Über die ewig wiederbelebte Leiche des literarischen Undergrounds

Anläßlich des 25. Todestags von Josef „Biby“ Wintjes schrieb KUNO an einer Friedhofsgeschichte der deutschen Alternativ-Literatur. Das Schlußwort hat Ní Gudix, eine exzellente Kennerin der Szene. Sie fragt sich in ihrer Polemik:

„Gibt es eigentlich noch so etwas wie einen literarischen Underground?“

 

Meine Antwort: nein.

Oder differenzierter ausgedrückt: „Der“ literarische Underground, derjenige der 60er, 70er und 90er Jahre, ist definitiv tot. As dead as a doornail. Man kann ins Museum gehen und ihn sich da angucken, man kann sagen „ich war dabei“ und Gedenklesungen veranstalten mit den übriggebliebenen Veteranen und Gedenkanthologien herausgeben. Aber all dieser Aktionismus ändert nichts an der Tatsache, dass der literarische Underground in Deutschland heute tot ist und alles Berufen auf ihn nur ein hilfloses Nachklappern darstellt.

Es lief kürzlich auf Facebook eine Tafel herum, auf der viele Namen standen, Namen von diversen zeitgenössischen Schriftstellern, und der Seitenbetreiber schrieb dazu, das sei der Gegen-Kanon. Das spielt an auf die Wörter Gegenkultur, Gegenöffentlichkeit usw., nur fragte ich mich: „Gegen-Kanon“ – wogegen denn?

Was für eine Gegen-Position vertreten denn die hier aufgeführten Autoren?

Denn das glorreiche Märchen von der wackeren Gegenkultur, die gegen das böse Establishment rebelliert, ist doch schon lange passé. Zumal Bert Papenfuß, ein Name auf der Liste, auch schon mal in einem von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Kanon drin stand.

Für mich bildete die Liste einige gute und ernstzunehmende Schriftsteller ab und einige nicht ernstzunehmende, solche, die sich selbst als „Schreiberlinge“ bezeichnen und die mitsurfen auf der Welle, die der tote Underground geschaffen hat, als er noch lebte, die aber selbst nicht viel zu sagen haben und ohne das Attribut „Underground“ in sich zusammenfielen.

Was für mich entscheidend ist, wenn ich vom Tod des Underground spreche, ist: der Protest ist weg. „Underground“ war in den 60er und 70er Jahren ein oppositionelles Dagegensein gegen den etablierten Literaturbetrieb. Und nicht erst da – Underground gab es schon viel früher: Dada war Underground, Rimbaud war Underground. Auch der junge Goethe war Underground: was er in seinen frühen 20ern raushaute, das brachte die Spießer auf die Palme und die Literaturbonzen zum Toben. Allerdings hat der alte Goethe, der Weimaraner Klassikerpapst, dann viele seiner ersten wilden Gedichte zensiert und gebändigt – Goethe war Mainstream geworden, war Leitkultur und pinkelte niemandem mehr ans Bein.

Zurück zu den 60er Jahren. Der Beat war von den USA nach Deutschland geschwappt. Die Literatur in Deutschland war ziemlich angestaubt und angejahrt, und es waren immer dieselben Großbarden, die immer dasselbe schrieben und die leider immer noch den Hauptteil der Literatur bestritten. Dinge, die die Rebellen bewegten, wie den neu aufkommenden Öko-Boom, Selbstverwirklichung, Rock’n’Roll, Drogen, Freiheit – all das kam nicht vor. Also lehnten sich die jungen Wilden dagegen auf, gründeten ihre Kleinverlage und ihre Zeitschriften, um so wenigstens ein Organ für sich zu haben. Wir gegen das System! Der Underground war somit das Sprachrohr derer, die sonst keine Stimme hatten.

Und Anfang der Neunziger noch mal dasselbe. Die Literatur der 80er Jahre war wieder zu abgehoben und zu elitär und bildete nicht ab, was viele junge Rebellen bewegte. Die Ära von King Kohl war eine bleierne Zeit. Also ging es noch mal los mit kopierten Fanzines, Poetry-Slams  und dem ganzen Dagegensein. Diesmal ging es auch um härtere Themen: um Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Perspektivlosigkeit, darum, dass junge Dichter in dem saturierten Spießer-Deutschland keine Zukunft sahen. Also erneut:

Wir gegen das System!

Tja, und nun? Das System hat sich geändert. Seit 15 Jahren regiert Kaiserin Angela I. die Alternativlose mit eiserner Klaue, eiserner noch als weiland die von King Kohl. Eine neue Biedermeierzeit ist über Deutschland hereingebrochen, ein Rückzug in die Innerlichkeit, in Wohlfühl- und Kuschel-Zonen. Nabelbeschau, Befindlichkeiten, heile Welt auf Facebook und Instagram und Herzchen, wohin man sieht. Nix mehr mit Rebellion. Nix mehr mit Underground. Und es sind wieder immer dieselben Ex-Revoluzzer, die immer dasselbe schreiben.

Der Underground ist Kitsch geworden, leblos und abgedroschen.

Die ehemaligen Undergroundler haben sich in ihre Filterblasen verzogen. Da klopfen sie sich jetzt gegenseitig auf die Schulter und erzählen immer und immer wieder ihre Döntjes über ihre wilde Jugend. Aber Bier- und Bumsgeschichten sind heute kein Underground mehr, im Gegenteil: man muss dazu nur RTL2 einschalten. Themen wie Umwelt und Öko sind ebenfalls kein Underground mehr – die Grünen sind keine Randpartei mehr, sondern Regierungspartei. Und auch die Massendemos der „Fridays for Future“-Bewegung sind nicht Underground, sondern professionell inszenierter Mainstream. Wenn Greta Thunberg Gedichte schreibt, kommen die auch nicht in schlechtkopierten Fanzines raus, sondern gleich in Broschur mit Goldbändchen, und fett bezahlte Lesungen gibt’s dazu, am besten gleich im Schloss Bellevue. Auch Themen wie Homosexualität und Coming-Out, Yoga und Tantra und Esoterik, Janis Joplin und Jimi Hendrix sind keine Undergroundthemen mehr, sondern Mainstream. Und der uralte Punk-Slogan „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – das ist auch nicht mehr Underground, das ist Regierungspropaganda geworden. Damit pinkelt man nicht mehr dem System ans Bein, sondern man bekommt von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen feuchten Händedruck und wird von Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth schmachtend an den Busen gedrückt.

Der „Underground“ ist ein Sprachrohr geworden für die, die ohnehin die lauteste Klappe haben, er kräht mit im Kakophonistenchor der Leitkultur.

Die literarische Alternative ist tot. Es gibt keinen Appell mehr, keinen Impetus, keine Rebellion. Der Underground – bzw. der Pool derer, die sich dafür halten – ist eine Art Waldorf-Kindergarten geworden. Es gilt das Motto „jeder kann schreiben, jeder darf schreiben“. Folgerichtig wird jeder Blödsinn gelobt und mit Herzchen und Küsschen versehen bis zum Abwinken. Alle haben sich lieb, Kritik ist nicht erwünscht. Die Texte changieren zwischen seichten Alltagsbetrachtungen, Befindlichkeitsprosa, Bierlyrik, Vergangenheitsseligkeit, Charles-Bukowski-Psalmen, ideologischem Trallala und verschwurbelten Sprachspielereien, angesiedelt im Überall und Nirgendwo.

Alles gut und schön, mag ja auch ganz witzig sein – aber reicht das für das Etikett „Underground“?

Eher nicht. Das sind nur die Ehemaligentreffen. Das abgestandene Nachklappern verflossener Schlachten. Das hilflose Wiederaufwärmen einer längst kalt gewordenen Leiche.

Auch die angebliche „Lyrik“ ist kein Underground mehr. Sicher: Lyrik ist nach wie vor bei Großverlagen ein nicht sonderlich gefördertes Pflänzchen. Aber: was der „Underground“ als „Lyrik“ verkauft, ist oft gar keine, sondern nur untereinandergeschriebenes Blabla.

