Das Gewöhnliche ist eine abgestempelte Fahrkarte, die in einem sauber gefegten Rinnstein liegt und unaufhaltsam in den nächsten Gulli gespült wird.
Begeben wir uns auf die Suche nach dem gewöhnlichen Menschen, der diese Fahrkarte gelöst hat. Zuvörderst gilt es, ein paar Worte über das umweltfeindliche Verhalten dieses Menschen zu verlieren. Einer der unweltfreudlichen Papierkörbe ist auch an dieser Haltestelle befestigt. Gewöhnliche Menschen achten nicht auf ihre Umwelt. Sie nehmen die Botanik nur als Hindernis wahr. In diesem Fall ist die Strecke zwischen der Agglomeration und dem barocken Stadtkern das Hindernis für diesen Menschen. Nachdem er diese Strecke überwunden hat, wirft er das lästig gewordene Billett achtlos auf den Bürgersteig. Dort liegt der Fahrschein, bis er von einem Passanten bedächtig mit dem Fuss in den Rinnstein geschoben wird. Aus dem zerknüllten Ticket lässt sich weiterhin ableiten, dass der ehemalige Fahrkartenbesitzer beide Hände frei hatte. Dies ist auf den ersten Blick ungewöhnlich. Gewöhnliche Menschen tragen bei diesem Wetter einen Regenschirm bei sich. Diese Menschen planen gern. Könnten sie doch nur das vor ihnen liegende Leben in Zeiteinheiten festlegen. Fahrplanmässig.
Besagter Mensch, nehmen wir an, er sei von heller Hautfarbe, männlich, Mitteleuropäer und in der Midlife–Crisis; nehmen wir fürderhin an, er hiesse Urs Schläfli und stamme gebürtig aus dem Kanton Uri. Besagter Schweizer Stimmbürger geht in die Werkstatt am Ortsausgang von Soleure Richtung Lyss. Die Autoreparaturwerkstatt liegt der Bushaltestelle direkt gegenüber. Er hat dort sein Auto, das er kürzlich als Occasion günstig erworben hatte, zur Inspektion gegeben. Gewöhnliche Menschen sind peinigend ungeduldige Menschen. Urs Schläfli macht da überhaupt keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil. Seitdem er einen verchromten Herzschrittmacher trägt, hat er das Gefühl, seine Uhr läuft ab, obwohl gerade er ein urchiger Typ ist.
Für den Nachmittag hat Urs einen exakten Zeitplan geschmiedet. Er weiss genau, was er wo in welcher Reihenfolge einzukaufen oder abzuholen hat. Heute ist er im Stress, er muss für die Verwandtschaft ein Nachtessen zubereiten. Ruedi Vögele, der Mechaniker der Reparaturwerkstatt Zaugg macht ihm einen Strich durch seine Rechnung. Ein Ersatzteil sei vom Werk zu spät angeliefert worden, das Auto deswegen erst eine halbe Stunde über den vereinbarten Termin hinaus fahrbereit. Im prickelndsten Sachbearbeiterdeutsch gewährleistet der Mechaniker eine baldige Erstellung. Das tönt eidgenössisch zeitgenössisch und wird auch nicht durch den Schümli–Kafi gemildert, den man ihm kredenzt. Er lässt die Tasse unberührt, für ihn bedeutet Rausch der stumme Blick ins leere Bierglas.
