Am 20. Oktober 2004 wäre Arthur Rimbaud, der Rebell der französischen Literatur, 150 Jahre alt geworden. Was bleibt?
Wenn man sich über Arthur Rimbaud informiert, hat man fast den Eindruck, als ob es sich bei ihm um den französischen Nationaldichter per se handelt. Dabei hat Arthur Rimbaud, der mit 37 Jahren an Knochenkrebs starb und dessen gesammeltes Werk in ein schmales Bändchen von Gallimard paßt, quantitativ kaum etwas vorzuweisen: ein paar frühe Gedichte, die „Saison en Enfer“, den Gedichtzyklus „Illuminations“ und einige Briefe. Das war’s. Geschrieben hat er all dies im Alter zwischen sechzehn und einundzwanzig Jahren. Danach wollte er von der Literaturszene in Paris nichts mehr wissen und verbrachte den Rest seines Lebens vorwiegend auf Reisen. Globetrotter, Verweigerer, Rebell, Flegel, „enfant de colère“. Er war ein Trotzkopf vom Lande, der sich 1871 in der Pariser Commune herumtrieb, bei saturierten Dichterzirkeln Rabatz machte, mit dem zehn Jahre älteren, bereits etablierten Dichter Paul Verlaine ein skandalumwittertes Bohème-Leben in Paris und London führte und dann in der Versenkung verschwand. Verlaine reiste ihm hinterher, veröffentlichte seine letzten Gedichte in „Illuminations“ und machte ihn dadurch über den Tellerrand hinaus berühmt in der Szene des Symbolismus und der Décadence – wäre Verlaine nicht gewesen, wäre Rimbauds Name wohl bald wieder von der Bildfläche verschwunden. So aber wurde er plötzlich zur Symbolfigur für sämtliche linksanarchistische Strömungen des 20. Jahrhunderts: Dada, Beat, Punk, und Thomas Collmer, der Hamburger Philosoph und Dialektiker, stellt ihn mit Hegel, Marcuse, Lacan, Derrida in eine Reihe im Sinne einer progressiven Negativität, einer vernunftorientierten Anti-Globalisierungs-Autopoiesis. Und das, obwohl Rimbauds Leben und Werk durchaus Rätsel aufgeben. Das letzte, was man von ihm hörte, war, daß er in Afrika als Waffenhändler jobbte. Und seine frühen Gedichte kommen einem in manchen Zeilen vor wie die „Neuer Mensch“-Gesänge vieler Expressionisten. Wie kann man einen ehemaligen Waffenhändler mit Antikriegs-Bewegungen kurzschließen? Wo lag das unmißverständlich „Wache“ von Rimbaud, auf das Richard Hülsenbeck in seinem Pamphlet „EN AVANT DADA!“ 1920 hinwies und das er den zahlreichen Kriegsgegnern unter den Künstlern der Weimarer Republik als leuchtendes Beispiel vorhielt?
Es lag vor allem an Rimbauds Appellen für das Leben selbst. Er war kein Lamentierer, er war ein Tatmensch. Öffnet eure Sinne! Entregelt euch, das heißt laßt euch nicht von stumpfsinnigen Regeln und Konventionen verblöden! Der Mensch ist doch kein eindimensionales Schaf in der Herde! Bringt eure Grütze zum Glühen! Durchschaut die Gesellschaft, indem ihr sie durchlebt!