Es hat sich festgedümpelt in der deutschen Literatur, es geht nichts mehr vor und nichts mehr zurück. Die Rebellion ist erstarrt, ist nur noch Kitsch und Fake. Echter Underground ist nötiger als je, aber jeder gute kritische Text wird gleich zugeschissen mit einer Million schlechter Gedichte, und das mehr denn je, denn dank des Internets und der Blogs sind der Diarrhöe von schlechten Texten keine Grenzen mehr gesetzt. Man muss den echten Underground, die echte Kritik inzwischen suchen wie die Nadel im Heuhaufen. Überall nur Show, Inszenierung und die selige Vergangenheits- und Selbstbeweihräucherung.

„Haight-Ashbury hörte da auf, ein kreativ pulsierendes Zentrum der Gegenkultur zu sein, als es immer voller wurde von Leuten, die sich anzogen wie Hippies, redeten wie Hippies, benahmen wie Hippies, aber keine Ahnung hatten, was Hippies eigentlich waren, kurz: als man nirgendwo mehr Hippies sah, sondern nur noch Leute auf der Suche nach Hippies.“

Wo ich diesen Satz mal gelesen habe, weiß ich nicht mehr, aber er trifft es recht gut, diesen Fake- und Lookalike-Contest, zu dem der Underground inzwischen geworden ist.

Ich behaupte nicht, dass mir die Texte der „Szene“-Autoren nicht gefielen. Darum geht es gar nicht. Ich finde sie teilweise ganz gut. Es ist eben nur kein Underground. Oder anders ausgedrückt: nicht alles, was in brotlosen Kleinverlagen, in mies gedruckten Heftchen oder mies gemachten Blogs erscheint, ist automatisch nur deshalb Underground.

In Kleinverlagen zu erscheinen, ist längst keine „Visitenkarte“ mehr. In den 70ern war es ja noch ein gewisses Statement, in einem Kleinverlag zu publizieren, eben weil die Kleinverlage Dinge zu sagen hatten, die sich die Großverlage nicht zu sagen trauten. Heute ist das anders, die Großverlage drucken eh alles, und es ist auch kein spezielles Qualitätssignum mehr, bei Kleinverlagen zu publizieren. Eher das Gegenteil, denn oft ist das Lektorat bei Kleinverlagen derart schlecht, dass das beste Manuskript zu einem schlechten Buch wird, sobald es durch den Kleinverlags-Fleischwolf gedreht wird. Vom vielgepriesenen „Herzblut“ kann ich in solchen Fällen nichts finden, und oft höre ich so nur eine „Botschaft“ des Autors, nämlich: mein Manuskript ist mir völlig wurscht, Hauptsache, es kommt raus.

Da wären wir dann wieder beim Thema Profilneurose.

Dies soll kein Rundumschlag sein; es gibt viele Kleinverlage, die Wert auf Sprache und Lektorat legen und mit denen man professionell zusammenarbeiten kann. Aber es gibt auch etliche, denen alles scheißegal ist, die lieblos ihre Bücher raushauen, mit Fehlern schon auf dem Titel, keine Ahnung von VG Wort und VG Bild und erst recht nicht von Verträgen. Zack, bumm, reinkopiert, rauskopiert, fertig ist das Buch, kannste dann bei deiner nächsten Umsonst-und-Gratis-Lesung unters Volk schmeißen.

Da stellte sich mir die Frage: nehmen die beim Underground eigentlich jeden? Hat Underground keinen Anspruch mehr?

Gerade beim Social Beat wurde das deutlich: alles Akademische wurde verachtet, ein Literaturstudium wurde als Beweis gesehen, dass man „vom Leben keine Ahnung“ habe, und Frage nach Honorar wurde sowieso als „kapitalistisch“ verhöhnt. Hauptsache Suff, Hauptsache Sex, mehr brauchste nicht, Sprachgefühl ist überflüssig, schreib es einfach untereinander, dann sieht es wie Gedicht aus und keiner merkt, dass du gar nicht schreiben kannst. Durch die Poetry Slams wurde die Literatur im Social Beat noch weiter verramscht und entwertet. Ein Dilettantenstadl mit fragwürdiger, weil willkürlicher „Solidarität“ („rezensierst du mein Zeug, rezensier ich auch dein Zeug.

