Sehr gern wiederhole ich an dieser Stelle: Ohne die Versnetze-Sammelbände von Axel Kutsch empfände ich das lyrische Leben im deutschen Sprachraum durchaus als weniger reizvoll. Und so bin ich auch diesmal wieder hocherfreut, als der Postbote Versnetze_fünf überreicht. Welch pralle Pracht diese 5. Ausgabe von Versnetze bietet, ist schon auf den ersten schnellen Blick ersichtlich: Über den Daumen die Seiten abrollend, erkenne ich, daß (wie stets, wenn Axel Kutzsch ediert) Autoren verschiedenster Couleur und Könnerschaft einträchtig beieinander stehen: Dabei ist die gleichsam übergreifend neutrale Postleitzahl des Autoren-Wohnorts mitentscheidend für den ›Standort‹ der ausgewählten Gedichte, die der Lektüre und Einschätzung durch die Leser harren, die sie ja erst zum ›eigentlichen‹ Leben erwecken können – oder auch nicht (auch das Lesen von Gedichten ist Dichten. Erfinden, Ansetzen, Bauen. Erfinden · Elke Erb).
Die Lektüre einer Anthologie kann, im besten Fall, mit einem Satz Valérys, ein Fest des Intellekts sein, einzelne Gedichte sind es mit Sicherheit. Unter den etwas mehr als 200 Namen in Versnetze_fünf finden sich, beispielsweise, Jürgen Becker, Hans Bender, Klaus Peter Dencker, Ulrike Draesner, Manfred Peter Hein, Günter Kunert, Friederike Mayröcker oder Erich Adler, Marlies Blauth, Benedikt Dyrlich, Evert Everts, Marianne Ullmann, Helmund Wiese, Anna Würth oder Konstantin Ames, Ilse Kilic, Bertram Reinecke, Jürgen Nendza, Walle Sayer, A. J. Weigoni, Christoph Wenzel.
Eindrückliches Editionsprojekt
Die Stimmenvielfalt in Versnetze erscheint wesentlicher als die Auslese. Die Sprache mancher Gerdichte erscheint mir oft wie archaisches Sprechen, das seltsamerweise trotz der massiven Einflüsse der Moderne überlebt hat.
Um einmal mehr Walter Benjamin zu bemühen, der drei Arten von Anthologien unterscheidet: jene, die einen bedeutenden Dichter zum Herausgeber haben, dessen Lyrikauswahl eingestandenermaßen oder nicht normativen Charakter hat und deshalb selbst als Dokument der hohen Literatur gelten darf, sodann jene, deren Herausgeber als Person zurücktritt und sich rein informative Ziele gesetzt hat, und schließlich die unerfreulichste Gattung, die als müßiges Spiel eines Unberufenen ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte darstellt.
Die zeitgenössische Lyrik im deutschen Sprachraum ist, insbesondere seit den frühen 1990er Jahren, von immer wieder erstaunlicher Produktivität und Vielfalt. In den Jahren nach 2000 haben sich viele neue Stimmen zum lyrischen Wort gemeldet – mit sehr unterschiedlichen Ansätzen und nicht selten in einer intensiven Auseinandersetzung mit Überlieferung und Zeitgenossenschaft. Das Hergebrachte wird mit dem Neuen mehr oder weniger geglückt kombiniert, montiert – wobei sogar in den besten Fällen mehr als kleine Verschiebungen offenbar nicht drin sind, was vor Jahren bereits Ernst Jandl betonte.
Vielfalt der lyrischen Stimmen
Die Versnetze-Bände sind nicht einseitig bzw. stromlinienförmig ausgerichtet, sie vermitteln – naturgemäß exemplarisch, betont anti-elitär, erdverbunden (AK) –, die Literaturproduktion im deutschen Sprachraum in ihrer ganzen Breite, wie es Felix Philipp Ingold in Für eine Poetik der Anthologie formuliert. Im Vorwort des Herausgebers heißt es: In Versnetze_fünf wird man zahlreiche Beispiele jener Poesie finden, die sich dem raschen Verstehen entzieht […]. Allerdings lege ich als Herausgeber dieser Reihe auch immer Wert darauf, dem leichter zugänglichen, sagen wir: dem ›klaren‹ Gedicht ein Forum zu bieten.
Kutsch tritt mit den einführenden Worten hinter die ausgewählten Gedichte zurück, schreibt unaufdringlich und sparsam, der Ton ist leise, vorsichtig, dabei klar beim Plädoyer für die grundsätzliche Offenheit beim möglichst vorurteilsfreien Blick in alle Richtungen, die er exemplarisch vorstellt. Souverän bewegt sich dieser Herausgeber durch die Lyrikgeschichte, dabei ist nie auch nur ein Anhauch von aufdringlicher Gelehrsamkeit zu spüren. Zum neueren germanistischen Fachjargon hält er genauso Abstand wie zu der Ergriffenheitsprosa der älteren Gedichtinterpretation. Die von ihm seit nunmehr 30 Jahren jährlich herausgegebenen Sammelbände fügen sich ineinander mit eiszeitlicher, in geologischen Epochen denkender Zwangsläufigkeit, als gleichsam fortschreitende Bewegung. Der Anthologist Kutsch ediert in übergreifenden Werkzusammenhängen, was ihn vielleicht zu einer Ausnahmeerscheinung macht.
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Axel Kutsch (Hrg.): Versnetze_eins bis Versnetze_fünf. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008 – 2012.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.