Es steht mir fern, Rimbaud als etwas „darstellen“ zu wollen, und ich will auch nicht seine Widersprüche weginterpretieren; aber eines weist ganz deutlich nach vorn: seine Visionen, denen er vor allen Dingen in „Une Saison en Enfer“ (1873) sowie in seinen berühmten „Lettres du Voyant“ (1871) Ausdruck verlieh. Hier kommt vor allem eins zum Vorschein – eine äußerst dynamische Fortschrittskritik, ein entschlossenes Aufbegehren gegen marode Gesellschaftsstrukturen. Rimbaud war vielleicht der erste Punk, wie Ploog sagt – dies betrifft vor allem seinen kompromißlosen Modernitätsbegriff. Sein Ausruf „Il faut être absolument moderne!“ (Saison en Enfer) ist überall da aktuell, wo eine verdummende Fortschrittshörigkeit jede geistige Regung erstickt und kann ohne weiteres mit Hegels Forderung nach einem Ausbruch aus der „schlechten Unendlichkeit“ oder mit Kants Satz, Aufklärung sei die „Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, erklärt werden, und von hier zu Marcuse ist es nicht weit. Man kann Rimbaud mißverstehen, dies hat zum Beispiel Michel Houellebecq gemacht, als er seinen rechtspopulistischen Klon-Roman Elementarteilchen (1998) glaubte mit Anspielungen auf Rimbaud-Gedichte aufpeppen zu können. Aber so wie Collmer schreibt: „Die Art, wie Marcuse und Dutschke (in Bezug auf Gewalt, die Autorin) in der BRD von konservativen Kräften zu Wegbereitern der RAF stilisiert wurden und auch weiterhin werden, ist symptomatisch und bestätigt nur die diagnostizierte mediengestützte Repressivität des Systems“ – so kann man auch adäquat sagen: die Art, wie Rimbaud manchmal als Genosse der kriegsjubelnden Expressionisten und Futuristen stilisiert wird, ist genauso falsch. Jemand, der die Gesellschaft durch eine ehrliche Kultur menschlicher machen wollte, auch wenn er letztendlich teilweise resignierte, und der sich vehement für das Leben aussprach, der kann nicht für den Krieg sein.
Jean Nicholas Arthur Rimbaud, wurde 1854 geboren und starb 1891. Bis zum Alter von fünfzehn Jahren ist er ein talentierter Musterschüler, der für seine Aufsätze Preise einheimst und der Stolz der Mutter ist. Aber etwas brodelt schon da in dem jungen Arthur Rimbaud, der mit einem Bruder, zwei Schwestern und ohne Vater in der königlichen Isolation der Ardennen aufwächst. Der träge Lauf der Dinge und der ewig-gleiche Reigen sinnloser Konventionen sind ihm ein Dorn im Auge. Das Kommunions- und ein Schulfoto zeigen einen zwar adrett frisierten, aber trotzig und finster in die Kamera blickenden Jungen. Dann, im Frühling 1870, bringt ihn sein junger Lehrer Georges Izambard mit revolutionärer Literatur in Berührung: Georg Büchner, Charles Baudelaire, Victor Hugo. Und die Lunte zündet, der Kokon reißt auf, die Käseglocke wird zerdeppert, und Madame Rimbaud erkennt ihren einst so braven Jungen nicht wieder. Arthur Rimbaud revoltiert, er fühlt sich „zugekorkt von den Verhältnissen“, er will nur eins: raus! Rimbaud, der „angry young man“, erkennt intuitiv den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur, Literatur und Politik. Scheiß auf das, was sich hier „Kultur“ schimpft, eine Politik des Schönschwätzens, des Keine-Ahnung-Habens, des Ghettodenkens ist das, keine Kultur! Schwachsinnige Liebesromane, weltfremde Sonette über Blümchen und Bienchen, Zeitungsartikler, die pronapoleonische Phrasen absondern, nur damit sie ihren Job behalten – soll das alles sein? Und dann schaut euch diese Schwadroneure doch mal an! Wie können sie sich ein Urteil erlauben über Rausch, Drogen, Hunger, Zigeuner, Bismarck, Knast, richtige und falsche Verse, gute und böse Menschen, wenn sie nichts davon kennen, sondern nur Zeug nachplappern, das sie woanders gelesen haben? Eine Kultur, die derlei Straußen- und Drei-Affen-Politik als Kultur verkauft, ist selbst schuld, wenn ihre Bürger zu feigen und saturierten Spießern mutieren. Shakespeare kannte das Leben, das er beschrieb. Büchner wurde für sein „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“-Flugblatt steckbrieflich gesucht. Das war ein Revolutionär! Sein „Woyzeck“ ist immer noch eins der radikalsten Dramen aller Zeiten. Und Charles Baudelaire, einer der „poètes maudits“, ist für Rimbaud „un vrai dieu“.
