Anläßlich des Record Store Day präsentert KUNO eine Erzählung aus Zombies
Jonges in sauberen Turnschuhen treffen auf Mädelz in spitzen Pumps. Tanzen ist im Idealfall die primäre Ausdrucksform der Euphorisierung. Disco ist eine grosse Universalmaschine. Aus einer minoritären Position heraus argumentiert, sei sie schwul oder schwarz, aber für alle, die am Türsteher vorbeikommen. Angelina schliesst die Augen. Lässt 110 Dezibel auf ihren Körper wirken. Die Bassboxen versetzen die Bauchdecke in Schwingung. Hyperaktivität entlädt sich auf der Tanzfläche. Der Solarplexus empfängt die tiefen Frequenzen mit wohligem Schmerz, Füsse und Sprunggelenke vernehmen die Botschaft der Akkorde vom vibrierenden Boden. Wenn Frauen tanzen, scheint es das Selbstverständlichste auf der Welt zu sein. Keine Spur von Unsicherheit oder Unwohlsein wie bei den Männern. Tanzenden Frauen sieht man die Freude an der Bewegung an.
»Rewind«, grölen die Partysanen den Schlachtruf der Selbstermächtigung. Das Soundsystem wird bedient von vier Typen, jeder hat eine klare Aufgabe. Der Dee Jay toastet per Mic an die bouncende Gemeinde. Der Selector legt ausschliesslich Seven–Inch–Singles auf. Sie teilen sich den Job: Einer sucht die Platten, der andere legt sie auf. Zusätzlich haben sie einen Operator, der mit einem Sampler Soundeffekte und Geräusche abspielt und der Combo mit Mash–Ups eine eigene Note verleiht. Ein neuer Sound braucht Zusammenhänge, Tanzboden, Resonanzboden. Er will geteilt werden mit gleich Euphorisierten, man will bedröhnt werden und irre von diesem neuen Sound, den noch keiner kennt, nur sie, die Happy Few. Kein Ton zuviel, er pflegt die Kunst der lapidaren Präzision. Zonkers Stil zeichnete sich durch surrende Basslines mit wenigen Vokalfetzen aus, dabei zeigt er seine Fähigkeit, Bekanntes neu zu arrangieren, Eigenes zu kreieren und der Nacht den Spirit zu geben.
Clicks & Klacken. Zonker verkörpert den Allround–Multitasker der Clubkultur: Dee Jay, Produzent, Labelbetreiber und Partypromoter in Personalunion. Er trägt eine Retro–Trainingsjacke, unter dem abgewetzten Basecaprahmen spitze Koteletten um das schmale Gesicht. Der Dee Jay weiss, welcher Track zu welchem Zeitpunkt angemessen ist. Findet ihn für die Selection innerhalb von Sekunden. Hat Dubplates für die jeweiligen Songs umgeschrieben. Von pulsierenden Subbässen angetrieben fliessen chirurgisch editierte Percussions durch minimalistische Arrangements. Zonker ertastet die Stimmung der Nacht und versucht in ein zwingendes Set zu transformieren. Seine grosse Kunst ist es, die Masken der Sexualität an jenen utopischen Ort des Begehrens zu tragen, der mit Tanzfläche nur unzureichend beschrieben ist.
Feierabend–Hedonisten spiegeln sich in der Dicokugel. Zuckende Leiber suchen unersättlich nach sensorischen Kicks. Plastisch schwellt der Bass an, wobbelt als perkussives Element durch die spartanisch arrangierten Tracks und ersetzt dabei Worte wie auch die Schnelligkeit als antreibenden Motor. Der physische Angriff seines Einschlags versetzt die Crowd auf der molekularen Ebene in Bewegung. Beim Dubstep entsteht unter den Danceflour–Derwischen das Gefühl der Weite und Losgelöstheit. Die kreative Auseinandersetzung mit den verwendeten Quellen ergibt den Kontext. Sie fühlen sich als Teil einer Verschwörung gegen die Macht der grossen Unterhaltungskonzerne. Auf der Tanzfläche wird nicht mehr das Vergehen von Zeit registriert, der Raum wird als Behältnis vergessen.
