu gestalten: Denn bei ihm ist auch der Leser eine fiktive Figur, ist das Schreiben gerichtet an einen unbekannten Freund! Insofern bricht das Hybrid „Hyperion“ erneut mit dem Rahmen der sogenannten klassischen Erzählstruktur, sprengt die Ränder des Genres und geht an den Grenzen dessen spazieren, was innerhalb einer Gattung möglich zu sein scheint. Wie aber verhält es sich nun mit dem Protagonisten, mit der agierenden Figur, auf deren Spuren wir wandeln? Betrachtet man den Ich- Erhähler des klassischen Bildungsromans näher, so wird dieser zu Beginn der Erzählung als einer gesehen, der im Gegensatz zu seiner Umwelt steht. Meist zeichnet er sich durch junges Alter, naive Lebenshaltung und eine Fülle an Idealen aus, die seine Verhaltensweise ausmachen. Diese Einstellung steht im Bildungsroman im Gegensatz zu einer ablehnenden, realistischen Welt, in der nur Weniges nach seinen Einstellungen verläuft. Hier spricht der Theoretiker Jacobs auch von einem „Bruch zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität“.[7]Wir sind d´accord: Bei Hyperion handelt es sich um einen jungen, sehnsuchtsvoller Knabe, der erschüttert wird und dem Ruf des Lebens folgt. Der besondere Lehrer Adamas ist es, der den Protagonisten innerlich spaltet und in ihm eine Sehnsucht wachruft, die ihm bis dahin fremd war. Weiters klassisch: Die Lage spitzt sich zu; es kommt zur Ablehnung und Verweigerung auf beiden Seiten- hier in Form des Auszugs in den Krieg manifestiert. Dadurch wird die Handlung in Gang gebracht: Der Held reibt sich an seiner Umwelt ab, seine Bidlung beginnt, sich zu verändern-und genau in diesem Moment setzt die Entwicklung ein. Konrkete Erfahrungen bringen den Helden dazu, zu wachsen- und es kommt zu einem Reifungsprozess. Auch diesen finden wir bei Hölderlin: Der Protagonist erkennt, dass er zurück kehren muss zur Quelle seines Seins. Im Lauf der Handlung erleben wir also, wie der Held „in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den hartenRealitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift“.[8]Schließlich mündet der Reifungsprozess in ein Moment des Ausgleichs, in dem Hyperion sich mit der Umwelt arrangiert. In Folge des Prozesses hat er, wie es genretypisch zu sein scheint, Klarheit über sich selbst und die Welerhalten und kann sich im System und in der Gesellschaft auf seine individuelle Art und Weise positionieren. Dennoch ist „Hyperion“ kein klassischer „Held“. Denn Protagonisten in Bildungsromanen zum Beispiel ergreifen oft am Ende ihrer Erfahrungen einen Beruf. Der Held „wird Philister, so gut wie die anderen auch“ und damit ein Teil der Welt, die er vorher so verachtet hat.[9]WWie aber verhält es sich mit Einsiedlern? Wie mit denen, die sich letzten Endes in ihrem Sein der Gesellschaft verweigern? Kann hier noch von einer Figur aus dem klassischen Genre des Bildungsromans gesprochen werden? Ein weiteres Kennzeichen dieser Gattung ist, dass sich an wichtigen Stellen, an den sogenannten „Angelpunkten der Entwicklung“ Rückblicke und Reflexionen des Helden befinden. Diese sollen den Roman einerseits formal gliedern, andererseits dienen sie zur Verdeutlichung der Entwicklung: Sie trennen die einzelnen Stufen des Prozesses voneinander und schließen sie jeweils ab.[10]EDiese Aspekte allerdings sind in „Hyperion“ nur angedeutet wieder zu finden. Zwar weisen die einzelnen Abschnitte eine klare Gliederung auf, doch die Innenschau und die Außenschau scheinen an einer Fülle von Momenten dermaßen stark ineinander verklammert, dass es schwer fällt, sie aus dem großen Ganzen wieder heraus zu schälen und gesondert aufzudröseln. Sprache, Kunst und mystische All- Einheits- Erfahrungen sind dermaßen intensiv ineinander verwoben- sie erinnern an ein Knäuel verfilzter Haare. So bleibt die Form diffus; sind Inhalt und Struktur eine Art Hybrid, das sich nicht sezieren, nicht auseinander nehmen lässt. Während „Hyperion“ eine Fülle an Eigenheiten des Briefromans, des Entwicklungsromans und des Bildungsromans aufweist, erinnert das monologische Sprechen, das auf ein „Du“, auf ein Publikum hin ausgerichtet ist- hier manifestiert durch den Freund, an den die Briefe adressiert sind- auch stark an die Form des Dramas. Der Text in seiner Gesamtstruktur ließe sich wunderbar als Bühnengeschehen umsetzen: Und zwar in der Manifestation eines Monologs!

Zwischen archaischen Strukturen und modernen Sprachansätzen also changiert „Hyperion“, dieses Hybrid, dieses besondere Werk- und genau diese Tatsache macht es zu einer einmaligen Erscheinung in der Weltliteratur! In jedem Falle handelt es sich bei diesem letzten Text des großartigen, wenn auch laut Zeugenaussagen meist „umnachteten“ Dichters, um eine eigenwillige und einmalige Form der lyrischen Epik, die ihresgleichen sucht. Stets oszillierend zwischen Sprachspiel und dem Weitertreiben einer Handlung erinnern die verschiedenen Momente aber zu guter Letzt auch noch  an Rezitative und Arien einer Oper. Ist „Hyperion“  insofern nicht vielleicht sogar eines der ersten modernen Musiktheater seiner Zeit?

 

 

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Weiterführend → Ulrich Bergmann hat das Stück „Der Tod des Empedokles“ neu gelesen und fand ein Gedicht.

 Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.

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Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

 

 

 

[1]          Vgl.: Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 271 ff.

[2]          Vgl.: ebd.

[3]          Vgl.:  Rolf Selbmann: Der Deutsche Bildungsroman. Stuttgart 1984, S. 39f.

[4]          Vgl.: ebd.

[5]          Vgl.: ebd.

[6]          Vgl.: Ebd. S. 40

[7]          Vgl.: Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 271f.

[8]          Vgl.:  Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 327–329

[9]          Vgl.:  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Berlin 1955, S. 557f.

[10]         Vgl.: Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 271