Es ist Krieg, deutsch-französischer unter Bismarck, und Anfang 1871 besetzen die deutschen Truppen auch Charleville. Ausnahmezustand, die Schule macht dicht. Mit Izambard und dessen Freunden bleibt Rimbaud aber weiter in Kontakt. Er will nach Paris, wo die Revolution tobt, wo sich die Commune strukturiert und niedergeschlagen wird und wo auch einige der revolutionären Dichter sitzen, von denen er gehört hat. Paul Verlaine etwa und Theodor de Banville. Er reißt aus, setzt sich in einen Zug – aber weil er keine Fahrkarte hat, wird er in Paris festgenommen und eingeknastet. Izambard kommt, holt ihn raus und liefert ihn wieder in Charleville ab. Rimbaud reißt erneut aus, diesmal läßt er sich nicht erwischen. In Paris strolcht er eine zeitlang ziellos und ohne Geld zwischen den von den Nebenwirkungen des Kriegs – Hunger, Krankheiten – erbärmlich ausgezehrten Menschen herum, bevor er wieder zum „Krokodil“, der Mutter, nach Charleville zurückkehrt. Diese Erfahrung des Kriegs macht ihm deutlich, wie fehlgeleitet die herkömmliche Macht und Gewaltpolitik ist und wie überfällig eine Revolution, die genau dieses Denken abschafft.
Und hat ein Dichter, wenn er seine Berufung ernst nimmt, nicht genau das zu leisten? Ist es nicht gerade sein Job, die Gesellschaft zu dechiffrieren? Darum geht es in Rimbauds „Lettres du Voyant“. Wer ein wahrer Dichter sein will, darf sich niemals mit einem schmalen Horizont zufriedengeben. Ein Dichter muß mit allen Wassern gewaschen sein! Um gegen die Übel dieser Welt anschreiben zu können, gilt es, die Übel erst einmal kennenzulernen und zwar am eigenen Leib, auch, um dann einige Schein-Übel und Vorurteile als von der herrschenden bürgerlichen Elite erfunden und breitgetreten zu enttarnen. Auf diese Weise ist ein literarischer Revolutionär dann wirklich auch ein politischer Revolutionär:
„Die erste Aufgabe des Menschen, der Dichter werden will, ist die volle Kenntnis seiner selbst, er taucht nach seiner Seele, gewinnt Einsicht in sie, erprobt sie, lernt sie kennen. Sobald er sie begriffen hat, muß er sie weiterbilden … – Ich sage, man muß Seher sein, sich sehend machen. Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und bewußte Ent-Regelung ALLER Sinne. Alle Arten von Liebe, Leiden, Wahnsinn: er sucht sich selbst, er erschöpft alle Giftwirkungen in sich, um nur die Quintessenz zu bewahren. Unsägliche Folter, wo er volles Vertrauen, alle übermenschliche Kraft braucht, wo er unter allen der große Kranke, der große Gesetzesbrecher, der große Geächtete sein wird – und der höchste Wissende! – Denn er kommt an beim Unbekannten! Weil er seine schöne reiche Seele weitergebildet hat, weiter als irgendjemand sonst! … Da im Übrigen jedes Wort eine Ein-Sicht ist, wird die Zeit einer universellen Sprache kommen! Diese Sprache reicht unmittelbar von Seele zu Seele, faßt alles zusammen: Düfte, Klänge, Farben. Der Dichter würde das Feld des Unbekannten bestimmen …; das Maßlose, von allen angeeignet, würde zum Maß; so wäre der Dichter wahrhaftig ein Vervielfältiger der Veränderung! … Die nie endende Kunst hätte eine Aufgabe, und die Dichter wären Glieder der Gemeinschaft. Die Poesie wird nicht mehr das Tun rhythmisieren, sie wird ihm voraus sein! Diese Dichter werden kommen!“
Man kann diese Zeilen verstehen oder auch nicht, aber entscheidend ist, daß der in ihnen ausgedrückte Appell zur De-Entfremdung in nahezu jedem linksalternativen Stück Kulturkritik auftaucht, z.B. in dem Essay „SPRACHE IST EIN VIRUS“ von Jürgen Ploog. Daran ist zu erkennen, wie aktuell und dringend Rimbauds Appelle immer noch und nach wie vor sind, vor allem jetzt, in der „modernen“ (??) Flachwelt der Medienkommunikation, wo Leute, die wirklich etwas zu sagen haben, in Nischen gepfercht werden, während vorne wie immer die Labertaschen und Großschwätzer rumstehen, die