Hinter mir die Toteninsel San Michele. … Abends auf dem Zimmer in einem abgelegenen Viertel von Cannarégio bei Fondamente nove lese ich keins der mitgenommenen Bücher, ungelesen André Schinkels Brief, den ich nach Venedig mitnahm – so voll der Tag, so vielfältig das Getümmel dieser immer musealer werdenden Stadt. So reich an Kunst ist Venedig, dass ich bei jedem Aufenthalt Neues entdecke, diesmal das Museo Fortuny mit einer wunderbar kuratierten Tàpies-Ausstellung im Rahmen der Biennale. Zwischen märchenhaft futuristisch glühenden Fortuny-Lampen, Kostümen, Vitrinen und Bühnen-Modellen im Palazzo des 1949 gestorbenen Erfinders, Beleuchtungsspezialisten, Designers und Modeschöpfers Mariano Fortuny hängen die leuchtenden Bilder …
Die Biennale zeigt viel. Zu viel. Viel Unwichtiges, längst Durchdekliniertes, Schreiendes, Dummes, Fades – aber auch Anregendes, Unterhaltsames. Wirklich Wichtiges, wirklich Neues sehe ich kaum. Die documenta in Kassel letztes Jahr wirkte stärker, auch wegen ihrer Gestaltung als breiter Horizont von Kunstbegriffs verschiebungen. Das Thema der Biennale, „Il Palazzo Enciclopedico“, unterliegt allzu oft dem Prinzip des Länderpavillonismus.
Giardini: Ai Wei Weis Hocker im französischen Pavillon (von Deutschland einge-laden, man tauschte gegenseitig die Pavillons): parabolisch und bedeutungslos schön zugleich: Unsesshaftigkeit, Heimatlosigkeit, absurde Existenz in materieller Überfülle, Tanzsprünge der Dinge; handwerklich sehr gut die ineinander gesteckten Hocker, die durch den Raum zu fliegen scheinen und die Rumpelkammer des Seins gestalten – Unsinnigkeit, Nutzlosigkeit, Unbenutzbarkeit werden dinglich, Unordnung wird, leicht frisiert, zur bewegten Skulptur.
Der zentrale Pavillon zeigt Bilder von Maria Lassnig – inmitten der vielen Spielchen und Spiele mit Formen, Moden, Lebensart in den anliegenden Räumen: Eine alte Frau im Tanz mit dem Tod, Tango nackt. In einem anderen Bild richtet die gleiche Frau eine Pistole auf den Betrachter, die andere gegen ihre Schläfe: Du oder ich! So expressiv, so bildhaft auf den Kern reduziert, so konsequent aufs Ganze gehend wurde schon lange nicht mehr gemalt.
Der Russland-Pavillon ironisiert den obskuren Geldfluss in der Welt. Man händigt „only“ den Besucherinnen transparente Schirme aus, damit sie sich – in Anlehnung an Danae, die von Zeus mit einem Goldregen befruchtet wurde – unbeschadet in den Geldregen stellen können, der vom Dach fällt, gepumpt aus einem finsteren Kellerloch – während die Männer von oben, auf Kirchenbänken kniend, zusehen, wie die Frauen das Geld aufsammeln und den Kreislauf in Gang halten – wohl keine gewollte Anspielung auf Beuys‘ Honigpumpe in Kassel, glaube ich, sondern Karikatur light.
Rudolf Stingels orientalisch gemusterte Teppiche im Palazzo Grassi – über 5000 Quadratmeter grob gedruckte Teppiche als Tapete und Fußboden – versinnlichen in ironischer Verfremdung und Übertreibung die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks im technischen Zeitalter. Na gut. Das Echte verschwindet in den Museen aus der Welt und verkümmert zur Matrize einer Design-Welt. Und die Augen legen sich hier auf die Matratzen der modischen Gefälligkeiten.
Arsenale: Beim Verlassen der großen Hallen hört der Kunstgänger die Blechbläser auf der S.S. Hangover: ein blauweißer Kahn mit einer Flagge als Segel. Bei langsamer Fahrt lange Töne aus Ebbe und Leere.
In einer Werfthalle erfüllt Kunstwille die Luft und dringt weit vor in die anderen Räume: Auf dem Boden die bunten Kegel der Gewürzpulverhaufen, angestrahlt von oben.
China tut sich schwer mit einer parodistisch-parabolischen Adaption des Höllensturzes von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle – als Grisaille: Alle Gesichter der in die Hölle Fallenden sind chinesisch, kahl rasierte Körper und Köpfe, oben steht Christus als Richter, nackt wie alle, ohne Kluft und Parteiabzeichen. Akte, Akteure des Falls aus dem Bereich des oberen sozialen Drittels.
Es ist ab und zu gut, das auf der Biennale Gesehene zu vergleichen mit älterer Kunst. Das war vor zwei Jahren einer der schönsten Einfälle der Biennale-Macher, die in den zentralen Pavillon der Giardini drei riesige Tintoretto-Gemälde hängten, deren perspektivische und bildhafte Wucht dem Besucher die Luft nahmen … In Peggy Guggenheims Museum stieß ich auf eine Collage von Max Ernst, die er Ferdinand Cheval, dem Postboten, zudachte. Der hatte sich ein Grabmal gebaut, ein Mausoleum, das weit über die Überfremdungs-Scholastik aller Biennalen hinausragt: Palais idéal nannte er es. Was für ein Name für eine Totenstätte! Peter Weiss schrieb darüber in den 60ern einen Artikel mit den einzigen Bildern, die damals die Literaturzeitschrift „Akzente“ in ihren Bleiwüsten zuließ – so befremdend und erstaunlich anmutend war die Architektur des Autodidakten Cheval.
In den Räumen des Palazzo Cini stellt Angola, Gewinner des Goldenen Löwen, seine Bilder und Skulpturen aus, ein Stockwerk über der schönen Sammlung italienischer Werke. Die Bilder aus Angola sind in der Tat bemerkenswert: Dortige Zustände, Armut und Unterdrückung, werden durch die formale Gestaltung, die an die besten europäischen Meister der klassischen Moderne erinnern, ins Allgemeine erhoben. Afroexpressionismus.
Unter vielen belanglosen Videofilmen dieser eine herausragende: über Blinde, die auf dem Boden kniend malen.
So viele Paläste, so viel Kunst! Ich werde nicht satt, aber müde.
Ich lese André Schinkels Brief, er legte einen kleinen Prosatext hinein: „Unter dem Blauglockenbaum“ – Pfalz-Impressionen, tagebuchartige Reflexionen von der „anderen Seite dieses seltsamen Landes“, schreibt er aus Halle an der Saale. … Und ich denke, es gibt noch so viele andere Seiten, ich empfinde Fremdsein / Anderssein schon in Westfalen, nicht weit von Bonn am Rhein. Noch mehr Fremdheit fühle ich in Ostfriesland … Die andere Seite finden wir ja schon in uns selbst … manchmal … Dann überfremden wir uns auch, um uns zu retten, wie die Kunst.
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Weiterführend →
Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.