Stammtischpathologie

Das Grundgesetz trat am 24. Mai 1949 in Kraft – einen Tag nach seiner feierlichen Verkündigung. Mehr als die Verfassung existierte von der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

 

Die Bonner Republik war weniger ein Land als eine Zeit. Das subkutane Weiterwirken der Bonner Republik registriert A.J. Weigoni genau. Immer wieder kehrt seine Fiktion in das Rheinland zurück, wobei die Darstellung ständig zwischen Heimat und Anti-Heimat pendelt. Festzustehen scheint nur, dass ihre Anti-Heimat-Gefühle mit dem politischen Raum verbunden sind.

Dampf, der im Pöbelhirn entsteht

Die Lokalhelden sind sich der Unzerstörbarkeit in ihrer Aura zu selbstgewiß. Weigoni legt in seinen Erzählungen den Abgrund unter dem alltäglichen Geschwätz frei. Dieser Romancier versteht etwas von den Lebensverhältnissen seiner Figuren, zeichnet sie zärtlich und engagiert sich geduldig, unsere Welt zu verbessern. Ästhetik, Moral und Emotion finden bei Weigoni zu einem Dreiklang zusammen, wie er in der zeitgenössischen Literatur viel zu selten vernehmbar ist. Sein Schreiben richtet sich eindeutig gegen die Beschleunigungsmechanismen einer Gegenwart, die das spektakuläre Ereignis zelebriert und in Rekorden schwelgt. Einst war die Muße das vornehmste Gut des Menschen, an ihrer Stelle haben sich die postmodernen Konsumgüter eingehandelt, das Tempo und den wachsenden Zeitmangel.

Literatur ist das Gegenteil von Polemik. Literatur befreit die Sprache, Polemik missbraucht sie.

Peter Stamm

Hier findet eine Art von Heimatkunde statt, die nicht auf dem Lehrplan für die erste Stufe des Geographie- und Geschichtsunterrichts steht. Heimat ist etwas ist, das man sich selbst schaffen muß, sie wird für die Rheinländer erst zu einem Wert, wenn Ferne oder Exil als ein drohendes Schicksal oder als ein realisierbarer Alptraum aufscheint. Die Frage ist, ob wahre Heimat immer eine Heimat der Geburt, der Wurzeln oder des Ursprungs sein muß oder ob auch eine Wahl-Heimat nicht eigentlich eine authentische Heimat sein kann. Die Do-it-yourself-Haltung von Punk verband sich etwa auf der Ratinger-Straße mit Hedonismus und Ironie, mit linkem Bewusstsein und Theorieseligkeit. Im Schatten der Kunstakademie verschwendete man seine Jugend und sonnte sich im Bewusstsein des eigenen guten Geschmacks. Sprachkritik, Sprachzersetzung, Sprachexperiment und Sprachspiel sind die Mittel, durch die dieser Schriftsteller vom Rande des Kulturbetriebs her die Tradition angreift, was die Invasion des Imi durchaus nahelegt.

Weigoni lotet nicht nur gesellschaftliche und politische Untiefen aus, sondern bringt auch den Wahnwitz zu Papier, der immer dann aufblitzt, wenn sich die Rheinländer begegnen. Es sind Tiefbohrungen im kulturellen Gewebe der Rheinlands und den Abgründen der Geschichte. Wir folgen einem Sprachfest voller Abweichungen.  Hier leben Figuren des Unbestimmbaren. Das Rheinland ist ein Refugium von Identitätsvorstellungen. Die Welt ist nichts anderes als eine Geschichte im Entstehen, und wir sind Figuren auf der Suche nach ihrem Autor.

Die Realität ist nicht mehr konsenspflichtig.

Niklas Luhmann

Dieser Romancier weiß um die Schattenseiten von Vernunft und Fortschritt. Seine Versuche, dem Verstand ein Schnippchen zu schlagen, sind ein Vergnügen. Am Ende dieser Entschlüsselungsliteratur findet man den Menschenkenner nicht in der Tradition des Misanthropen oder gar Zynikers wieder, vielmehr erweist er sich als Humanist. Das Rheinland ist nicht heiter, aber Weigonis Sinn für Komik ausgeprägt. Er beobachtet äußerst präzise und bedient sich einer zwischen Lakonie und lyrischen Ausschweifungen pendelnden Sprache. Die Rheinländer geben ihr Geheimnis weiter, weil sie merken, daß sie es nicht mehr bewahren können. Aber als jemand mit einem sprühendem Humor, mit der er  scheinbare Alltagsbanalitäten mit surrealistischen Einschüben verbindet. Weigoni inszeniert den Auftakt seines Romans mit der lässigen Sicherheit eines Pokerspielers, der einen Royal Flush in der Hand hält; und am Ende der Partie gehen beide als Gewinner vom Tisch: der Autor wie der Leser.

 

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

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Coverphoto: Jo Lurk

Lesen Sie auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl mit Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor über die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Denis Ullrich mit einem Rezensionsessay.