nur in ihrem eigenen Dreck rotieren. Zu beachten sei, daß Rimbaud mit seinem „die Maßlosigkeit wird zum Maß“ nicht von unserem aktuellen Zustand des „Alles ist möglich“ spricht – wer das assoziiert, der hat den wichtigen Hinweis auf die Seelenbildung überlesen. Rimbaud will keine enthemmten Neurotiker, wie er sie später zuhauf kennenlernte – er will Leute, die das Leben als konkretes Handlungsfeld auffassen, die Erfahrungen machen und die dann aus diesen Erfahrungen zu lernen bereit sind. Diese Vision ist zutiefst humanistisch. WENN DIE LITERATUR NICHT RADIKAL NACH VORNE AUS DER SCHEISSE HERAUSFÜHRT, WOZU SOLL SIE DANN ÜBERHAUPT GUT SEIN? Exit Only. Progression heißt nichts weniger, als daß man das, was man einmal als dumm, unmenschlich, verlogen erkannt hat, hinter sich läßt und nicht weiter perpetuiert. Rimbaud hat gespürt, daß eine wirklich kompromißlos mit überkommenen Schablonen brechende Literatur nicht mehr länger begleitender, aber im Grunde überflüssiger Wurmfortsatz einer regressiven Scheuklappenkultur wäre, sondern diese Scheuklappenkultur von Grund auf ausmisten würde. Und als er sah, daß sich auf dieses radikale Wagnis, diese ungeheuerliche Mission niemand außer ihm, nicht einmal Izambard und Verlaine, so richtig einlassen wollten, da sagte er: Na schön, dann halt nicht! Wenn ihr keine „absolument moderne“ Literatur haben wollt, dann lassen wir das Projekt sein. Eure Wurmfortsatzliteratur braucht niemand. Ich auch nicht. Adios! – Sprach es und verschwand und stopfte seine zusammengeknüllten Gedichte ins Klavier. Das „Ende der Utopie“, von dem Marcuse 1967 sprach, war noch nicht gekommen.
Paul Verlaine, einer der wenigen zeitgenössischen Dichter, denen Rimbaud für die Gegenwart das Prädikat „Seher“ verleiht, lädt den jungen Rebellen im September 1871 nach Paris ein, das Geld für die Zugfahrt schickt er gleich mit. Rimbaud zieht bei Verlaine und seiner Frau im Montmartre ein und wird von Verlaine in den Dichterzirkeln der Parnassiens eingeführt. Doch bald kommt die kalte Dusche: diese Dichter, von denen er sich so viel poetische Revolution erhofft hatte, ruhen sich auf ihren Versen aus wie die Schulmeister von Charleville auf ihrem Kathederwissen, und Verlaine betreibt keine „bewußte Entregelung aller Sinne“, nein, er ist ein klassischer Alkoholiker, der sich in seiner Bürgerlichkeit verschanzt und sich zufuselt, um zu vergessen, was für eine jämmerliche Existenz er führt. Verlaine ist zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, und wenn Rimbaud nicht gewesen wäre, wäre er wohl noch in seinen frühen 30ern depressiv am Fusel eingegangen. Rimbaud aber wittert in ihm die „âme eternelle“, den Werwolf, dessen Entdeckerqualitäten nur brachliegen, und macht Verlaine zu seinem Höllengefährten.
Verlaine ist bald auch der einzige in Paris, der noch zu Rimbaud hält; bei den Dichterzirkeln der „Villains Bonhommes“ hat Rimbaud schnell verschissen, nachdem er bei einer Lesung laut „Merde!“ brüllt. Die prominenten Poètes Parnassiens können mit dem radikalen Blondschopf, dessen Haare nun nicht mehr adrett frisiert sind, sondern störrisch zu Berge stehen, nichts anfangen.
Und bei Verlaines hängt der Haussegen schief, da sich Paul lieber mit Rimbaud zu Sauf- und Hasch- und Opiumorgien in der Stadt herumtreibt, statt sich um seine Frau und sein Neugeborenes zu kümmern. Verlaine und Rimbaud, das Höllengespann. Im Herbst 1872 – nachdem Verlaine, dessen latente Aggressivität und Gewalttätigkeit im Suff immer wieder durchbricht, versucht hatte, seine Frau zu erwürgen – brennen er und Rimbaud zusammen nach London durch. „Lesen und Trinken. Trinken und Lesen. Dazwischen Essen und Schlafen als bittere Notwendigkeit und Laufen als süßer Luxus“ (zit. nach Henning Boetius: ICH ist ein anderer – Das Leben des Arthur Rimbaud, Frankfurt 1995, S. 170).
