In Deutschland bildet das […] Kleinbürgertum die eigentliche Grundlage der bestehenden Zustände.
Karl Marx 1848
Der Spießer ist fast aus dem Duden gefallen. Zeit für eine Rehabilitation. Die abschätzige Bezeichnung „Spießer“ geht auf die im Mittelalter in der Stadt wohnenden Bürger zurück, die ihre Heimatstadt mit dem Spieß als Waffe verteidigten. Soziologisch unterschieden Spießbürger sich von den in der Vorstadt wohnenden Pfahlbürgern, sie gehörten jedoch innerhalb der Stadtgesellschaft zu den eher ärmeren Bürgern, da sie bei den städtischen Fußtruppen ihren Dienst taten, während wohlhabendere Bürger dafür Söldner bezahlen konnten. Der Spieß als Waffe war schmiedetechnisch relativ günstig herzustellen und zugleich gegen die adligen Ritterheere des Hoch- und Spätmittelalters effizient einzusetzen. Er verhalf Bürgern und Bauern in den Hussitenkriegen zu großen Siegen in den Schlachten gegen die adlige Kavallerie. Durch die spätere Gleichsetzung der Begriffe Treue und Ehre wurde der Treuebruch zu einem Ehrverlust. Die Bezeichnung „Spießbürger“ war also vor den sogenannten „68“-ern positiv besetzt, da der Dienst zur Verteidigung der Heimatstadt als Ehre angesehen wurde.
Der Begriff Ehre verlor wie die Bezeichnung Spießer den traditionellen moralischen Inhalt.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gehörte es zum guten Ton, alles als fragile Konstruktion von Sprache und Macht zu entlarven. Das ist nicht mehr so. Gerade werden in den sogenannten „sozialen Medien“ alle Relativierungen von Echtheit und Identität aufgrund einer verschwitzten Authentizität aufgegeben, (selbstverständlich nicht ohne Beweisphoto!). Herr Nipp aus Möppelheim löckt in seinen Zeitgeiststücken seit 1994 gegen den Stachel. Er untersucht, warum der Adler über Arnsberg kreist, in Hüsten die Kälber stehen, in Müschede die Eulen rufen, in Herdringen die Krähen kreisen, in Bruchhausen die Enten watscheln und sich in Voßwinkel die Füchse davongeschlichen haben. Sein Panoramablick vom Hochsitz ist gepaart mit scharfer Zeitanalyse, meditativer Betrachtung und feinfühliger Introspektion, so bringt er das Kunststück zustande, die Provinz als etwas lebenswertes darzustellen. Beim Jagen findet Herr Nipp zurück zu seinem urtümlichen Wesen. Auf der Kanzel kann er den Kreis zu seinem archaischen Dasein schließen, seinem eingebauten Beuteinstinkt nachgehen und also seine älteste Lebensform wiederentdecken. Sein Möppel wartet stets am Fuß des Hochstands. Ortega y Gasset war überzeugt, „daß das Sein des Menschen zuerst darin bestand, daß er Jäger war“. Orion, der große Jäger, ist laut der griechischen Mythologie von der Jagdgöttin Artemis in den Himmel versetzt worden.
Was für eine verteufelte Beschäftigung ist eigentlich die Jagd?
José Ortega y Gasset
In seinem neuen Buch Guppy im Gin unternimmt Herr Nipp die teilnehmende Beobachtung seiner selbst. Ein knappes Jahr lang horchte er in sich hinein, ging dem Widerhall der Debatten in sich selbst nach. Diese Gebrauchstexte sind zu trocken, zu sprunghaft für Schwärmerei. Keine Waldweisheit, keine Mystifizierung des Waldes als höheres Wesen findet sich hier. Erdgebunden geht es dem knorrigen Sauerländer um die großen Fragen, und warum man sie einfach nicht beantworten kann. Es ist eine Form von Wirklichkeitsliteratur, die das Dichterische hinter sich gelassen hat. In seinen ebenerdigen Glossen, Zeitstückchen und seiner Twitteratur zeigt er auf, wie konstituierend das Kleinbürgertum für die Zeit nach der narzistischen Versuchung war. Der Ouerbeetdenker räumt in seinen zuweilen essayistischen Betrachtungen grundsätzlich mit dem rasenden Fortschritt auf, mit dem Glauben, daß der Mensch kraft seines Intellekts zu den Sachen selbst und so zur absoluten Wahrheit vordringen könne. Weiterleben
Herr Nipp, ein entfernter Verwandter von Herrn Keuner und Herrn Karl.
Weiterleben bedeutet im Sauerland das Leben gelassen aushalten zu können. Die daraus entstehende Kraft vermag Herr Nipp zu übertragen, in Glossen, Twitteratur und sonstige literarische Selbsterkundungen. Als geduldiger Beobachter steht er stets Abseits, quasi als Spießer in Reserve. Aus der Pedanterie seiner Abschweifungen gewinnt er Medizin gegen Melancholie. Nicht mittun, Abstand halten, jede Torheit unter Vorbehalt stellen und bis an die Zähne mit Skepsis bewaffnet sein. Er hat das Luhmannʼsche Prinzip der Beobachtung höherer Ordnung in seinen Zeitgeistbetrachtungen verarbeitet. Dieser Alltagsmensch läßt sich das Heimatgefühl nicht von selbsternannten Heimatpflegern wegnehmen. Seine – wenn man so will – historische Aufgabe ist es, das Kleinbürgertum mit einem Spieß vor den Identitären und den sich selbst ernannten Reichsbürgern zu bewahren.
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Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus).
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421