Ganz versunken sitzen zwei Jungen auf der Treppe, haben zwischen ihren Füßen jeweils eine Tüte mit Süßigkeiten vom Bäcker und daneben ein Trinkpäckchen stehen. Sie mögen vielleicht um die elf Jahre alt sein, noch echte Kinder, die Pubertät scheint Lichtjahre entfernt, eben das Alter, in dem Kinder zu jedem Zeitpunkt mehr als liebenswert sind, kindlich und naiv, selbst wenn sie mal ihre Schmollphasen haben.
Herr Nipp konnte nicht anders als stehen bleiben und den beiden in ihrem wichtigen Tun zuschauen. Auch er hatte vor Jahrzehnten auf dieser Treppe gesessen, mit seinem damals besten Kindheitsfreund, der heute noch weniger Haare hatte, als er selbst, den er manchmal noch traf, distanziert wurden dann bestimmte Informationen getauscht, die meistens allerdings zurückbehalten. Die beiden Jungen unterhielten sich über eine Urlaubskarte, die sie immer wieder hin und her reichten, und zielsicher mit ihren Fin- gern auf die Einzelheiten verwiesen. Doch nicht Absender oder eigene Erlebnisse auf der Absenderinsel waren Thema, sondern eine eingehende Analyse der Karte. Von der Windrichtung über die Beleuchtungsverhältnisse, bis hin zu der unzeitgemäßen Schrift, der Verteilung der Flächen, Farben und dem Steigungswinkel der Dünen wurde alles besprochen. Dezidiert nahmen die beiden das Motiv auseinander und kamen letztlich zu dem Schluss, das sei doch nur Kitsch und somit fast verwerflich.
Herr Nipp wandte sich nach knapp zwei Minuten ab. Nein, solche Gespräche hatte er mit einem Freund nicht geführt. Damals hätten sie sich noch ganz einfach über die Karte gefreut.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421