Sie leben hauptsächlich von dem Geld, das ihnen die „Blindschleiche“, Verlaines Mutter, schickt. Verlaines Frau Mathilde fürchtet natürlich, daß die beiden in London Schwulitäten treiben, und droht wieder die Scheidung an. Nach weiterem Hin und Her kommt es im Sommer 1873 in Brüssel zum Eklat: Verlaine, stinkbesoffen, fuchtelt mit einer Pistole herum und schießt Rimbaud im Beisein der Blindschleiche in die Hand. Daraufhin wird er verhaftet und fährt erstmal für zwei Jahre in den Knast, wo zwei Wunder geschehen: er wird trocken und katholisch.
Für Arthur Rimbaud sind hiermit die Lehrjahre beendet, und die ersten Früchte des Sich-Sehend-Machens, des „arriver à l’inconnu par le dérèglement des TOUS les sens“ sind reif: Rimbaud fühlt sich jetzt, nach einigen seelenbildenden Abenteuern, fähig für wahre Poesie. Er verschanzt sich im Bauernhof der Mutter in Roche auf dem Dachboden und schreibt „Une Saison en Enfer“, die Zeit in der Hölle, das einzige Buch, um dessen Druck er sich selbst bemüht. Im konventionellen Literaturwissenschaftsjargon kann man natürlich sagen: Er habe darin versucht, seine Beziehung zu Verlaine aufzuarbeiten. Aber es ist mehr, viel mehr! Die „Saison en Enfer“, das ist ein Juwel in experimenteller Prosa voller Wahrheiten. Wenn mir der Literaturbetrieb mal wieder zu hohl, zu aufgeblasen, zu sehr dominiert vorkommt von Weichspülrevoluzzern, Biomüllneurotikern und visionslosen Phrasendreschern, dann schlage ich meine „Saison en Enfer“ auf. Und ich weiß wieder, wo ich stehe. Die „Alchimie du verbe“ zum Beispiel. Und „faim, soif, cris, danse, danse, danse, danse! En marche!“ Es gibt eine Anekdote, wonach Rimbauds Mutter das Manuskript zur Hand nahm und den Kopf schüttelte und sagte: „Aber Junge, was soll das denn bedeuten?“ Und Rimbaud sagte: „Nichts weniger als das, was da steht.“ Genauso ist es. Progression der dekonditionierten Sprache. Thomas Collmer hat in seinem Buch „POE ODER DER HORROR DER SPRACHE“ (MaroVerlag, Augsburg 1999) einige wesentliche Interpretationen dazu geliefert.
Dann beginnen die Wanderjahre. Rimbaud läuft. Quer durch Europa. Zu Fuß. Er hatte keine spezielle Ausrüstung, er hatte nicht mal Geld. Er lief mit Schnürstiefeln an den Füßen, einem ramponierten Zylinder, seinem „Merlinhut“, auf dem Kopf, der Pfeife im Mund und einem Stock in der Hand durch Deutschland, durch Belgien, über die Alpen nach Italien. Die Sprachen lernte er beim Laufen. Reisen, Vorwärtsschreiten, nirgends länger als unbedingt nötig verweilen, das Bilden des Geistes kann nicht exzessiv genug sein! Er schloß sich einer Zirkustruppe an und vagabundierte in Skandinavien herum. Helsingör, Norwegen. Schottland. Wien, Gibraltar, Rotterdam, Neapel, Suez, Aden. Dann Harar. Wenn er irgendwo eine Anstellung annahm, so nur aus existentieller Not. Hunger, Erschöpfung und Geldknappheit begleiteten ihn sein ganzes Leben lang. Bei den Zirkusleuten arbeitete er als Ticketabreißer, in Zypern als Palastbauaufseher, in Afrika als Kameltreiber, später als Waffenhändler. Daß er sich diesen Job nicht ausgesucht hat, daß er nicht etwa, wie manche Alternative deuten, zum Establishment übergelaufen ist, zeigen seine Briefe nach Charleville: „Meine Arbeit ist absurd und unmenschlich … Ich hoffe sehr, daß dieses Leben hier aufhört, bevor ich noch völlig verblöde … Man muß es ganz schön nötig haben, sein Brot zu verdienen, um sich in solchen HÖLLEN anstellen zu lassen! So wird man in wenigen Jahren zu einem 100%-Deppen!“
