Schnittpunkte. Eine alte Knortze, zahnlos, ihre Schultern gebeugt von den Jahren, schlurft an ihr vorbei. Nataly legt den Weg zum Bahnhof zu Fuss zurück, um schrittweise etwas von der pulsierenden Hektik des Alltags abzustreifen. Diese elektrifizierte Hochspannung baut sich in neongeschwängerten Grossstädten täglich von neuem auf. Pünktlich, nach Fahrplan. Eine Gereiztheit, in der die hypermodernen Menschen leben. Sie aushalten, ohne Durchhalteparolen.
»Der Revolutionär ist der Fisch im Wasser des Volkes«, fliegt sie ein Hauch der Historie an, als sie sich sondengleich in die Stadt senkt. Waschpulver schäumt im Springbrunnen, einiges von dieser ätzenden Lauge ist auf das Kopfsteinpflaster gelaufen. Schaulustige stehen abseits, um Distanz zu bezeugen; merken an, dass ihre Streiche früher bei weitem einfallsreicher waren. Alte Menschen, auf einen Rollator gestützt, die ihre Lebenserinnerungen vorantreiben, Denkwürdigkeiten aus einer besseren Zeit. Schulkinder mit erhitzten Gesichtern wuseln umher, jagen einander ohne sich fangen zu können. Bemerken den Frost nicht, der in den Gesichtern der Alten Einzug gehalten hat, sehen nur sich selbst. Spiegelgestalten.
Frittenbude am Rand des Kopfsteinpflasters. Kartoffelschnipsel schwimmen im heissen Fett. Diese Stadt gleicht einer Fleischwurst, durch deren Mitte sich eine brackig riechende Kloake zieht; am Ufer ragen Schornsteine empor, die Blut und Wasser schwitzen. Ein Agitator steht auf einer Mauer und redet. Um ihn herum lungern Menschen, die ihm zuhören oder belustigt bis gleichgültig umherschauen.
»Der Verzehr gentechnisch veränderter Lebensmittel ist ein Beitrag zum Schutz der Umwelt«, dringt es von weitem in einem unerbittlichen Agitationsstakkato an ihr Ohr. Der Demagoge wirkt allein durch sein Äusseres wie aus der Zeit gefallen. Sie nähert sich einem drahtigen, zähen Burschen mit altmodischer Schiebermütze über den graubuschigen Augenbrauen, markantes Erkennungszeichen in einem von Lebensstürmen gegerbten Gesicht. Passanten gehen durch ein unsichtbares Labyrinth vorbei. Die meisten Mitbürger registrieren nicht, dass sich die Gewichte von einer repräsentativen Demokratie zur populistischen Legitimitätsschöpfung durch eine boulevardeske Stimmungsmache verschieben. Der Ideologe ist ein Ungeborgener in der Welt, der selbst in der Kirche nicht mehr findet, worin er einst so geschwelgt hatte: Gemeinschaft. Er textet weiter:
»Die Natur schützt nur, wer Wälder wieder aufforstet und die Wildnis vergrössert. Je weniger Land wir bewirtschaften, desto mehr bleibt unberührt. Biologischer Anbau ist nicht effizient und sehr landintensiv!«
»Ehj, du Vogel, dat bringt mir dä verlorene Zick och nit wieder!«, pöbelt ein Besoffener aggressiv. Wankt auf den Ideologen zu. Stoppt. Der Sinn des Lebens ist für den Obdachlosen nicht existent. Der Plattenbruder hält das Leben nur noch aus, indem er in einem kleinen Bereich eine Ordnung herstellt.
»Zeit ist ein technologisches Konzept, das asynchron zu den Rhythmen des Lebens läuft. Aber wir leben in evolutionärer Realität. Wissen und verstehen, das ist zweierlei. Verstehen ist spirituell. Und wir Gläubigen sind der Geist des Landes«, gleitet der Ideologe in eine Verkündigungssendung ab. Die Disputanten betrachten die Sprachspiele seiner Meinung. Versuchen zu verstehen, wie sich die Ordnung der Geschichte in der Geschichte der Ordnung enthüllt.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
Weiterführend →
Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.