Früher ist es ihm nicht so aufgefallen, das Gedränge allerorten. Zu manchen Veranstaltungen gehört es einfach, Kirmes, Fußballstadion, Openairkonzert und wahrscheinlich vielen anderen. Es war ihm allerdings nie so bewusst wie jetzt, dass es Menschen gibt, die es auf Berührungen und körperliche Nähe anlegen. Menschen, die er nicht kennt, quetschen sich ganz konsequent an Stellen durch, die schon ohne sie zu voll sind. Erst seit Covid-19 sieht Herr Nipp dieses Verhalten kritisch. Worum geht es diesen Leuten? Brauchen die den Kick, andere wildfremde Menschen anzufassen oder zu spüren? Brauchen sie die Ungewissheit, ob sie sich anstecken?
Als Kind hat Herr Nipp manchmal gedacht, wie es wäre, bei jeder Fremdberührung einen Tag zu gewinnen. Hunderte, tausende Tage in einem Jahr. Die anderen würden nichts davon merken, wenn ihnen ein Tag am Ende genommen wird. Die meisten wären dann sowieso dement oder so. Kindliches Denken. Peinlich nur, wenn dieser hier zufällig der letzte Tag wäre. Natürlich wäre Herr Nipp dann jeden Tag in Menschenmassen unterwegs gewesen. Die Aussicht, Jahre zu gewinnen, wäre verlockend gewesen. Kinder können rücksichtslos und grausam sein, ohne das auch nur ansatzweise zu begreifen.
Demonstrationen mit 20000 Covidioten etwa wären heute sein Tummelplatz. Abseits der Moral, ohne schlechtes Gewissen. Dieser Tage geht es aber wohl um anderes. Jede Berührung, die die anderen herbeiführen, ist eine Art Russisch Roulette. Entweder sie bekommen die Krankheit oder nicht. Entweder sie geben sie weiter oder nicht. Herr Nipp versucht, alles zu meiden und das ist offenbar schwerer denn je.
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Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421