Als untypisches role model in den um Glamour und Differenz bemühten Universen elektronischer Tanzmusik bedeutet für Zonker Unabhängig zu sein: kein Style, aber eine konsequente Lebenseinstellung, keine Personality–Show, aber ein musikalischer Entwurf. Popstarruhm braucht es dafür nicht. Er hat das Feeling für den Groove von seinem Vater geerbt. Musik hat das Leben des Alten gerettet. In Theresienstadt spielte er Gitarre bei den Ghetto–Swingers und musste Angehörige der SS mit Schlagern unterhalten, während die Neuankömmlinge tätowiert wurden. Die Lagerältesten hielten sich Bands, konkurrierten miteinander. Sein Aufseher hat Uniformen massschneidern lassen, die Band bekam gute Instrumente. Viele Häftlinge brachten ihre Instrumente mit ins KZ, die wurden ihnen abgenommen und in einem Lager gesammelt. Dort durfte er sich eine Selmer aussuchen. Im KZ hatte er die beste Gitarre, auf der er je gespielt hatte. Während der Alte den Blues spielte, pendelt Zonker zwischen Dancehall–Riddims, House und Drum&Bass und betreibt ein virtuoses Spiel mit abgedroschenen Phrasen, bittersüssen Klischees und alten Vorurteilen.
Kurzer Rausch. Leichtlebiges Auflösen. Abfedern der Muskeln. Ihre Sprache ist die Sprache des Körpers, der Bewegung, der Choreografie. Sie posen mit raffiniert verfehlten Frisuren. Eine Flickermaschine betört mit schnellen Schnitten und Projektionen, mit technischer Perfektion. Wildgewordene Känguruhs hüpfen über den Dancefloor, als würden sich keine Gelenke in den Gliedern befinden. Tanzen um ihr Leben, damit es ihnen nicht entwischt. Oder damit sie nicht davon erwischt werden. Im Lichtkegel wehen die Haare, rudern die Arme. Manchmal heben sie ab. Gehen in die Luft. Schweben. Fliegen. Verharren in der Pose des Flugs. Nachdem Angelinas Augen sich wieder an das äussere Licht gewöhnt haben, scheint es, als habe sich Ernst Wilhelm von Wackerzapp in eben diesem Moment in einer Gruppe von Diskutanten materialisiert. Er sieht ihr direkt in die Augen. Ausgehen macht ihn wach, treibt die Röte des Glücks und der Erregung in sein Gesicht. Er ist so verwickelt in die Situation, dass er auch keine Sekunde daran denkt, ob er sich das jetzt noch leisten kann. Letztlich ist es ihm egal.
Gepflegtes Rumsteh–Ausgehen. Es gehört zum verschwenderischen Luxus der Jugend, ganze Nächte lang nichts zu tun und trotzdem alles zu erleben. Sie leben eine Geworfenheit, zwischen Leere und Schwere, der Körper als Lust und als Last. Es gibt keine Regeln mehr, wer man zu sein hat. Man kann sich zu jeder Jahreszeit neu erfinden. Allmählich gewöhnt sie sich daran, dass sich zufällig ihre Wege kreuzen. Sie stürzt sich auf Ernst Wilhelm, um ihn mit wilder Gunst zu schmücken. Der Veteran der Ausgehkultur versucht kein Ausweichmanöver, zieht Angelina ruckartig in eine Nische, nähert seinen Mund ihrer Ohrmuschel, verstösst gegen die obersten Club–Gebote: „Du sollst tanzen“ und „Du sollst schweigen“ und übertönt die Phonzahl mit den Worten:
»Warum tanzt du mit jemandem, der die Aura einer Wachsfigur hat?«, langweilt ihn der ewig gleiche Beat, der auf die ewig gleichen Personen trifft, die von ewig gleichen Drogen milde entstellt sind und Persönlichkeitsanteile verkörpern.
»Du bist zynisch«, raunt sie. Jeder fühlt sich unverstanden vom anderen, so sind sie einander verstehend nahe. Jeder Mensch ist allein, ein unerlösbares Minus. Bindet einer sich an einen anderen, geraten beide tiefer ins Minus. Die Magie der Multiplikation, minus x minus = plus, ist hier nicht zu haben. Das Auditorium hat sich als Star entdeckt. Manische Derwische laufen sich auf der Tanzfläche warm.
