Duett

 

Opulenz und Heiterkeit haben in der Rockgeschichte selten jene Lobbyarbeit erfahren, die Askese und Finsternis für sich verbuchen konnten. Doc Hecl beendet seine Karriere, als die Gesellschaft, der er ästhetisch verpflichtet ist, zu Ende geht. Er findet den Mut zur Solidarität mit der Figur, die er tatsächlich ist. Entschliesst sich nach dem Auslaufen des Vertrags bei seiner Plattenfirma, aus seinem Hobby einen Beruf zu machen und wird Koch im Dong Fang Hong. Er singt nur noch, wenn er besonders traurig, nicht, weil 10.000 Menschen Eintritt bezahlen. Wenn es die typische Künstlerbiografie gibt, einer ihrer Grundzüge ist die Entwicklung zu mehr Gelassenheit. Schwarzen Humor, einen Hang zum Skurrilen und eine heitere Distanz gegenüber den Dingen lernt ein empfindsamer Mensch wie er erst mit den Jahren. Doc Hecl hat notwendigen Lebensüberdruss erworben, den er bei gelegentlichen Proben rau, dreckig und mississippischlammverschmiert ins Mirko hineinröhrt, bis er durchgeschwitzt ist.

»Na, Kuddel, wie wär’s mit ’ner Buddel?«, stellt N@sty B. eine Flasche Bushmills auf der freien Herdplatte ab. Ihre Stimme ist eine Legende. Ein echtes Sandpapiertimbre. Stimmbänder, die unzählige Zigaretten und auch das eine oder andere härtere Getränk gesehen haben. Mit dieser Frau kann man um die Häuser ziehen. Sie hat sich ausgetobt. Und die will es jetzt wissen.

»Tschingderassa, Mädel, wat is‘ Tango?«, pflaumt sie der grantelige Gentleman unter den Grenzgängern mit seinem breitgelatschten Dialekt grinsend an. Wobei er die Küchenwerkzeuge drumstickig durch die Luft wirbelt, den Deckel vom Gewinde dreht und geniesserisch an dem nordirischen Whiskey schnuppert.

»Ich möchte dich gegen deinen Willen zu etwas überreden, was du garantiert bereuen wirst«, kommt die femme fatale sofort auf den Punkt. Eine Fledermaus wirft ihre Töne gegen eine Wand. Aus dem Echo hört sie einen Raum. Das ist es, was N@sty B. als Virilitätsmonster perfekt beherrscht.

»Da dir kein Mann etwas abschlagen kann, musst du ’n frivoles Argument haben«, schmeckt er die Widersprüchlichkeit mit dem ersten Schluck nach.

»Lass uns mit den Gesten des Rebellischen spielen und mit dieser Revolte ’nen weiteren Dreh in der Verwertungsspirale machen«, karikiert N@sty B. die real existierenden Klischees der Rock–Industrie. Stromlinienförmiges Marketing ist ein Must im Musikgeschäft. Künstler werden aufgebaut, indem man die Erwartungen im Publikum steuert. N@sty B.s Entwurf zu einem Blog’n’Roll ist ein Tanz auf der popmodernen Müllhalde der Musikgeschichte. Keine stilistische Verirrung könnte zu abseitig sein, um nicht als Zitat eine Renaissance zu erfahren, der Signifikant muss fliessen, so will es die Zeichenlehre des Kapitalismus. Sie entzieht sich dem entwürdigenden Authentizitätsgebaren um Persönlichkeit als Ware und weigert sich Luxuskaufhäuser nicht mit fetten Beats zu beschallen.

»Das subversive Projekt des Rock’n’Roll als Umschichtung der Zeichen und damit der gesellschaftlichen Normen hat sich erledigt. Die Ära der symbolischen Politik, der coolen Codes ist vorbei«, begründet er allürenhaft, warum er Abschied von der Bühne genommen hat. Zu einem Konzert gehört für ihn der Moment, in dem das Gebotene das Erwartete übertrifft. Doc Hecl ist verliebt in eine im Gelingen scheiternde Selbsterfindung, deshalb zieht er das Blatt heraus und beugt sich tendenziell interessiert über die Noten.

