Reinkarnation

Ganz zufrieden saß Herr Nipp auf dem stillsten Örtchen der Welt, er hatte ein kleines Bändchen mit Gedichten von Christian Mor- genstern zur Hand genommen und rezitierte einige von diesen halblaut vor sich hin, während die Brille ihre Rundung auf den Oberschenkelrückseiten der Beine abmalte. So zufrieden war er lange nicht gewesen. Seit einem halben Jahr hatte er sich über die viel zu kleine Duscheinheit geärgert, die gebaut war für Menschen, welche eine Körpergröße von 162 cm nicht überschritten, besser 158. Er hatte gegrübelt und Pläne gemacht, wie diese Situation grundlegend geändert werden konnte. Manchesmal hatte er in der Badewanne gelegen und die Sache aus allen Winkeln betrachtet, neue Perspektiven suchend, bis ihm ganz nebenbei einfiel, dass er früher (in jenem anderen Leben, welches jetzt vorbei war) einmal den Wunsch gehabt hatte, auch im Badezimmer ein Bücherregal zu besitzen; nur ein Buch dort, wo man zur Ruhe finden konnte (und nach erledigten schwierigen Geschäften auch zur inneren Ausgeglichenheit), liegen zu haben, hatte ihm schon immer ein Gefühl von Armut gegeben.

Nun war die Dusche also grundlegend still gelegt worden, der Abfluss versiegelt, die Tasse mit einer Holzplatte abgedeckt und ein Regal aus Buchenholz daraufgebaut worden. Die sich erge- bende Nische bot so sogar eine eigene Sitzgelegenheit zum Lesen, ganz neuer Komfort. Luxus konnte für einen Leser wie Herrn Nipp ganz anders sein, als die im Fernsehen vorgestellten Möglichkeiten von Villen und Siebensternehotels in Dubai.

Als er zum Gedicht „Der Papagei“ kommt und den Vers „Zum Schlusse starb auch er am Zips.“ liest, steigt ihm das Bild eines guten gegangenen Freundes vor Augen. Oft passiert es ihm, dass plötzlich Worte oder Bilder dieses Menschen im Raum stehen, vielleicht auch mal wie Monumente, wahrscheinlich aber eher als Handelns, als Verweis auf das „lebe jetzt“ und „du kannst das nur einmal erleben“. … „was der jetzt wohl macht…alles vorbei, einfach so…gibt es wohl so etwas wie Reinkarnation?“

Die Gedanken verdrängen die Lektüre und kreisen um einander. Beißen sich wie verspielte Welpen in den eigenen Schwanz. In diesem Moment stürzt stürmend und drängend eine gelbschwarz gestreifte Schwebfliege (Also das wäre wohl die schlimmste Strafe für einen bekennenden Gladbach-Fan.) durch das halb geöffnete Dachfenster, sucht Schutz vor dem einsetzenden Pladderregen. Herr Nipp schaut sich das Schauspiel an: Wie verdutzt bleibt die Fliege im Fluge vor den Büchern stehen und schaut sich die Titel der Reihe von K nach F rückwärts an. Kurzes Verweilen vor Kun- dera, sehr kurz, schnell weiter zu Kafka, schütteln, fast wirkt es, als sei das Tier angewidert oder erinnere sich an die immer falsche, immer richtige Interpretation der Parabeln.

Noch einmal zurück zu Keller, hier bleibt der Zweiflügler „Epistrophe balteata“ vor „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ etwas länger stehen, nein, sieht nur aus dieser Perspektive so aus, es ist der grüne Heinrich. Erstaunlich ist, dass viele Autoren im wahrsten Sinne des Wortes einfach überflogen werden. Keine Beachtung von Lieblingsautoren wie Kästner und Jandl, wie Grimm und Handke, Gryphius und Hesse und all den anderen dazwischen. Sie rückt weiter vor bis Goethe, und fast scheint es, als würde sie herzhaft lachen, dieser leicht krampfige Ruck, ganz anders als bei Kafka. Sie kommt zu Fontane, lässt ein kleines Kotbröckchen fal- len und schon scheint es, als wolle sie wieder zum Fenster hinaus, doch eine Etage tiefer entdeckt sie die Kallias-Texte, setzt sich kurz nieder und fährt den kleinen Rüssel einige Male aus, berührt fast zärtlich den Umschlag damit. Plötzlich hebt sie ab und ist durch das Fenster verschwunden.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421