Passt mir deine Nase nicht mehr, rezensiere ich dein Zeug nicht“) – soll das Underground sein?

Einer der Underground-Autoren, die nicht in ihrer Pose erstarrt und nicht in den Siebzigern steckengeblieben sind, war Jürgen Ploog. Er starb im Mai 2020; bis zuletzt blieb er flexibel auf die Gegenwart gerichtet, bis zuletzt schrieb er echten Underground, gehörte er zur kritischen Alternative. Er verabscheute die ewige Vergangenheitsglorifizierung der „Szene“ und meinte mir gegenüber, dass viele „Szene“-Autoren immer nur dasselbe schrieben, es öde ihn an, die Bücher zu lesen, die man ihm schickte, weil da ohnehin nur wieder dasselbe drinstünde.

„Das ist doch derselbe alte Mist, mit dem wir uns schon damals beschäftigt haben! Fällt denen nichts Neues mehr ein?“

Underground, so wie ich ihn verstehe, hat eine Aufgabe, hat Anspruch. Er ist kritisch, er ist unbequem, er fährt ganz vorne mit. Er vertritt Positionen, die anecken. Er ist weder gedacht als Kuschelzone für Siebzigerjahre-Veteranen noch als ewiger Ikonengottesdienst. Das Nachleben der Abenteuer der Idole hat nichts mit Underground zu tun, das ist Fankult, Imitation, Fake. Nach Tanger pilgern; Whisky in rauhen Mengen saufen; sich an Cut-Ups versuchen oder an Spontaneous Prose: Fake.

Nichts als Wiederbelebungsversuche einer bereits starren Leiche.

Jede Gegenwart braucht ihren Underground. Es hilft nichts, wenn die Underground-Rebellen von früher „sich treu geblieben“ sind, denn dann haben sie den Anschluss verpasst und nicht mitgekriegt, dass die Zeiten sich geändert haben. Ewiggestrige können kein Underground sein. Denn Underground muss – muss! – Avantgarde sein. Nicht Arrièregarde. Vorhut, nicht nachklappernde Nachhut. Wem das Vorne-Mitspielen zu anstrengend ist, wer Nabelbeschau und Befindlichkeiten-Trallala bevorzugt, der macht auch keinen Underground. Der macht Unterhaltungsliteratur, ganz normal halt. Auch einige Sachbücher sind drunter, Humor, Reiseliteratur, Schicksalsstories. Ist ja auch nichts Schlechtes, „es muss auch solche Käuze geben“, klar; aber es ist eben kein Underground.

Bei der oben genannten Tafel des „Gegen-Kanons“ geht es also auch nicht darum, wer möglicherweise noch fehlt, sondern darum, wer gar nicht draufgehört. Die nämlich, die lediglich Unterhaltungsliteratur machen. Underground hat Anspruch, Underground muss weh tun, Underground muss den Finger in die aktuelle – !!! – Wunde der Zeit legen und ein Sprachrohr sein für solche Stimmen, die in der aktuellen Gegenwart nicht gehört werden. Nicht für solche Stimmen, die sowieso auf allen Kanälen in Endlosschleife laufen.

Genau das ist das Problem heute. Deshalb ist der Underground tot und ein neuer derzeit nicht in Sicht. Das Feld muss erst wieder beackert werden. Im Moment liegt es brach, der Boden ist unfruchtbar geworden in den alternativlosen Biedermeierzeit. Die Dümpelbarden hocken drauf, kacken rein und prosten sich gegenseitig zu, weil das am bequemsten ist. Underground aber ist eben grade nicht der bequemste Weg, sondern erfordert Kraft, Energie und Können.

Und Mut. Und genau das finde ich in der heutigen „Szene“ nicht mehr.

 

 

 

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Josef „Biby Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.