Das Stück zeugt von ihrer Liebe für campförmige Retrohaftigkeit, es bewegt sich im Dubgroove, mal akustisch, dann wieder mit Rockausbrüchen, für die Doc Hecl zuständig sein soll. Musikalische Interpretation ist ein Akt der produktiven Anverwandlung. Die Instanz einer Deutung ist nicht das Assoziationsreservoir des Produzenten, Remakes kalkulieren mit dem Retro–Charme und dem Vergessen, nicht mit Erinnerungsvermögen und Verknüpfungskompetenz.

»Doc Hecl und Mrs. Jive, das Lolitading… wenn du schon ’ne verschmockte Altherrenreiterfantasie bedienen willst, warum nicht Lesbensex?«

»Weil R&B–Pornografie und Testosteron–Rap eine sexuelle Befreiung ohne Ziel ist. Die Paarkonstellation ist klassisch. Sie appelliert an die tiefer gelegten der menschlichen Instinkte. Sie weckt archaische Emotionen, befördert lange Verschüttetes an die Oberfläche, enthüllt mühsam Domestiziertes. Ich will Rock’n’Roll in all seiner Pracht zelebrieren!«, lässt N@sty B. ihren Überdruss angesichts eines Business durchblicken, das Weiblichkeit auf perfekte Körper und Performance–Maschinen reduziert und verachtet alles, was oversexed und unterreflektiert ist. Für die meisten Artisten aus dem Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten ist Wachstum eine Anhäufung von Statussymbolen: noch grössere Brüste, Villen mit noch mehr Zimmern und noch lässigere Sportswearkollektionen. Die hypermodernen Menschen erschaffen ihre Identität erst dadurch, dass sie ihr Körperbild erschaffen.

»Obszönität ist das oberste Gesetz des Kapitalismus. Für weibliche Popstars geht daher Erwachsenwerden immer mit Kleidungsverlust einher«, diagnostiziert Doc Hecl, wie der Rock’n’Roll zur reinen Performanz fortgeschritten ist, was bleibt, ist das schöne Spiel der Selbstrefrentialität. Das Vulgäre kennt keine Unterschiede. Es gibt nur Gegenwart, Intensitäten und den direkten Klangimpuls.

»Viele unserer Kollegen leben zwischen Angst und Voyeurismus. Sie sind vom Schein des Pop–Business geblendet oder danach süchtig sind. Das ist schlecht. Wie jede Abhängigkeit«, favorisiert N@sty B. den authentischen Wunsch, der nicht blosse Bedürfnisbefriedigung ist und auf Konsum von Objekten verzichtet. Selbst im durchformatierten Produkt gibt es einen nicht definierbaren Rest, der sich mit anderen Stilen verbindet und unerwartbare Zusammenhänge herstellt. Während eine nachwachsende Generation die Coolness und abstrakte Emphase des modernistischen Designs gerade für sich entdeckt und dessen vernachlässigte Räume voller Enthusiasmus neu besetzt, kämpft sie dagegen, dass die Medien aus dem technisch–geistigen Komplex, die Entwirklichung des Realen und die Mediatisierung des Seins vorantreiben.

»Die Songtexte waren früher kämpferischer, weil es einen politischen Rahmen für diese Lieder gab. Ich war voller Unsicherheit und ich habe in mir alle diese Dämonen, die mich quälen. Man kann die Todesangst überwinden, indem man sich dem Leben hingibt und sich damit dieser Verwandlung anvertraut. Was mir hilft, sind nicht Bestätigungen meines Weltbildes; was mir hilft, ist alles, was meine Weltbilder zerstört«, beschreibt er, warum die Unangepassten, nicht Systemkonformen, zeitlebens einen Platz in seinem Herzen finden. Kunst soll sich wieder an den Alltag koppeln, sich nicht von der Lebenswelt entkoppeln.

N@sty B. bemerkt eine müde Sehnsucht im Gesicht der cultural icon. Doc Hecl trauert dem Verlust der kindlichen Verwandlungsfähigkeit nach und entgleitet mit der Metamorphose zum Koch seinem alten Rollenbild.

The Beauty & the Beat: Der Spagat zwischen rüdem Sex, die Reflexion über Geschlechterrollen und männliche Fixierungen ist das unterschwellige Thema des Videoclips, es stellt Popkultur als aufgesexte Kulturindustrie–Blase bloss. N@sty B. gestaltet ihren Auftritt zwischen misery und mystery, oszilliert zwischen distanzierter Diva und engagierter Preacherlady. Sie umweht der Geschmack von Höherem, von Glamour, von einem Dasein im Anderen. Die Allround–Eklektizistin beherrscht das coole Signifying des Rap als verbales Kickboxen, und allen Pimp– und Ho–Regeln und spielt mit der erotischen Spannkraft von R’n’B.

Eclectic Ladyland. Mobilität, Flexibilität, Variabilität, ist das Thema: reine Performanz, ein Zeichenstrom, der sich im Moment seiner Aktualisierung gleich wieder verschlingt. N@sty B. transzendiert Geschlechterrollen und unterläuft identitäre Zuschreibungen. Sie performed jenseits des heteronormativen Zwangssystems und bewahrt ohne Mühe im Getümmel eine geniesserische Lust am Unglück, in das sie andere stösst. Der rabiate Zugriff ist der beherrschende Modus des Clips. Die Videoten arrangieren die Szene zu einer wüsten Scharade von sexuellen Exzessen. N@sty B. praktiziert die selbstbewusste Form des geschlechtlichen Schlagabtausches: Ich bin für euch die, die ihr sehen wollt, aber was ihr seht, bin nicht ich. Als androgyne stählerner Vamp mit Macho–Allüren provoziert sie allein durch ihre Anwesenheit, dass jeder Mann seine Visionen von der idealen Frau umstandslos auf sie projizieren kann, ohne diese Visionen jedoch zu erfüllen. Der Kontrollverlust dient nur oberflächlich der sexuellen Selbstfindung, er enthält eine viel weiter gehendere Verheissung: Erst mit der offensiven Behauptung der eigenen, öffentlich ausgestellten Sexualität beginnt die Emanzipation des industriell gefertigten Popstars von seiner unfreien Rollenfestschreibung. Durch das subversive Zitieren von Geschlechtercodes gelingt es ihr, gängige Vorstellungen zu unterlaufen und ihre Bedeutungen zu verschieben. Sie wird handelndes Subjekt in dem Moment, da sie sich dies als Sexobjekt bewusst wird und aggressiv für sich nutzbar macht. Der angestrebte Kontrollgewinn umfasst den gesamten Prozess der eigenen Musik– und Image–Produktion. N@sty B. gurrt so virtuos wie ein Kätzchen mit Hormonschub und wirkt als scharfe Lehrerin in perfektem Make–Up mit sportiver Körperlichkeit voller melancholischem Verständnis für leicht unterbelichtete Männer, die sie als sprechsingendes Zentrum tribalistischer Rufe mit dancing ovations feiern.

Doc Hecl durchbricht die Gleichförmigkeit des fledermausig befrackten Männerpersonals. Die Brust hochmütig herausgedrückt, betritt er als Vocal–Hero die Szene. Wirft N@sty B. einen Blick zu, mit dem man Lötzinn auflösen könnte. Elegant, weltgewandt schlängelt er sich dahin, wo es für ihn etwas zu holen gibt, wischt genervt ein imaginäres Stäubchen vom Revers oder zupft ungeduldig an der Hemdmanschette. Diese Figur macht nicht eigentlich eine Wandlung durch, sondern entwickelt sich hin zu sich selbst. Er gibt seine gesanglichen Trümpfe zu erkennen: seine volle, sonore Stimme, die im Bariton in schwülstiger Zärtlichkeit vibriert, in den Tenorlagen indes schrill und schneidend klingt. Doc Hecl bedient seelendurchglüht den Humor einer untergegangenen Welt und startet die unwahrscheinlichste, schwärmerischste und idiosynkratischste Rückkehr in den Rough’n’Roll. Auf dem Gipfel ihrer Kunst und doch schon leicht over the top bringt dieses Musikvideo einen synästhetischen Prozess hervor, die aus einem Popsong die hybride Welt der Gegenkultur generiert.

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.