N@sty B. robbt weiter. Sie kommt daher mit einer fiebrigen Verrücktheit, die in eine brennende Intensität umschlagen kann. Eine Sehnsucht, das Leben zu fassen, um jeden Preis, auch den der Zerstörung, der Selbstzerstörung. Unterleib und Oberkörper sind in den Dreck gedrückt, sie stösst sich mit den Füssen zentimeterweise vorwärts. Rechtes Bein anwinkeln, vorwärtsdrücken. Linkes Bein. Anwinkeln. Über der Erde dampft ihr Atem. Es sind nur ein paar Grad über Null. Morgens liegt noch Raureif auf dem Schlamm.
Zigarettenpause. Nach einem längeren Marsch sitzt sie in einem Unterschlupf unter Kiefern. Sie hat die Wachen passiert. Geht in Deckung. Sieht durch das Infrarot–Fernrohr auf die Villa. Legt an. Wartet auf den geeigneten Moment. N@sty B. beobachtet den Morgenlauf des Kandidaten. Macht einen Liegestütz. Ahmt in Gedanken seinen schwerfälligen Schritt nach, um hinter seine Fassade blicken zu können. Demokratische Politiker haben den staatspolitischen Ernst verlernt und führen das Land wie eine Ortskrankenkasse. Der Kandidat hat sich dieses Image als Tarnung zugelegt.
Zum Niederknien. N@sty B. beherrscht ihren Körper perfekt. Macht Sit–ups und Klimmzüge, um Fasern und Muskeln zu trainieren, muss die Muskulatur ständig unter Spannung halten. Sie hat den Willen und die Kraft, sich nichts anmerken zu lassen, wenn es ihr schlecht geht. Hat gelernt, dass sie sich selbst zurücknehmen und ihre Bedürfnisse vergessen muss, um eine perfekte Arbeit abzuliefern. In ihrer Welt ist Coolness Trumpf, sie verfügt über eine virile Präsenz, die jedes Anzeichen von Innerlichkeit sofort überwältigt. Als Mindhunter denkt sie sich in die Welt ihres Opfers hinein, sucht seiner Logik auf die Spur zu kommen.
Überzeugende Metaphern entstehen durch die Exaktheit des Blicks. Scharf ist dieser Blick, aber nicht beissend; unbestechlich, aber nicht unerbittlich – sie sucht zu verstehen, nicht zu verteidigen oder zu verdammen. Eine Überwindung, die sie reflektiert mündet ins blanke Furiosum. Verständnis setzt Reife voraus. N@sty B. besitzt die Reife des Tötens. Die leise Intensität der Selbstbesinnung kann bei ihr sofort in das Pathos der Selbstverausgabung kippen. In einer gefühlsentleerten Welt, in der es allein um Fassaden und Objekte geht, blieb ihr nur mehr eine Chance, um einen Rest Würde zu bewahren: Sie legt sie in Schutt und Asche.
Zonker, der Datendandy, hat sie in der Fremdenlegion ausgebildet. N@sty B. hat gelernt, ihren Kopf vor dem Kampf leer zu machen. Nur so erreicht sie die maximale Konzentration, die wunderschöne, fliessende Bewegung des Siegers. Am Ende ist Kampf eine Art Meditation. In der Wüste fand sie ihr eigentliches Selbst. Nahm Wildnis in sich auf. In der Sahara fand sie zu ihrer eigentlichen Bestimmung: dem Töten.
Ideenbesessene Männer treffen auf emotionssichere Frauen. N@sty B. ist eine geisteswache femme fatale, eine Verwandlungskünstlerin mit der stolzen Eleganz eines Laufstegwesens, Zonker ein spröder Selbstverberger. Freundschaft ist ihnen heilig, Sex ein angenehmes Nebenprodukt. Sie fielen hinein in den nächsten Schmelzofen symbiotischer Liebe. Zwei Menschen, die nicht zusammen passen, aber auch nicht zu trennen sind. Sie wurden der Liebe unterworfen, wie einem Belastungstest in der Druckkammer, wobei die Spielkunst eine der Implosionen ist, der gestauten Eruptivität.
Der Kandidat vergrössert die Schrittweite und verschwindet im Birkenwald. Zur atmenden Totalität eines Ortes gehören ihrer Anschauung nach drei Faktoren: die Gebäude, die den Geist der Menschen prägen, die Landschaft, welche all das umgibt, die Menschen, mit denen man sich umgibt. N@sty B. fühlt sich als Fremde in vertrauter Natur. Dramatisch sich türmende Wolken. Der ewig gleich strömende Fluss. Jeden morgen dreht der Kandidat zur gleichen Zeit die gleiche Runde. Sie wartet auf die Kehre. Schmerzhaft ist das Hinbringen jeder Sekunde und Minute. Jegliche Zeit, die nicht gestaltet werden kann, vervielfacht sich im Erleben, das Bewusstsein des Wartens quält. Unter dem Druck dieses Erwartens werden bisher gültige Werte mit jeder Minute neu definiert.
Überlebens–Uniform. N@sty B. setzt den Kopfhörer auf und klickt ein subtiles Versprechen an, das den iPod so einzigartig macht: die Erfahrung einer Ungleichzeitigkeit von Raum und Klang. Die Möglichkeit, mit Augen und Ohren gleichzeitig an verschiedenen Orten zu sein. Sie hört stampfende Schlagwerker. Unterirdisch wummernde Bässe. Kreissägenkreischende Gitarren. Es muss nicht heavy klingen, um einem Song Kraft zu geben. Es ist nicht N@sty B.s Job, analytisch zu denken, sondern in Klängen zu denken. Sie forscht in kleinen Netzen, aus denen sich das Gerüst der Überlegungen ergibt. Dabei beginnt sie mit einer Emotion, einem Gefühl, um das herum sie die Netze spinnt. Der Sinn von Musik ist es, Emotionen zu erschaffen. Neue künstliche Zustände, um das Spektrum ihrer Emotionen zu erweitern. Wenn sie aufregende Musik hört, fühlt sie die Erweiterung des eigenen Sensoriums. Musik ist Selbstzweck. Selbstzweck entzieht sich jeder Beschreibung.
Der Dauerläufer erreicht die Wendemarke seines Frühsports. Hängt die Leibwächter keuchend ab. Sie gönnen ihrem Chef den lokalen Triumph. Er liebt Menschen, aber nur als Mitarbeiter. Eine Geliebte zuerst als Publikum. Für ihn ist jedes Gespräch ein Bewerbungsgespräch, weil er jedes Gegenüber auf seine Verwertbarkeit abklopft. Er gibt sich machtbewusst, selbstgerecht und sich selbst gegenüber vollkommen distanzlos. In seiner Rolle ist der Kandidat ausgesprochen sympathisch. Er glaubt, was er sagt und ahnt nicht im Geringsten, wie er bei anderen ankommt. Der Kandidat ist gern ein Visionär, aber nur ungern einer, der seiner Zeit zu weit voraus ist. Er will die freie Welt verteidigen und hat deshalb keine bösen Absichten, ist keineswegs der Mann, den man zu lieben hasst, sondern der Arsch, den man zu hassen liebt. Politik war für den Kandidaten stets ein Machtkampf, und die höchste Form der Macht ist Gewalt. Seine Einflusssphäre ist dort zu finden, wo Politik und Gewalt einander treffen, in der Hoffnung, Macht zu erlangen. Er strebt nach der Macht, zu dominieren, zu erzwingen, einzuschüchtern, zu kontrollieren, um schliesslich einen fundamentalen Wandel zu bewirken. Gewalt ist seine Conditio sine qua non, da er unerschütterlich davon überzeugt ist, dass seine Sache nur so triumphieren kann. Im 21. Jahrhundert beherrschen Rache und Brutalität die Welt. Der Kandidat verfügt über Geld, technische Möglichkeiten und die Macht, um jeden Staat in die Weichteile zu treffen. Er hasst den freien Markt, die liberale Ordnung, die Freiheit zur Selbstbestimmung, die Trennung von Kirche und Staat. Dass jedermann nach seiner Fasson selig werden könne, ist ihm völlig fremd. Er befindet sich in einem System von Begierde und Profit, diese Kräfte sind keineswegs so fein zu synchronisieren – nicht obwohl, sondern weil sie einander so verwandt sind.
Leben ist die Begegnung mit dem Anderen. Sie macht Erniedrigung kenntlich, die Beleidigung zum Nom de Guerre. Kontrollierter Rückzug, niedergehaltene Begierde. Leidenschaftlich wird N@sty B. nur in den selbstvergessenen Momenten. In ihren Gedanken umkreist sie jene sprachliche Ortlosigkeit, wie sie jemand erleben kann, der einer Welt ausgeliefert ist, deren Zeichen und Worte auf nichts Vertrautes zurückzubeziehen sind. Sie ist die Chefin der Schlachtplatte, die Ausführung ihres Auftrags zeichnet sich durch eine austarierte Mischung von diagnostischer Intelligenz und grundsolidem Schwachsinn aus. N@sty B. nimmt den Souverän ins Visier. Magische Öffnung des Blicks.
»Deine Augen blicken mich an. Hundemüde von der Zeit. Du bist mürbe. Es ist soweit«, haucht sie ein oszillierendes Psychogramm in den Morgennebel. Einatmen, ausatmen, Luft anhalten, Schuss. Der Rückschlag des Gewehrs zuckt durch ihren ausgestreckten Körper. Wer mit der Schulter nicht dagegenhält, holt sich blaue Flecken. Für einen Moment hält sie den Atem an. Zerfleischungen in Wort und Tat, es passieren Morde, um der Weltangst Herr zu werden oder einer endlichen Beruhigung wegen. Sie entspannt sich, lässt die Schultern sacken und atmet durch, um sich für den nächsten Schuss erneut zu sammeln. Setzt den Benzintank in Flammen. Das verwirrt die Wachen. Sie hechten in Deckung, fluchen, weil ihre Holster in der Umkleide am Haken hängen.
Abschied von der Ärmelschonerwelt der Einflussforschung. Staatsmänner manipulieren den Glauben von Menschen, sie benutzen die Unsicherheit und Verletzlichkeit für ihre Zwecke. Es ist nicht Schuld des Kandidaten, sich politisch geirrt zu haben. Verbrechen zu verüben oder an ihnen teilzunehmen, wäre es auch nur durch Duldung. Er muss auf der Weltbühne des historischen Geschehens das Dirigentenpult verlassen und im Zuschauersaal Platz nehmen. Der Kandidat fragt sich, ob sein Gehirn noch fähig ist, sich selbst zu erkennen, was in seinem Kopf geschieht, wie Bewusstsein die Vorstellung seines Ich generiert. Seine Netzhaut verwandelt das Bild in ein Erregungsmuster. Sein visuelles Verarbeitungssystem nimmt Gegenstände noch wahr… die Verbindung zu den Gedächtnisinhalten ist gestört. Ausweglos. Von links und von rechts fahren die fahlen Mauern auf ihn zu. Erbarmungslos wie ein Fallbeil in Zeitlupe senkt sich eine Metallwand eisengrau vor seine Lider. Er versucht sich zu retten, erklimmt glatte Wände, rutscht ab. Sein Ende wird zum Blick ins Leere seiner eigenen Seele. Eine Fledermaus flattert davon. Asrael, der Geometer der Unendlichkeit, zieht seine Umlaufbahn mit Flügelschlägen über seinem Kopf.
Die aufgehende Sonne hat die Farbe von glühendem Stahl. Der Rabe flattert in Richtung Müllverbrennungsanlage davon, um sich einen fetten Happen aus dem Abfall zu picken. N@sty B. zieht sich von einem Moment auf den andern. Robbt unter der Alarmanlage hindurch. Steigt auf ihr angerostetes Damenfahrrad. Fährt einen Umweg durch das Moorland. Versenkt die Camouflage–Kleidung und die Waffe im Sumpf. Wer mit Amokläufern um die Wette rennt, muss am Ende wegen Seitenstechens aufgeben. Deshalb tarnt sich N@sty B. als Freizeitaktivistin und kehrt in das tote Herz der Stadt zurück, um den Urbanozid zu betrachten, ohne wieder ganz zu dieser Welt zu gehören. Killer haben keine Schattenbilder, die sie zu Menschen machen könnten. Ihr Ausdruck ist das Töten. Der Tod wurde an den Rand des persönlichen Erlebens gedrängt, um über die Abendnachrichten zurückzukehren und mit diesem Memento moriSprachlosigkeit zu hinterlassen.
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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.