Urs Schläfli greift sich ans Herz, wo die Brieftasche steckt, und jault kleinkrämerisch auf. Er fühlt sich devitalisiert, in einem Stadium, in dem es unmöglich wird, Gefallen an den angenehmen Seiten des Lebens zu finden, in dem Dinge, die eigentlich nicht so schmerzhaft sind, Schmerzen bereiten. Seine Realitätskontrolle ist beeinträchtigt. Negative Gefühle tauchen ohne Grund auf und vergrössern sich grotesk. Seine Angst ist ohne Objekt. Er verbringt die Zeit damit, einen Zigarillo nach dem anderen zu rauchen und die Unzulänglichkeiten anderer Menschen in einem inneren Monolog voller Daseinsekel und Anwürfe an die Undiszipliniertheit anzuklagen:
»Autofahren ist gefährlich fürs Klima. Ich muss vom Benzinfresser zu einer Mobilität kommen, die umweltverträglich ist …«, könnte er wenigstens seinen Rasenmäher aus der Reparatur holen, der gleichfalls mit einem Kolbenfresser in der Gartencenter–Reparatur–Werkstatt ist und im Lauf der Rekonstitution umweltverträglich auf Bleifrei umgestellt werden soll. Er denkt darüber nach, ob er das Automobil verkaufen, für Kurzstrecken auf’s Velo und mittels Generalkarte für längere Reisen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen soll…
Urs Schläfli starrt auf Bauarbeiter, die das Belagmischgut wegräumen. Sein herziger Biedersinn hat seine materielle Basis im global organisierten Hehlertum der helvetischen Banken. Switzerland Inc ist ein Land von Zollbeamten. Man kann in der Bibel nachlesen, was das für ein Menschenschlag ist. Zöllner machen aus allem Geld. Sie wissen: „Wir haben einen Durchgang“, egal, wie viel die Menschen dafür bezahlen, dass sie passieren dürfen, es kommt sie billiger, als wenn sie aussen herum müssten. Der Reichtum dieses Landes basiert auf fremden Geldern. Heutigentags exportiert die neutrale Schweiz Waffen. In diesem Alpenreduit treffen sich Wegsperrmentalität, Fremdenfeindlichkeit, Kleingeisterei und verklemmte Sexualmoral. Urs Schläfli leidet unter absoluter Erinnerung. Nichts, was er jemals gesehen oder gehört hat, entschwindet seinem Gedächtnis. Er macht sich auf die Suche nach dem verlorenen Wissen über Harmonie, der Unruhe am Rand der Schöpfung, die auf Mythen, Magie und Unerklärlichem basiert. Ängstigt sich vor einer Wirklichkeit, die Gesetze von Zeit und Raum, Regeln der Logik und des linearen Erzählens negiert. Optische Täuschungen erkennt der geübte Blick, aber eine akustische Täuschung?
»Muss man die Konsumideologie nicht in den Rang einer Weltreligion erheben?«, hinterfragt er, ob sich die Mehrheit der Stimmbürger, das Volksmehr, dafür mobilisieren lässt. Er öffnet sie Augen. Seine Miene hellt sich auf, als die Belagarbeiten abgeschlossen sind. Rümpft die Nase ob des frischen Teergeruchs. Die Sperre der bisher signalisierten Umleitung wird abgebaut.
Urs Schläfli rechnet die Wege durch, vielleicht kann er seinen Zeitplan einhalten. Die neue Verkehrsführung spart einen Umweg von 3 Minuten. Nichts widerstrebt ihm mehr als einzukaufen. Wie alle Männer, will er diese schreckliche Tat schnell hinter sich bringen. Vroni, sein Weib, hingegen, geniesst die Qual der Wahl. Sie zeigt sich beim Einkaufen informiert und bedächtig, während er zwischen Ratlosigkeit und Verschwendungssucht schwankt. Aus Gründen der Haushaltsdisziplin nimmt er es auf sich, mit ihr einkaufen zu gehen. Die Migros hat auf diesen Trend reagiert. In Damenabteilungen werden mitgebrachte Männer sinnvoll beschäftigt, damit sie nicht mit einer weichkäsehaft quengelnden Stimme nörgeln und fortstreben. In einer Männerecke können sich die Typen der Lektüre eines Computer–, Sport– oder Herrenmagazins widmen. Leider liegt in der Reparaturwerkstatt noch nicht einmal der Blickaus; aus Verzweiflung liest er den Service–Brief und stösst auf die Überschrift: Content.
»Die Verwendung von Anglizismen täuscht Bildung und Weltläufigkeit nur vor«, flucht Urs Schläfli. Fastfood–Restaurants sieht er als Speerspitze der westlichen Marktwirtschaft und ihrer Konsumideologie. „Zuvörderst kommen Hamburgerketten, dann Supermärkte und zuletzt Shopping Malls.“ Er nimmt sich vor, die Hochsprache vor der feindlichen Übernahme zu schützten und in seinem Kanton ein Sprachschutzgesetz einzufordern.
Urs Schläfli hat einen Sinn für den Humor der Verzweiflung, Slapstick und Melancholie. Er fühlt eine wachsende Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und globaler Entscheidungen einerseits und der Langsamkeit und Mühseligkeit politisch–demokratischer Prozesse und institutioneller Entscheidungen andererseits. Sie erzählen ihm von der unlösbaren Spannung, die zwischen Privatheit und gesellschaftlicher Moral herrscht, zwischen Hingabe und Begehren auf der einen Seite, Macht und Stolz auf der anderen Seite. Wenn sich das Schöne als hässlich erweist, das Wahre als Lüge entlarvt wird und das Gute niemand mehr finden kann, muss das Gewöhnliche, das Monströse des Menschen gezeigt werden, um auf diese Weise das Verschüttete, Verlorene wieder zu finden. Wer kein Bedürfnis mehr hat, an dem Vorhandenen, Erprobten, Durchgesetzten zu zweifeln, es zu kritisieren und auf alte Fragen neue Antworten zu finden, hat nirgendwo etwas verloren. Urs Schläfli erlebt diesen Problemstau auch als eine Art von Bewusstseinsstau und beobachtet Übernahmeschlachten zwischen Konzernen, bei denen innerhalb weniger Tage Entscheidungen fallen, die zehntausende von Menschen existenziell betreffen. In der Politik wird dagegen monate– oder jahre–, manchmal jahrzehntelang um eine Entscheidung, manchmal um ein kleines Detail gerungen. Diese Diskrepanz nimmt er mit grosser Beunruhigung und zunehmender Sensibilität wahr.
Urs Schläfli erlebt eine beschleunigte ökonomische, technologische und soziale Entwicklung. Mit einer Verspätung von 26 Minuten bekommt er endlich sein Automobil, muss weitere drei Minuten darauf warten, bis der Automat seine Golden–Card akzeptiert. Anschliessend setzt sich der Lenker hinter das Steuer seines Wagens. Hochmotiviert und im Bewusstsein eines Menschen, der glaubt, verlorene Zeit durch überhöhte Geschwindigkeit wieder aufzuholen zu können. Er tippt auf’s Gas, lässt die frisch aufgezogenen Reifen durchdrehen, rast los. Kommt allerdings nur bis zur nächsten Ampel. Der Schaltvorgang von gelb auf rot hat sich gerade vollzogen. Diese Situation wird der Ausgangspunkt für einen folgenschweren Verkehrsunfall. Ein Lastkraftwagen stoppt den Eilfertigen. Urs Schläfli macht einen Flug über das Lenkrad, wartet vergeblich auf den sich aufblähenden Airbag, der anscheinend nicht instandgesetzt worden ist.
„Rekurs…“, denkt er noch, wird vom Sicherheitsgurt nicht zurückgehalten, weil er ihn noch nicht eingeklickt hat, zerschlägt mit seinem Dickschädel die Windschutzscheibe, sackt mit dem Kopf 29 Zentimeter herunter, spürt das Sekuritglas an der Halsschlagader, liest am Hinweisschild des Signalgebers die Aufforderung „Fussgänger drücken“…
Die Polizei trifft 7 Minuten später am Unfallort ein. Die Beamten nehmen einen Tatbestand ohne Knacknüsse auf. Eine Minute darauf trifft der Krankenwagen des Bürgerspitals ein. Der Notarzt kann nicht verhindern, dass der Lebenssaft in den Rinnstein fliesst. Und dort die Fahrkarte in den Gulli spült.
Der breiige Himmel über dem Mittelland öffnet seine Pforten, um mit verstärktem Nieselregen die Situation undurchsichtig zu machen. Unter einem Baum wollte Urs Schläfli begraben sein. Wurzeln faszinierten ihn seit jeher. Hommage ist, was man zärtlich macht. Die Vorstellung, dass Kinder um den Baum herum spielen, und er Teil ihres Spiels sein würde. Und dass seine Frau Vroni auf diesen Gottesacker in bukolischer Landschaft kommen, sich in den Schatten dieses Baums setzen und mit ihm reden würde…
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Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.
→ Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010
→ KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.