Die Literaten in Paris registrieren nur sein Verstummen und fangen langsam an, ihn zum „früh vollendeten Genie“ hochzustilisieren. Manche tun so, als ob er bereits tot wäre; manche deuten sein Verstummen als Rückzieher, als Flucht oder doch als ein Eingeständnis des Schei terns. Einerseits stimmt das, wenn man die „Saison en Enfer“ mit ihren Appellen an das Schweigen („Tais-toi! … Je voudrais me taire. … Je ne sais plus parler!“) so liest, daß er nun doch das Gefühl hat, mit Sprache ist nichts zu verändern. Aber andererseits ist die „Ent-Regelung ALLER Sinne“ doch eben ein lebenslanges Projekt, das durch das Schweigen nicht abgebrochen, sondern weitergeführt und vertieft wird. Schweigen ist eine Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln, „j’écrivais des silences“. Wenn man das Gefühl hat, daß es noch zu sehen, zu hören, zu laufen gilt, dann sollte man das tun und nicht schwätzen. Handeln statt Labern. Das Vorstoßen zum Unbekannten, das „posséder la vérité dans une âme et un corps“ (so lautet der letzter Satz der „Saison en Enfer“): Das ist das rimbaldeske Zen. „Écoutez! J’ai tous les talents!“ ruft Rimb, und das heißt: Schreiben ist doch nur EINS davon, ist nur EIN Exzeß, EINE Seite des großen Ent-Regelungs-Projekts. Nach der „Alchimie du verbe“ ist die Buchstaberei für ihn gegessen wie eine Droge, deren Wirkung man ausgekostet hat und die jetzt nicht mehr funktioniert. Sicher, er war auch und vor allem enttäuscht von der Literatur, und er merkte, daß sie eben immer noch Lichtjahre davon entfernt war, die Gesellschaft aus ihrer Eindimensionalität herauszuführen, aber das heißt nicht, daß er von seiner Vision zurücktrat. Wenn der 30jährige Rimbaud sich von den Visionen, die er als 17jähriger hatte, hätte distanzieren wollen, dann hätte er genausogut in Paris bleiben und als „geläuterter“ visionsloser, aber berühmter Ex-Communarde leben, vielleicht sogar recht behaglich als Herausgeber seiner eigenen gesammelten Werke alt werden können im Stil vom alten Goethe. Jetzt bin ich zynisch. Aber so sehen Rückzieher aus: Kleinlaut zurück zum Un-Seherischen und Konstruktion eines Bruchs in der Biographie.
In Rimbauds Biographie aber gibt es keinen Bruch. Es gibt nur Abschnitte, Wegverbindungen, vielleicht mal kurz eine Unebenheit oder einen Tümpel, den es zu durchwaten gilt. Aber es geht immer vorwärts, genau wie auch Rimbaud selbst in seinen Märschen stets ausschritt. Seine Übersetzer Therre und Schmidt weigern sich sogar, überhaupt von irgendeiner Jahreszahl des Verstummens zu sprechen. Er schrieb ja Briefe und Reisenotizen, und wo ist da eine Grenze zu ziehen zu „literarischem“ Schaffen? Rimbaud wollte eine neue Sprache schaffen, die alle Sinne umfaßt und auch die betriebseigenen kleinkarierten Gattungsgrenzen überwindet. In Afrika widmet er sich außerdem der Musik und der Fotographie (von ihm stammen einige der ersten Fotos der Landschaft Nordafrikas), und zeichnen tut er nach wie vor. Nach der Alchimie des Wortes folgt die des Bildes und der Töne. Sein Leben war nie einfach, und oft leidet er auch darunter, daß er eine so rast- und ruhelose Natur ist, daß er kein Ziel hat, kein Geld, keine Stellung; seine Briefe aus Afrika bezeugen dies.
1891 meldet sich sein Bein. La jambe de l’universe. Schmerzhafte Krampfadern und ein Knietumor sind die Folge von exzessivem Laufen. Rimbaud schreibt seiner Mutter, damit sie ihm Stützstrümpfe schicken möge, wird dann aber doch von Harar nach Marseille transportiert, wo er am 10. November nach der Amputation stirbt. Verlaine, der wieder dem Fusel verfallen war, überlebte ihn um fünf Jahre, das Krokodil starb erst 1907. Im selben Jahr wird in Charleville eine Rimbaudbüste enthüllt.
Was bleibt? „Die Nächsten-Liebe, das ist der gesuchte Schlüssel. Der Engelsgesang der Vernunft quillt vom Erlöser-Boot. Ich setze mich auf die oberste Sprosse der Engelsleiter des Gesunden Menschen-Verstands“ (Saison en Enfer).
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Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix. Lesen Sie auch den Nachruf von Bruno Runzheimer. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier.