Abends bei Geburtstagsfeiern, wenn die Stunde etwas vorgerückt ist, die Zunge etwas lockerer sitzt, dann braucht man nur gewisse Themen anzusprechen und schon kann jeder etwas beitragen. Ganz zwanglos versteht sich. Es sollten grundlegende Themen sein, die nicht zu sehr bedürfen ins Detail gehen zu müssen, die allgemeine Lebenserfahrung mit individual Erlebtem verknüpfen können. Themen, von denen man später erinnert, sie seien Gespräche über „Gott und die Welt“ gewesen. Manchmal hat man dann das Glück auf einen begnadeten Erzähler zu treffen, der eine packende Anekdote zum Besten gibt. Gute Themen für solche Gelegenheiten sollten fernab vom Wetter und Fußball die Möglichkeiten bieten Lustiges, Gewalt, Erotik, Ekel und eine gewisse Portion Erkenntnis zu verbinden. Geeignet sind hier Themen wie Urlaub, erste Freun- dinnen, Unfälle und Krankenhausaufenthalte, Jugendfeinde, Hotels und Fahrten mit Clubs oder Vereinen jeglicher Art, auf keinen Fall aber Computer, Auto, Literatur oder eben andere Fetische. Am Schlimmsten: Briefmarken. Dann würde es nur zu langwierigen und –weiligen Fachsimpeleien kommen, die einen Teil der Zuhö- rer- und Mitsprecherschaft ausschließen und innerhalb kürzester Zeit vergraulen. Ansätze zu solchen Themen kann man übrigens immer im Keim ersticken, wenn man durch die Frage nach weiteren Getränken oder den verbindlichen Hinweis, dass die Möglichkeit besteht, noch einmal beim kalten Fingerfood zu zugreifen, insistiert. Ein gelungener Abend zeigt sich immer, wenn diese Fährnisse umschifft wurden. Gestern Abend konnte dies durch un- glaublichen Zufall gelingen: Zunächst wurde wie üblich bei Archi- tekten über Architektur gesprochen. Neben vielen mehr oder weniger interessierten, dafür aber höflich nickenden Zuhörern kamen also nur die Spezialisten zum Zuge. Fast schon wahnsinnig spannend wurde es, als über Drempel und Pfetten diskutiert wurde.
Die Stimmung drohte zu kippen. Die in diesem Moment herein- kommende Medizinstudentin murmelte etwas von einem Knochenbruch und hatte schon alle Aufmerksamkeit. Das ist ein tolles Thema, das kennt jeder und sei es aus dem Fernsehen. Plötzlich erzählte jeder über eigene Erfahrungen und Erlebnisse und versuchte einen Lacher zu setzen. Pointiert war die folgende Ge- schichte eines durch seinen Zynismus bekannten Jungarchitekten:
„In der Schule gehörte ich immer zu den Schwächeren, die, mit denen man alles machen konnte. Wahrscheinlich habe ich auch einfach den Eindruck gemacht, der findet das gut. Jedenfalls habe ich unter den Scherzen meiner Mitschüler ziemlich gelitten, vor allem einer hat mich immer wieder auf gemeinste Art gequält. Nein, nicht so häufig körperlich, eher wurde ich der Lächerlichkeit preisgegeben. Da wurden schon mal Seiten aus meinem Buch entfernt oder die Hefte in die Mülltonne gesteckt, da wurden die Turn- schuhe völlig und unlösbar verknotet, so dass ich zwangsläufig aus Eigenschutz der erste Schüler mit Klettverschlüssen war, lauter solches Zeug eben. Die Lehrer fanden das wahrscheinlich auch ganz lustig, jedenfalls habe ich immer den Ärger gekriegt, nicht die Täter. [Geschickt erzählt, denn so hatten die Zuhörer erst einmal Mitleid mit ihm und jeder würde später sagen, dass seine Reaktion doch ganz richtig gewesen sei.]
Eines Tages tanzte besagter Schüler also auf den Tischen herum, ganz speziell auf meinem und dort lagen aufgeschlagen meine Hefte, die nun Flecken, Trittspuren und Knicke bekamen. Die ganze Klasse lachte und johlte. Allerdings wusste er nicht, dass der Tisch eigentlich wackelte, wenn man nur den kleinen Holzkeil unter der einen Seite entfernte. Also trat ich ihn einfach weg, der Typ verlor sein Gleichgewicht und kippte vornüber auf den nächs- ten Tisch, beide Arme nach vorne gestreckt. Mit grotesker Pose und verblüfftem Gesicht. Ein großer Lacher der Klasse, endlich hatte ich es auch mal geschafft. Dann stand der Schüler seltsam umständlich auf und schaute entsetzt auf seine Arme, eine weiterer Schrei in der Klasse, Mädchenschrei, jetzt aber des Entsetzens. Stille. – [ An dieser Stelle fügte der Erzähler eine Kunstpause ein, im Hintergrund spielte zufällig Firestarter von Prodigy, das Publi- kum wartete gebannt auf die Pointe.] – Beide Arme hingen wie ge- klappt herunter. Er war mit beiden Armen auf den anderen Tisch aufgeschlagen und hatte sie sich gebrochen. [Hämisches Gelächter am Tisch, als es vorgeführt wurde, dann noch die Lehre.] Und die Moral von der Geschichte, du sollst das geistige Eigentum der anderen achten.“
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Seit 1994 veröffentlich Herr Nipp auf KUNO unerhörte Geschichten mit dem Titel Das Mittelmaß der Welt. In 2011 ist es soweit, sein erstes Buch mit dem Titel Die Angst perfekter Schwiegersöhne erscheint in der Edition Das Labor.
Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.
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Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421