Metamorphose

 

Shrillness. Travestie wird zum Schlüssel zur Wahrhaftigkeit. Ein manieriertes Spiel mit Masken und Moden. Auflösung eindeutiger Geschlechtsidentität. Die Idee eines Originals ist getilgt, der imitierten Weiblichkeit geht keine genuine Weiblichkeit voraus. Lasziv wirft Michel die Federboa über die Schulter. Dreht die Hüften. Schwenkt die Zigarettenspitze. Schnippt die Asche ab. Stakst auf den Pumps durch den Raum. Jede Bewegung: praktizierte Geometrie. Mit flatternden Händen stürzt er sich in Glück und Leid, tauscht Hingabe gegen Verweigerung.

Das café rosa ist bumsvoll. Nebelatmosphäre, Parfumschwaden und Saunatemperaturen. Das Publikum honoriert seinen Auftritt mit lang gezogenen Ahs und Ohs. Er dreht langsam die Runde. Bleibt hier und da kleben. Luppert linkerhand einen lukrativen Jobs. Lässt sich zu einem Drink einladen.

Messerscharf geschminkte Münder. Vaseline auf den Zähnen, damit sie beim Lächeln glänzen. Uniformiert in Lack und Latex. Pralle Leiber in knallengen Korsetts, bestrapste Schenkel, die unter Netzstrümpfen hervorblitzen. Lange Beine, die auf strassbesetzten High Heels herumstöckeln, dazu viel nackte Haut, umspielt von Tüll und schwarzer Spitze. Für die Hardcore–Lesben Jule und Annemarie ist wichtiger, was sie mögen, als das, was sie sind. Ihre Selbstbilder sind Vortäuschungen einer Weiblichkeit, die nicht durch den männlichen Blick konstruiert, sondern dem weiblichen Begehren selbst eingeschrieben sind. Sie klimpern mit angeklebten Wimpern. Sprachlich vermittelte Normen und Konventionen prägen ihre Identität. Nacktheit heisst: die Haut entblössen. Sie ziehen sich nackt an. Ihre Körper werden nicht durch Sprache und Diskurse konstruiert, sie entziehen sich der Benennung durch Worte, sie versuchen eine Sprache zu finden, obwohl Worte ihre Gefühle nicht wirklich beschreiben können. Sie suchen nach Bildern für ihre Vorstellungen. In rassistischen Diskursen wird versucht, Körper durch sprachliche Normen zu kontrollieren, wird die Vorstellung von dem gesteuert, was als menschlich gelten darf, um Abweichungen von der Norm auszuschliessen. Paradoxerweise stellt jede Norm zugleich ein abstraktes Ideal dar, dem niemand ganz entspricht. Normen und Konventionen ermöglichen es diesen Menschen, sich zu verständigen. Die Frage ist, ob sie davon vollständig beherrscht werden. Jule und Annemarie sind gleichermassen von gefährlicher Eitelkeit geprägt. Sie erfinden sich ständig neu und spielen mit Identitäten. Die geschlechtliche Identität ist nicht mehr fixiert. Sie interessiert nicht, wie man die Gestalt ihres Körpers umgestalten könnte. Ihr Automatengestus ist eiskalt inszeniert. Ewige Routine stahlblau zementierter Nächte.

»Hallöchen, ihr Quarktaschen!«, winkt die Tucke zur Theke herüber. Einsamkeit ist gerade dort besonders greifbar, wo sie sich hinter der Maske des Klischees zu verbergen sucht. Michel blickt direkt in die gnadenlose Visage des Erfolgs. Unentwegt lächelnd, die Haut brathähnchenbraun, um den Nabel ein Waschbrett, ein Arsch zum Nüsseknacken. Der ausgeprägte Körperkult ist eine Reaktion auf Aids. Zu dieser Zeit war der schwule Körper ein sterbender, ein ausgemergelter, mit Wunden übersäter Körper. Neben Aidsmedikamenten verabreichten die Ärzte auch Steroide, damit Aidspatienten etwas Fleisch an ihre Knochen bekamen. Als diese Medikation anschlug und sie weniger krank erscheinen liess, wurden auch die Körper immer umfangreicher. Kränklichen Körper erschienen kräftiger.

»In welchen Posen und in welcher Umgebung fühlen Frauen, dass sie erotisch aussehen?«, erfasst Michel die Tragik, die darin liegt eine Frau zu sein. Schwule beneiden Frauen um ihre Tiefe, sie sind oberflächlich, ihr Leben und ihr Willen, konzentrieren sich auf Sex. Die sexuell konnotierten Events haben nichts mehr mit der alten Körperlichkeit der Sexualität zu tun. Sie sind nicht mehr per se auf einen Anderen gerichtet. Der Körper ist das schwächste Glied in der Kette der Sexualität. Er verwelkt, er ist hinfällig, er hat Schwächen und ihm sind Grenzen gesetzt. Die Fantasie kann über diese Grenzen des Körpers hinaus denken, sie ist allmächtig. Das wird hier inszeniert.

»Du hast deinen Vertrag zu erfüllen«, spuckt Annemarie ihre Worte wie Eiswürfel aus, klirrend fallen sie zu Boden. Jule wackelt im Takt mit ihren neu geformten Silikontitten. Trägt sie vor sich her wie einen Strauss schöner Blumen.

»Wenn sonst nichts im Leben geklärt ist, wieso sollte es dann ausgerechnet die eigene Sexualität sein?«, kreisen Michels Überlegungen um den Körper und seine Einschreibungen von männlicher Macht oder weiblicher Unterwerfung. Das Prätentiöse und Glamouröse, das knallige Aufbrezeln und Angeben liegt Michel nicht. Er bleibt gelassen, weil er weiss, dass irgendwann die Zeit der aufgepumpten Silikontitten, der aufgepolsterten Lippen und der aufgeblasenen Egos vorbei ist. Die Festigkeit des Fleisches macht es nicht, die Körpersprache ist wichtiger. Auf der Suche nach dem Fantom der Individualität findet er die Vielstimmigkeit des Ichs. Er würde ihnen gern trauen, wenn er nicht wüsste, dass ihnen alles zuzutrauen ist. Ihn überschwemmt eine Welle lebenden Mitleids.

»Selbst ist der Mann!«, legt Jule französischen Champagner nach, um ihn in Stimmung zu bringen. Dies ist die Nacht des siebten Versuches.

Michel ist ein Unzeitgemässer, der auch ein Ungleichzeitiger ist. Genervt wankt die Trine zum Klo. Rafft den Rock. Quetscht lustlos an der Extremität herum. Versucht sich an Ledermänner mit Pornofilm–Schnauzbärten, zu erinnern. Der Pissbeckennachbar sieht gespannt zu. Lässt die enge Lederhose auf die Knie fallen, knöpft das karierte Holzfällerhemd langsam auf, lässt sein Six–Pack sehen. Greift zu. Ein Teelöffel Ejakulat rinnt in das Gerix–Glas.

Das Resultat in der Ampulle löst Geifer aus. Zwei begehrte Plätze werden an der Theke frei. Michel thront entspannt auf dem Barhocker. Sieht sich die Nachtgestalten seiner Umgebung wie unter einem Brennglas aus der Nähe an. Beobachtet ihre Herkunft und Bedingung, ihre erotischen Beziehungen untereinander. Registriert das nachhaltige Unglück der Frauen, das elendige Machogetue der Männer; wie beide im Überschwang der Emotionen die Orientierung verlieren und sich im Karussell der Leidenschaften drehen, bis ihnen schlecht wird. Die Personenführung des Schankwirts ist bei dieser Party virtuos, lebendig, voller lasziver Anspielungen und historischer Zitate; seine Gäste lassen sich zu einem kurzen Rausch inspirieren und spielen bei der Erotisierung in diesem Verwechslungstrubel vital mit.

Hintergründe auf der Oberfläche. Michels Perücke liegt schief. Das Dekolleté ist verrutscht. Sein Make–up verschmiert. Die Trümmertrine klaubt sich einen Zigarillo. Raucht selbstgefällig, nachdem ihr dieser truc gelungen ist. Blinzelt Helmuth zu, der sich in einnehmender Empfindsamkeit mit einer Flasche Schampus zu ihr setzt. Der Sugardaddy mit Bauch, Glatze, aber prallem Scheckbuch hat hier nicht ausgedient.

»Ja, ich mein…«, kreischt Annemarie hysterisch. Jule klappt die Motorhaube auf. Ein gezielter Schlag mit dem Fäustel wirft den Anlasser an.

»Verfickte Technik!«, knurrt Jule zotig, grinst scharf und knallt die Autotür zu. Beim Fisten hat sie gelernt, dass es bei sexuellen Gelüsten nicht primär um den Orgasmus geht, sondern um Erregung und ein Changieren zwischen Lust und Schmerz. Annemarie wirft ihr devote Blicke zu. Sie ist verunsichert. Legt den falschen Gang ein. Jule greift ihr unter den Rock. Die Reifen drehen durch. Sie rammt ein Fahrrad. Der Reflektor blinkt Morsezeichen in die Nacht.

Quecksilbrige Dramatik. Die Wohnungstür fällt zu. Im Flur drückt Jule ihrer Gespielin brutal die Zunge zwischen die Zähne. Greift ihr unter den Rock. Zerreisst die Strapse. Sie sucht in narzisstischem Selbsthass nichts als die körperliche Preisgabe. Die Angst hat Annemarie hemmungslos geil gemacht. Zielorientiert folgt Jule bei dieser Session ihre Dienerin in das Schlafzimmer.

»Leg dich auf das Bett! Dreh dich auf den Bauch«, befiehlt sie im Slavespace. Schlimm ist es für Annemarie, wenn mit ruhiger Stimme gedroht wird. Mit leisen Worten. Eiskalt. Jule greift gezielt unter das Bett. Schnappt sich die Ausrüstung. Schnallt den Dildo um. Die Symbole der ehemaligen Unterdrücker sind ihr Fetisch. Ihre Opfer sollen sich mit ihnen erotisch identifizieren. Sie schmiert das Horn mit Michels vermeintlichem Ejakulat ein. Bringt ihre Freundin in Stellung. Es kommt zur grösstmöglichsten physischen Nähe

Ihre Art von Liebe ist ein Spiel verhaltener Gesten, beiläufiger, kaum sichtbarer Kleinigkeiten. Jede Nuance enthält einen Hinweis darauf, dass sich die Gewichte verschieben. Ein Blick, der einen Atemzug zu lang auf einer fremden Person ruht. Eine Hand, die sich, gerade noch offen, schliesst und zurückzieht. Wenn sich Liebende so nah sind, dass es näher nicht geht, muss man sich ein paar Tricks einfallen lassen, um auch diese Nähe noch zu überwinden. Ihre Liebe ist immer verschwenderisch, man hat sie im Überfluss und bekommt nicht genug davon. Wirklichen Respekt beweisen sie sich respektlos. Sie zeigen sich in dieser Nacht, wie Körper zueinander finden können, wie sie sich Lust geben und Erfüllung. Das ist für beide immer noch so ergreifend wie am Anfang ihrer Beziehung.

»Du hast defensiv reagiert auf meinen verzweifelten Versuch zu provozieren«, ist Jule verblüfft. Je älter Jule wird, desto schwieriger wird es für sie, einen Sexualpartner zu finden, ohne dafür zu zahlen.

»So ist das mit Entschuldigungen: Hinterher nutzen sie keinem mehr«, seufzt Annemarie lakonisch. Sie hat alles richtig gemacht, weil sie nichts falsch gemacht hat. Die Grenzen sind nicht fest. Was sie reizt, ist nun das Verschieben von Grenzen. Dabei müssen die persönlichen Limits immer neu ausgehandelt werden. Sie konstruieren ein Paralleluniversum des Feudalismus, in dem die Regeln von draussen nicht gelten, in dem man seinen eigenen Lüsten, seinen eigenen Begierden nachhängen kann, ohne dass man sich reglementiert fühlt. Die Lernschritte, wenn es darum geht, sich den Realitäten anzupassen, sind bei Annemarie beträchtlich, manchmal hätte sich Jule in ihrer neuen Rolle als Zofe ein bisschen mehr an intelligenter, engagierter Zögerlichkeit gewünscht, anstelle des Übereifers und Desinteresses.

Im Vorgriff auf die Zukunft fragt sich Annemarie im Morgengrauen, wie viel Kilo Gesinnung sie nach der Schwangerschaft abspecken muss, um machtlinienförmig zu werden. Rache soll fürderhin ihre Abart von Treue werden.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.