»Meine Art von Zynismus ist ein Sport. Gedankenakrobatik, um den Verstand in unaufhörlicher Bewegung zu halten«, spricht er sie direkt an, weil er sich beim letzten Mal geärgert hat, dass er sie nur angeblickt und sich gedacht hat: „Hätte ich einfach nur einen Satz gesagt… wäre es klar gewesen.“ Nun ist die Situation eine andere. Das Zeitmass dieser Metropole ist der verschwindende Augenblick. Der Unterschied zwischen sich selbst und denen, die einen kopieren, ist in dieser Nacht aufgehoben. Diskursfreie Zone. Sie versuchen sich zwischen organischen Prozessen und pulsierend blubbernden Maschinen zurecht zu finden.
Ihre Bekanntschaften schweigen und warten, bis jemand einen Fehler macht. Verängstigte Menschen wagen nicht auszubrechen aus dem Gefängnis, das sie selber sich errichtet haben, sie täuschen sich vor, diese klösterliche Einsamkeit sei ein gemeinsam genossenes Glück. Ausgehen hat immer etwas mit Verliebtsein zu tun. Sie suchen die pure Lust im wortlosen Fick. In diesem Sex finden sie keine Befreiung, keine Erlösung, keine Beflügelung. Das Fleisch ist traurig, das Begehren schal. Die kosmetische Chirurgie ist die Haute Couture des 21. Jahrhunderts. Jedes Jahr wird unter Chirurgenmessern nachgebessert, ihnen sieht man den Schmerz der vielen Wunden und Nähte an. Bei manchen steckt der silikonierte Busen nach dem Bodycontouring als harte Melone im Dekolleté, bei anderen verschiebt sich das Gesicht beim Lachen in vier verschiedene Richtungen. Was diese Menschen ihr Leben nennen, ist eine Karaoke–Veranstaltung mit Liedern, deren Texte andere geschrieben haben, mit Träumen, die sich andere ausgedacht haben. Sie existieren in elendigen und doch grosszügigen Zeiten, die Existenz, eine billige Kopie, in der Individualität ein ungelebter Traum bleibt und man bestenfalls als tageslichttauglich rüberkommt.
»Habe ich dir die Geschichte von dem Afrikaner erzählt?«, weicht Angelina nach einer Weile aus und verwandelt ihre Unsicherheit in etwas Lässiges. Ihre Stimme klingt rauchig und souverän–sexy. Das Parfüm, das an jedem Mädchen anders riecht, hat sich auf angenehme Weise mit ihrem Schweiss gemischt. Sie atmet den Glamour der angeschminkten Natürlichkeit aus.
»Jemand aus deiner Kollektion?«, frotzelt er und weiss um die Prüfung des Nachtlebens. Bekommen sie ein Sozialleben hin, oder gibt es Zerwürfnisse und fehlerhafte Verhaltensweisen. Es ist Grosszügigkeit von beiden gefragt. Eigentlich muss er nur eine Sache können: Da sein. Und wenn das nicht klappt, dann sollte er zumindest von seinem Verschwinden reden. Ernie ist kein hassdurchfurchter Typ aber er macht dauernd gehässige Beobachtungen, die alle auch noch stimmen. Durch eine Überdosis Liebe droht ihm Selbstverlust. Wer an der Schmerzgrenze operiert, weiss, dass Lügen balsamisch wirken und die Wahrheit wehtut. Manchmal glaubt er, das Nachtleben sei eine Kaputtnick–Versammlung.
Angelina ist in der Lage solche Gegensätze souverän auszukosten und versteht es zwischen Frömmigkeit und Blasphemie, Materialismus und New Age zu balancieren. Menschen brauchen etwas, das sie daran erinnert, wer sie sind. Sie lächelt ihn an.
»Mit Kwesi war ich in einer Disco. Abfeiern, aufreissen, ausrasten. Irgendwo in einem Kaff, das so belebt ist, als wär‘ 365 Tage im Jahr Totensonntag. Auf dem Nachhauseweg habe ich ihn gefragt, wie es auf ihn gewirkt hat. Er antwortete:
„Hier findet man es toll, wenn einer mit dem Küchenmesser scratchen kann. Dabei geht es um die Melodie, die soviel rarer ist als ein guter Groove.“«
»Wird Zeit, dass Weisse aufhören, die Musik der Schwarzen aufzubereiten«, gibt sich Ernie grossspurig, laut und flegelhaft; ein präpotentes Arschloch.
»Musik wird hier mit dem Deo–Stift komponiert, dazu tanzen die Deutschen mit sehr viel Kraft«, legt sie im erotischen Stellungskrieg der Geschlechter lässig nach, agiert mit indignierter Sprödigkeit und kontrollierter Aggressivität und bestätigt den Typus der erotischen, selbstbestimmten und unberechenbaren Frau.
Menschengewimmel in der Zappelhalle. Alle trugen sie ein „Keeping it real“ auf den Lippen. Eine Orgie der Exaltation, die jede Minute mit einer neuen Atemlosigkeit verblüfft. Sie sind überzeugt, frei zu entscheiden, was sie gerade vorhaben. Geheime, stumme Regeln, nach denen auf der Tanzfläche alles abläuft, sind schwer zu erkennen. Popkultur liebt Ästhetik, weil sie ein Bewusstsein von sich als Ware hat. Die Glitzerwelt der deklarierten Gefühle gehört zum Geschäft.
Multidimensionale Selbstbeschau des Privaten im Mikrokosmos zwischen Bad, Bar, Bett. M3 meint: Musik, Muschis und Moneten. Es schwingt anarchistische Triebkraft, sexuelle Anziehungskraft und abgrundtiefe Bedrohlichkeit mit. Die hypermoderne Generation ist ein Haufen von talentierten Egozentrikern mit unterschiedlich stark ausgeprägten sozialen Instinkten in der Gruppe. Diese Modernisten sind arrogant, wahnsinnig selbstverliebt, absolut unfähig zu irgendetwas, das allerdings mit der grösstmöglichen Attitüde. Ihre Egos sind unschlagbar. Drogen lassen die hypermodernen Menschen fühlen, sie seien weit mehr, als sie sind: Schneller. Cooler. Besser aussehend. Härter feiernd. Und den Rest der Menschheit gründlich ignorierend.
»Zwei Sachen sollte man jeden Tag machen: schwitzen und lachen. Wenn du schwitzt, geht es deinem Körper gut und wenn du lachst, freut sich deine Seele«, gibt Angelina vor und will ihn auf die Tanzfläche zerren. Er zögert hinreissend.
»Was man in diesem Leben erreichen kann, soll man gut machen, das sollte reichen«, versucht er verzweifelt das letzte Wort zu behalten. Da ihr keine andere Ausrede einfällt, versucht sie es mit der Wahrheit der Körperhaltung.
Panoramieness des Sounds. Bässe blubbern wie Fett in der Friteuse. Zonker mixt Electric–Body–Music, die als nicht tanzbar gilt. Seine Spielweise hat mit traditionellen Auffassungen von Black Music weniger zu tun als mit rebellischen Rock–Gesten. Er reisst die Lautstärkeregler auf, beschleunigt das Tempo nach Belieben und bestätigt souverän das unerträglich gewordene Klischee von einem Dee Jay, der Soundtracks für imaginäre Filme spielt und seinen Stil vermittelt, ohne die Menschen beim Tanzen zu stören. Seine zerfallende, brüchige Musik lässt die Strenge und die Linearität der Clubmusik hinter sich, sie ist inhaltsreich und erzählerisch, man kann das stundenlange Tanzen erleben wie eine Reise.
Euphorisierungsbeschleuniger. Auf dem Dancefloor ist es eng wie in einem vollen Fahrstuhl, weil Mädchen Basslines und Melodien mögen. Sie bewegen sich zu minimalen Akkordwechseln und asynchronen Beats. Jede neue musikalische Struktur beeinflusst auch die Ordnung der Körperverhältnisse. Bei den filigranen Mikrostrukturen der vielschichtigen Beats landet der Körper entspannt in einem unendlichen Zwischenraum, an dem er nichts Altes ablegen muss, aber den Platz hat, seine Koordinaten zu ändern. Während sich Intimität und Gemeinschaft, die Grenzauflösung von Ich und Anderen nur auf der Tanzfläche einstellt, erzählt Musik von der neoromantischen Suche nach der Wiederherstellung von Ganzheit, dem dionysischen Hinweggerissensein aus der Welt…
***
Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterführend →